Recht auf Hirn-Tuning

Gegen die Verwendung von Neurotechnologien zur "Selbstverbesserung" gibt es keine überzeugenden ethischen Gründe

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Unser Schicksal mag in den Genen liegen, wie James Watson einmal formulierte - unser Menschsein liegt im Gehirn. Was dies bedeutet, zeigen Hirnkrankheiten wie Alzheimer, die Geist und Seele gnadenlos verwüsten. Wenn es um Manipulationen am menschlichen Gehirn geht, ist schon deshalb Vorsicht angebracht: Wer Gehirne verändert, verändert Menschen. Wer sein eigenes Gehirn manipuliert, verändert sich selbst. Gäbe es fortgeschrittene Neurotechnologien, würden sie unsere Gesellschaft, unsere Werte und kulturell gewachsenen Überzeugungen bedrohen - womöglich mehr als die Gentechnik.

Ein hypothetisches Gedankenexperiment: Nehmen wir an, es gäbe bereits hochwirksame Neurotechnologien - Technologien also, die Hirnfunktionen signifikant verbessern. Entsprechende Produkte, von Glückspillen bis zu Gedächtnisprothesen, stünden kurz vor der Marktreife. Nennen wir sie der Einfachheit halber Super-Prozac (eine Art Glückspille, die Menschen zufriedener macht) und Brainbooster (eine Technologie, die die geistige Leistungsfähigkeit steigert), und lassen Sie uns ferner voraussetzen, dass diese Mittel keine schädlichen Nebenwirkungen haben (also weder Krankheiten hervorrufen, noch körperlich abhängig machen). Sind solche Technologien ethisch abzulehnen? Worin bestünden die gesellschaftlichen Konsequenzen?

Beginnen wir mit einem Postulat: Menschen haben das Recht, sich selbst und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Dazu gehört die autonome Verfügungsgewalt über den eigenen Körper - also auch über das Gehirn. Enhancement ist an sich nichts Neues. Die Schönheitschirurgie etwa greift technologisch in den Körper ein. Wir verändern und verbessern auch unser Selbst andauernd - das Gehirn ist ein plastisches Organ. Jede Art von Lernen führt zu strukturellen Veränderungen und "Verbesserungen" im Gehirn. Gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Silikonbrüsten und einer Hirnprothese?

Super-Prozac würde ohne Zweifel unseren Begriff von Normalität verändern. Wenn sich die große Mehrheit dank Super-Prozac besser fühlt: Könnte dann ein sorgenvoller Nicht-Prozacist weiterhin als "normal" und geistig gesund gelten? Gewiss hätten Neurotechnologien Auswirkungen auf unsere gesellschaftlichen Beziehungen. Zum einen könnten sie leicht zum Machtinstrument missraten. Arbeitgeber würden von frustrierten Mitarbeitern womöglich die Einnahme von Glückspillen verlangen. Leistungsschwache schickte man zum Hirnprothetiker. Zum anderen führen Neurotechnologien zu einer Art gesamtgesellschaftlicher Dopingproblematik.

Doping im Wettkampfsport wird geächtet, weil es das Prinzip der Fairness untergräbt. In der Wissensgesellschaft wird Hirn-Tuning zum Wettbewerbsvorteil. Die Konsequenzen sind wiederum zweischneidig. Die massenhafte Verbreitung von Brain-Boostern könnte womöglich eine neue Klassengesellschaft hervorbringen. Der ungetunte Normalmensch wäre der Proletarier des biologistischen Systems.

Andererseits bieten Neurotechnologien auch eine emanzipatorische Chance. Schließlich liegt doch eine Ungerechtigkeit der Natur darin, dass die einen als potenzielle Genies zur Welt kommen, während sich andere für die einfachsten Aufgaben fürchterlich anstrengen müssen. Hirnpillen könnten helfen, die Kluft zwischen Begabten und Unbegabten aufzuheben und mithin wahre Chancengleichheit zu schaffen. Und Glückspillen würden Menschen erst ermöglichen, ihre Fähigkeiten zu entfalten - Fähigkeiten, die sonst unter ewiger Besorgtheit begraben werden. Neurotechnologien können die Gesellschaft spalten und Menschen versklaven, aber auch Freiheit und Selbstentfaltung befördern.

Neurotechnologien werden ohne Zweifel unser Menschenbild verändern. Brain-Booster und Super-Prozac untergraben beispielsweise das Leistungsethos als gesellschaftliche Norm. Erfolg soll auf Anstrengung gründen, selbst individuelles Wohlbefinden bewerten wir in der Regel höher, wenn wir zuvor Probleme gemeistert haben. Glück aus der Apotheke - das erscheint uns zweifelhaft oder gar unmoralisch. Unter dem Einfluss von Super-Prozac hätten viele der großen Dichter womöglich nie zu dichten angefangen.

Doch mit solchen oder ähnlichen Argumenten kann die Gesellschaft einem Individuum kaum das Recht auf Super-Prozac verwehren. Vielmehr müsste sie es dem Einzelnen überlassen, auf welchem Wege er zum Glück findet. Die einen mögen spirituelle Erleuchtung oder Hilfe beim Therapeuten suchen. Andere bevorzugen eben Super-Prozac. Die Ironie ist: Beides führt womöglich zu ähnlichen strukturellen Veränderungen im Synapsen-Geflecht des Gehirns. Auch wenn wir persönlich Hirntuning ablehnen: Solange die Autonomie des Individuums gewahrt bleibt, gibt es gegen Neurotechnologien keine überzeugenden ethischen Gründe. Allerdings müssen wir zentrale Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit verteidigen.

Unter dieser Randbedingung lässt sich eine optimistische Perspektive entwickeln. Die menschliche Kultur ist seit je auf Selbstverbesserung gerichtet. Technologie, als Errungenschaft des Menschen, zielt von ihrem Wesen her auf die Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten. Das Auto erweitert die menschliche Fähigkeit der Fortbewegung. Der Computer hilft uns, schneller zu rechnen, um komplexe Aufgaben zu lösen. So gesehen bedeuten Neurotechnologien eine konsequente Weiterentwicklung - die Verbesserung und Erweiterung des menschlichen Gehirns.

Das Neuro-Zeitalter wird kommen - wahrscheinlich schrittweise und unspektakulär. Sehr wahrscheinlich werden wir die neuen Neurotechnologien nicht verhindern können. Angesichts der medizinischen Bedeutung einschlägiger Forschung, sollten wir es auch gar nicht versuchen. Eher werden wir den humanen, verantwortungsvollen und autonomen Umgang mit den Neurotechnologien lernen müssen. Andernfalls übernehmen hirngetunte Übermenschen die Macht - und es wird uns nicht gefallen.

Thomas Vasek ist Chefredakteur von Technology Review. Sein Beitrag Recht auf Hirn-Tuning wurde aus dem aktuellen Heft übernommen. Zum Schwerpunktthema "Neurotechnologie: Pillen, Implantate und Magnetfelder sollen das Gehirn beeinflussen" hat Technology Review noch den Artikel Gedanken aus Chemie von Birgit Will online gestellt.