Ratloser Westen: Russische Handelsstrategie könnte "regelbasierte globale Ordnung" aushebeln

Der russische Präsident Wladimir Putin und der indische Premier Narendra Modi beim St Petersburg International Economic Forum, 2017. Bild: Kreml / CC BY 4.0 Deed

Sanktionen funktionieren nicht. Russland geht es ökonomisch gut, neue Handelsrouten florieren. Was folgt daraus? Gastbeitrag.

Die westlichen Länder haben seit Beginn der Kämpfe in der Ukraine erklärt, dass sie Sanktionen als wichtiges Instrument einsetzen würden, um Russlands Wirtschaft zu schädigen und seine Fähigkeit, mit dem Rest der Welt Handel zu treiben, auszuhöhlen.

Michael Corbin ist Ökonom und forscht zu Handels- und Wirtschaftsfragen in Bezug auf Russland und Eurasien.

Der Westen hat sein Versprechen gehalten, indem man die Zahl der Sanktionen kontinuierlich erhöhte, während Russlands Krieg in der Ukraine in das zweite Jahr ging.

EU-Rezessionen und Russlands Wachstum

Stand Januar 2024 sind gegen die Russische Föderation über 28.000 Sanktionen verhängt, von denen die meisten nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 angeordnet wurden. Etwa 16.000 dieser Sanktionen richteten sich gegen Einzelpersonen, während fast 10.000 gegen Unternehmen und 3.200 gegen Institutionen laufen.

Ferner gab es sektorale Sanktionen wie allgemeine Handelsembargos für Gas und Öl. Die meisten dieser Sanktionen wurden von der EU und den USA verhängt, aber auch Länder wie Japan, Südkorea und die Schweiz haben sich daran beteiligt.

Diese Strafmaßnahmen zielten zwar darauf ab, Russlands Kriegsoperationen zu behindern und wirtschaftliche sowie politische Instabilität dort zu schüren. Doch die meisten dieser Maßnahmen haben diese Ziele nicht erreichen können.

Russland hat seine militärischen Aktivitäten in der Ukraine weiter fortführen können, während die jüngsten Prognosen des IWF ein Wachstum von 2,6 Prozent im Jahr 2024 vorhersagen – zu einer Zeit, in der viele EU-Länder auf eine Rezession zusteuern, inmitten erheblicher politischer Unsicherheit für das laufende Jahr – einem entscheidenden Wahljahr in vielen westlichen Demokratien.

Große Erfolge bei Neuausrichtung des Handels

Die vielleicht größte Errungenschaft war die verstärkte Ausrichtung des russischen Handels auf den Osten und den Globalen Süden und weg von der Europäischen Union, was dazu führte, dass Russlands Handelsumsatz in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 530,2 Milliarden Dollar erreichte.

Die Exporte erklommen 316,9 Milliarden Dollar, während die Importe 213,3 Milliarden Dollar ausmachten. Die russischen Exporte in die asiatischen Länder erreichten 226,6 Milliarden, was einem Anstieg von 10,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht, während die Importe 139,7 Milliarden betrugen und damit um 39,5 Prozent zunahmen.

Auf China entfielen im gleichen Zeitraum 105 Milliarden Dollar, verglichen mit 78 für das gesamte Jahr 2021. Und die chinesischen Importe von Brennstoffen beliefen sich 2021 auf 52,7 Milliarden, verglichen mit 77,0 Milliarden Dollar in den ersten neun Monaten des Jahres 2023.

Die Einfuhren Chinas nach Russland beliefen sich in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 auf 81,8 Milliarden Dollar (fast 40 Prozent), während die Einfuhren im gesamten Jahr 2021 54,5 Milliarden betrugen.

Indien kompensiert zum Teil die EU

Im gleichen Zeitraum beliefen sich Russlands Exporte nach Indien auf 52 Milliarden Dollar, gegenüber acht Milliarden Dollar im Jahr 2021. Die indischen Einfuhren russischer Brennstoffe stiegen von vier Milliarden Dollar im gesamten Jahr 2021 auf 46 Milliarden Dollar in den ersten neun Monaten des Jahres 2023.

Im Gegensatz dazu beliefen sich die russischen Exporte in die EU in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 auf 47 Milliarden Dollar, ein deutlicher Rückgang gegenüber 192,8 Milliarden Dollar im gesamten Jahr 2021.

Die russischen Importe aus der EU sanken in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 auf unter 32 Milliarden Dollar, nachdem sie noch 21 Monate zuvor bei 81 Milliarden Dollar gelegen hatten. Die Brennstoffimporte aus Russland in die EU brachen von 120 Milliarden Dollar im Jahr 2021 auf weniger als 27 Milliarden Dollar in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 ein.

Und schließlich haben die Sanktionen den Anteil der Einfuhren aus Russland von 28 Prozent im Jahr 2021 auf drei Prozent im Jahr 2023 stark reduziert.

Aufbau eines neuen Handelsrahmens

Die Handelszahlen zeigen deutlich, dass sich die russischen Handelsströme in den fast zwei Jahren seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine grundlegend verändert haben. Sie spiegeln jedoch weder die geopolitischen Aktivitäten wider, die diesem seismischen Wandel zugrunde liegen, noch geben sie Aufschluss über die jüngsten Initiativen, die die russische Regierung ergriffen hat, um die Ausrichtung des Handels zu festigen.

In dieser Hinsicht hat sich Russland aktiv an einer Vielzahl diplomatischer Aktivitäten beteiligt, die von bilateralen Gesprächen mit Ländern wie Indien und Iran bis hin zu Bemühungen um eine Erweiterung der Mitgliedschaft und der geopolitischen Reichweite der Brics und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) reichen.

Ende letzten Jahres trafen sich der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar und der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau, um Fragen der gängigen politischen, verteidigungspolitischen und kulturellen Partnerschaften zu erörtern. Sie besprachen auch ernsthaftere Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, um das starke Wachstum des russisch-indischen Handels seit 2022 zu stabilisieren.

Der Schwerpunkt dieser wirtschaftlichen Gespräche lag auf der Logistik, insbesondere im Zusammenhang mit der Einrichtung des internationalen Nord-Süd-Transportkorridors (INSTC). Alle drei Segmente des Korridors sind nun funktionsfähig. Dazu gehören die Westroute (Russland-Aserbaidschan-Iran-Indien), die Mittelroute (Russland-Iran-Indien) und die Ostroute (Russland-Zentralasien-Iran-Indien).

Korridore nach Indien weisen den Weg

Russland erhofft sich von der verstärkten Nutzung des Korridors eine Verbesserung der Infrastruktur in den kaspischen Häfen und die Möglichkeit, den Status von Astrachan und Machatschkala als Verkehrsknotenpunkte zu verbessern.

Jetzt, da auch die Seeroute Wladiwostok-Chennai oder der Östliche Seekorridor (EMC) in Betrieb ist, haben Indien und Russland eine realistische Chance, die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Zukunft zu verbessern, was die bilateralen Beziehungen nur stärken kann.

Der Korridor ist auch für Indien von Vorteil, sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch. Er spiegelt den Wunsch der indischen Elite nach praktikablen Alternativen zu Chinas Neuer Seidenstraße Initiative (BRI) wider. Indien ist außerdem zuversichtlich, dass der Korridor einen besseren Zugang zu Zentralasien unter Umgehung Pakistans ermöglichen und seine wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran sowie zu Russland weiter stärken wird.

Eine weitere Möglichkeit, den regionalen Handel zu fördern, sieht Russland in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU). Am 25. Dezember trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EEU und unterzeichneten ein Abkommen mit dem Iran.

Eurasische Wirtschaftsunion

Das Abkommen markiert das Ende der zweijährigen Verhandlungen und wird nach der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente in Kraft treten. Mit dem Freihandelsabkommen zwischen Iran und der EUU werden die Zölle für 87 Prozent der zwischen den Parteien gehandelten Waren abgeschafft.

Es ist das bisher umfangreichste Handelsabkommen mit dem Iran und ein wichtiges Abkommen für Russland, da es einen weiteren Handelspartner festigt und die führende Rolle des Landes in der Handelsgruppe sowie in der wirtschaftlichen Entwicklung Zentralasiens unterstreicht.

Schließlich kündigten die Brics im Januar 2024 die Erweiterung der Gruppe um fünf neue Mitglieder an: Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Durch die neuen Mitglieder wird das gesamte BIP der Brics auf 28,5 Billionen Dollar oder 28,1 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung steigen, während die G7-Länder 43,2 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung auf sich vereinen.

Während die Erweiterung der Brics aus wirtschaftlicher Sicht bedeutsam ist, ist sie in einem geopolitischen Kontext noch bemerkenswerter. Durch die Hinzufügung von Ländern des Nahen Ostens und weiterer afrikanischer Länder erhält die Gruppe eine größere Präsenz entlang wichtiger Schifffahrts- und Handelsrouten.

Wird die "regelbasierte globale Ordnung" untergraben?

Außerdem erhöht sich dadurch der Anteil der Brics an der weltweiten Ölproduktion auf 43 Prozent und an den Exporten auf 25 Prozent. Wichtig ist auch, dass auf die Brics 72 Prozent der weltweiten seltenen Erden entfallen, die für Hightech-Waffen und Konsumgüter wie Platinen und Mobiltelefone von entscheidender Bedeutung sind.

Während viele im Westen nur auf die Rhetorik über Russlands schwache und kollabierende Wirtschaft und seine wirtschaftliche Isolation achten, sollten die westlichen Entscheidungsträger Russlands anhaltende Initiativen im geopolitischen Bereich genau verfolgen.

Russlands wirtschaftliches Bemühen mag aufgrund des Zusammentreffens einiger schwieriger geopolitischer Realitäten kompliziert sein, aber der sich entwickelnde Rahmen hat das Potenzial, die traditionelle "regelbasierte globale Ordnung" zu stören, wenn nicht gar zu untergraben.

Daher muss eine Politik des konstruktiven und uneingeschränkten Engagements in Handels- und Wirtschaftsbeziehungen auf globaler Ebene für westliche Regierungen in Zukunft ein wichtiges Instrument der Handelsdiplomatie sein. Dazu gehört auch eine stärkere Abkehr von der rigorosen Sanktionspolitik, die dem Westen nur den Zugang zu wichtigen Gütern erschwert und zu einer höheren weltweiten Inflation führt, deren Hauptlast die Verbraucher der Mittel- und Unterschicht tragen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Michael Corbin ist Ökonom und verfügt über fast 30 Jahre Erfahrung in der akademischen Welt, in Regierungsarbeit und in verschiedenen Think-Tanks, wo er sich mit Handels- und Wirtschaftsfragen im Zusammenhang mit Russland und Eurasien beschäftigt.