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Rechte auf dem Vormarsch: Das bedeutet Geert Wilders‘ Sieg für Deutschland

Kein Betriebsunfall: Geert Wilders. Bild: David Sedlecký, CC BY-SA 4.0

Das Wahlergebnis schockiert viele. Die Bedeutung für Deutschland sehen wenige. Drei Gründe, warum auch uns ein Den-Haag-Moment bevorsteht. Ein Telepolis-Leitartikel.

Empörung und das Entsetzen herrscht in Politik und Medien über den Wahlsieg des Rechtspopulisten Geert Wilders in den benachbarten Niederlanden. Die larmoyanten Reaktionen wurden am Donnerstag dieser Woche durch Agenturbilder verstärkt. Sie zeigten Anhänger der bürgerlichen Parteien kurz nach Bekanntwerden des Ergebnisses mit entsetztem Gesichtsausdruck und Tränen in den Augen.

Doch dieser Umgang mit dem Thema war nicht nur unprofessionell, weil distanzgemindert, und damit unjournalistisch. Er war geradezu skurril.

Haben die Korrespondenten in den Niederlanden, die Kommentatoren in Deutschland, die verantwortlichen Redakteure und schließlich auch die Politiker die letzten Jahre verschlafen?

Tatsächlich gibt es keinen Grund zur Verwunderung. Wer nicht in einer politischen Blase gelebt hat oder aus anderen Gründen ideologisch verblendet ist, versteht: Der Sieg von Geert Wilders ist kein Betriebsunfall.

Er ist Ausdruck des Zusammenbruchs des liberal-bürgerlichen Lagers, das seine Bürger, welcher Herkunft auch immer, zunehmend im Stich lässt.

Dieses Versagen zeigt sich in vielen wichtigen Politikfeldern: in der Sozialpolitik, in der Wohnungspolitik, in der Steuerpolitik, in der Geldpolitik, in der Infrastrukturpolitik, in der Migrationspolitik und im Umgang mit der inneren Sicherheit.

Geht es um die Niederlande, scheint die Erinnerung keine acht Jahre zurückzureichen: Im Herbst und Winter 2015 führte die gescheiterte Flüchtlingspolitik des damaligen Ministerpräsidenten (und inzwischen gescheiterten Ex-Ministerpräsidenten) Mark Rutte zu Ausschreitungen und Unruhen. Das war ungewöhnlich für die bis dahin so entspannt wirkenden Niederländer.

Schon damals im Visier: Ruttes Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die Volkspartei für Freiheit und Demokratie. Im Dorf Oranje in der nordöstlichen Provinz Drenthe griff damals eine aufgebrachte Menge das Auto des VVD-Politikers und damaligen Justizstaatssekretärs Klaas Dijkhoff an.

Der Grund: Dijkhoff hatte zuvor verkündet, dass der kleine Ort mehr als doppelt so viele Flüchtlinge aufnehmen müsse wie ursprünglich geplant, nämlich 1.200.

Zahlreiche Bürgermeister warfen der Regierung daraufhin vor, sie mit der plötzlichen Unterbringung von Flüchtlingen zu überfordern – eine Debatte, die zeitversetzt spätestens im Sommer dieses Jahres auch Deutschland erreichte. Und das ist nur eine Parallele.

Ruttes Reaktion auf Unruhen: Moral, Appelle und ein Weiter-so

In Utrecht kam es später zu Ausschreitungen. Im benachbarten Woerden griffen Demonstranten eine Sporthalle mit 100 erwachsenen Flüchtlingen und 50 Kindern mit Feuerwerkskörpern und Eiern an. Rutte verurteilte den "feigen Angriff" und zeigte sich auf Facebook entsetzt über die "absolut inakzeptable" Attacke.

Doch niemand, am allerwenigsten Rutte, fragte nach dem Anteil der bürgerlichen Parteien an der Eskalation.

Dabei liegen die Gründe auf der Hand und sind vielfältig.

Grund 1: Versagen in der Integrationspolitik

Dieses Versagen der bürgerlich-liberalen Mitte betrifft die Sozial- und die Wohnungspolitik gleichermaßen. Von Aubervilliers bei Paris über Duisburg-Marxloh bis Amsterdam-Bijlmermeer: Die Problemviertel sind historisch gewachsen.

Zahlreiche aufeinander folgende Regierungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene haben die soziale, gesellschaftliche und städtebauliche Segregation zugunsten wirtschaftlicher Interessen in Kauf genommen und damit einen verheerenden Teufelskreis in Gang gesetzt: Flüchtlinge werden mehrheitlich nur noch in den Problemvierteln untergebracht oder finden bloß noch dort eine Bleibe.

Ihre Kinder werden in den meisten Fällen aufgrund ihrer Herkunft stigmatisiert und können – wenn überhaupt – nur schlechte Schulen besuchen. Mit sinkendem Bildungsniveau, selten selbst gewollt, sinken die Chancen und steigt die Wahrscheinlichkeit einer Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft.

Womit wir wieder beim Liberalismus wären. In Deutschland waren es die Preußen, die Ende 1717 unter Wilhelm I. gegen erhebliche Widerstände die allgemeine Schulpflicht einführten.

Friedrich der Große entwickelte die Schulpolitik weiter, verbesserte die Lehrpläne und die Lehrerausbildung. Er berief sich, wie sein ebenso philosophisch interessierter Zeitgenosse Benjamin Franklin, auf die Menschenrechte und stellte den gesellschaftlichen Fortschritt ins Zentrum des politischen Handelns.

Wenngleich diese preußische Politik, wie der deutsch-britischen Publizist Sebastian Haffner einmal meinte, auch eigennützig war, weil sie dem "Erhalt und Selbsterhalt" diente, war sie auf den nachhaltigen Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft ausgerichtet.

Und heute? Schule und Bildung sind eine der Bruchstellen europäischer Gesellschaften. Nicht nur in Deutschland, aber auch hier. Selbst in mittelständig-bürgerlichen Vierteln sind viele Schulen marode und leiden unter Mangel an Ressourcen und Lehrpersonal. Von sozialen Brennpunkten ganz zu schweigen.

Oft wird der Satz bemüht, Investitionen in Bildung seien Investitionen in die Zukunft. Doch was bedeutet das im Umkehrschluss für die heutige Gesellschaft und ihre führenden Akteure?

Krisenwerte in Deutschland sind sogar noch dramatischer

Dieser Gedanke mag auch Mark Rutte am Donnerstag gekommen sein. Seine VVD ist von schon 2017 nicht so großartigen 21,2 Prozent auf 15,1 Prozent und damit auf Platz 3 abgerutscht. Rutte, der im europäischen Ausland schon lange einen besseren Ruf genoss als in seiner Heimat, bot damit auch den Berliner Ampelkoalitionären einen Ausblick auf Ihre nahe Perspektive.

Die um Wagenknecht bereinigten Linken liegen stabil unter der Fünfprozenthürde.

Die AfD hingegen liegt derzeit bei 21 Prozent. Die Rechten müssen bis zum Herbst 2025 also nur die Füße stillhalten und die Ampelkoalitionäre Wahlkampf für sich machen lassen. Das heißt:

Versagen der Ampel-Koalitionäre (und ihrer Vorgänger)

Man muss schon fast unter einer pathologischen Realitätsverweigerung leiden, um zu meinen, dass die kommenden Bundestagswahlen in Deutschland anders verlaufen werden als die Abstimmung zur Zweiten Kammer der Generalstaaten der Niederlande in dieser Woche. Für einen Den-Haag-Moment in Berlin im Herbst 2025 gibt es zwei weitere Gründe:

Grund 2: Außenpolitik und Fluchtursachen

Die von der SPD in der Vorgängerregierung und nun verstärkt von Außenministerin Baerbock verfolgte sogenannte wertegeleitete Außenpolitik, in deren Zuge in Berlin gerade der Autokrat Recep Tayyip Erdogan und die Neofaschistin Georgia Meloni empfangen wurden, hat im Wesentlichen zu einer Zunahme von Krisen und damit von Fluchtbewegungen geführt.

Das betrifft in erster Linie die Ukraine, aber inzwischen auch den Nahen Osten und weiterhin Afghanistan und Syrien. "Fluchtursachen bekämpfen" war gestern. Gut eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer kamen im Jahr 2022 nach Deutschland, gefolgt von immer noch zehntausenden Syrern. In beiden Fällen hat sich die Bundesregierung bewusst dagegen entschieden, an einer diplomatischen Lösung der Konflikte mitzuwirken.

Grund 3: Die Sozialpolitik

Die Daten des Statistischen Bundesamts zur Armut in Deutschland wurden zuletzt nachträglich korrigiert. Die Armut war höher als zuvor angenommen. Im zweiten Jahr der Pandemie erreichte die Armut in Deutschland 2021 einen neuen Höchststand mit einer Quote von 16,9 Prozent.

Im vergangenen Jahr dann waren 17,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. "Das waren 20,9 Prozent der Bevölkerung", so das Statistische Bundesamt nach Analyse der Einkommen und Lebensbedingungen [1].

Haushalte mit drei oder mehr Kindern und Alleinerziehende weisen nach wie vor die höchste Armut unter den verschiedenen Haushaltstypen auf. Personen mit geringer Bildung sind ebenfalls überdurchschnittlich von Armut betroffen.

Betroffen sind zudem Menschen mit Migrationshintergrund und ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Die Armutsquote unter Kindern und Jugendlichen [2] steigt immer weiter, hier weisen Statistiker und Sozialforscher auf den Zusammenhang zum Bildungsstand hin. Altersarmut breitet sich aus.

Mehr Probleme als Lösungen: das System kollabiert

Der Staat und die ihn beherrschenden politischen Kräfte verursachen also mehr Krisen, provozieren mehr Zuwanderung und sind gleichzeitig nicht mehr in der Lage, diese Entwicklung auf nationalstaatlicher Ebene sozialpolitisch aufzufangen.

Deutschland wird immer ärmer, soziale Probleme und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse nehmen zu. Diese Entwicklung war in den letzten Jahren auch in den Niederlanden zu beobachten und zeichnet sich gleichfalls in anderen europäischen Staaten ab.

Wobei die Niederlande, anders als etwa Deutschland und Frankreich, neben der sozialen Segregation sogar noch sinkende Armutszahlen zu verzeichnen hatten. Dennoch haben viele Menschen Wilders gewählt.

Was sich in den Niederlanden in den letzten Jahren bis zum Donnerstag dieser Woche abgespielt hat, zeigt zwei verheerende Entwicklungen: Zum einen werden die diffusen Ängste und konkreten Sorgen der Menschen nicht wahrgenommen, zum anderen sind die verantwortlichen Politiker nicht bereit oder in der Lage, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.

Ihre Politik beschränkt sich zu sehr auf Appelle und Rügen. Doch wer nur die "feigen Anschläge" und die "absolut inakzeptable" Gewalt als Folge einer multiplen Krise brandmarkt, seine eigene Rolle dabei aber nicht selbstkritisch hinterfragt, wird nicht nur scheitern. Er wird die Gesellschaft, wie wir sie kennen, mit in den Abgrund reißen.

All dies zu thematisieren, ist mitnichten fremdenfeindlich. Denn auch den Flüchtlingen und Migranten ist nicht geholfen, wenn man sie in Armuts- und Problemviertel abschiebt.

Die erhofften Chancen für sie bleiben aus, ihre Kinder bleiben in einem Teufelskreis aus Stigmatisierung und Benachteiligung gefangen.

Die alldem zugrundeliegende Krise der klassischen liberalen, bürgerlichen Werte und die offensichtliche Abkehr von gesamtgesellschaftlichen Fortschrittsgedanken ist so weit gediehen, dass die westlichen Gesellschaften an Zusammenhalt verlieren.

In den USA gewinnen Sezessionisten an Zulauf, in Frankreich interessiert sich kaum noch jemand für die republikanische Idee, und auch in Deutschland sucht man vergeblich nach einer gemeinsamen Idee und einem verbindenden Element.

Vielleicht ist noch Zeit, das Ruder herumzureißen.

Ob das bis zum Herbst 2025 gelingt, ist angesichts des Regierungschaos in Berlin mehr als fraglich.


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