Renten: Das Problem ist nicht die Demografie

Die Lebensrealitäten von Renterinnen und Rentnern in Deutschland gehen weit auseinander. Foto: pasjja 1000 / Pixabay Licence

Wären Löhne in den letzten Jahrzehnten wie die Produktivität gestiegen, gäbe es die aktuelle Debatte nicht, meint unser Autor. Die gängigen Lügen – und wer nicht betroffen ist. (Teil 1)

Das herrschende Renten-Narrativ lautet bekanntlich: "Die Renten" sind gefährdet, weil immer mehr Rentnerinnen und Rentner von immer weniger Beschäftigten finanziert werden müssen. Und mit den Babyboomern, die in den nächsten Jahren in die Rente gehen, werde es noch dramatischer. Deshalb müsse das Arbeitsleben verlängert und es müsse noch mehr privat etwa mit Aktienanlagen vorgesorgt werden.

Schauen wir uns den Lügenkomplex rund um die Demografie genauer an.

Erste Lüge: Es gibt gar kein allgemeines "Rentenproblem"

Es gibt wichtige Berufsgruppen, die haben überhaupt kein Rentenproblem: Im Gegenteil, ihre Renten sind hoch, sie sind gesichert, und sie steigen ständig. Und das ist ganz unabhängig davon, wie viele Rentner und wie viele Beschäftigte es in diesen Berufen gibt: Beamte, Abgeordnete, Ressortleiter öffentlich-rechtlicher Medien.

Zu dieser Gruppe gehören die 1,38 Millionen Rentner, die vorher Beamte waren. Ihre gesetzlich geregelte Rente hängt überhaupt nicht davon ab, wie viele Beamte in Rente gehen und wie viele Beamte noch beschäftigt sind. Und die Höhe ihrer Bezüge hängt überhaupt nicht davon ab, was die Beamten vorher dafür eingezahlt haben, denn sie zahlen gar nichts ein.

Der Staat zahlt aus den öffentlichen Haushalten des Bundes, der Bundesländer und der Kommunen die Renten. Sie heißen Pensionen und ihre durchschnittliche Höhe betrug zuletzt 3.170 Euro (Stand 2022).

Dasselbe gilt für die Kirchenbeamten, übrigens auch für Priester und Bischöfe sowie für die deutschen Militärseelsorger christlicher und jüdischer Ausrichtung, die Panzer segnen und in Afghanistan jahrzehntelang die Verwüstung des Landes und die Tötung auch von Zivilisten abgesegnet haben. Gleiches gilt auch für die Berufssoldaten, die übrigens schon ab 55 Jahren in ihre höhere Rente gehen können.

Ähnliches gilt für die gesetzlich geregelten Renten der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der Landtage und auch des Europäischen Parlaments, ebenfalls völlig unabhängig davon, wie viele oder auch weniger Abgeordnete es gibt. Und auch sie brauchen vorher gar keine Beiträge für ihre Abgeordneten-Einkommen einzuzahlen.

Und noch viel besser haben es die politischen Vor-Ruhestands-Beamten, die Minister, Regierungschefs und Bundespräsidenten und auch die Intendanten und Ressortleiter der Medien, die von der Bevölkerung zwangsweise durch den Rundfunkbeitrag finanziert werden.

Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder

Und das nochmal größere Renten-Unrecht steckt in einer weiteren Berufsgruppe. Es geht um die Renten der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder in privaten und auch staatlichen und Landes- und Kommunal-Unternehmen.

Das sind übrigens auch abhängig Beschäftigte, Angestellte: Ihre Einkommen, Boni, Vorzugsaktien, private Zusatzleistungen und die Pensionszusagen sind in den letzten Jahren schneller als die Einkommen ihrer abhängig Beschäftigten gestiegen – übrigens auch deshalb, weil sie die Einkommen der unteren Ränge der abhängig Beschäftigten und damit auch deren Renten kräftig gesenkt haben.

Und das Renteneintrittsalter dieser bestens versorgten Rentner ist immer weiter gesunken – mit 60 Jahren in Rente gehen und gut versorgt in eine neue kreative Lebensphase eintreten: Das ist das Motto!

Wie es jetzt zum Beispiel Frank Appel machte, der Vorstandschef der Deutschen Post DHL, unter Zustimmung der Großaktionäre, also des deutschen Staates gemeinsam mit BlackRock, Vanguard & Co. Laut Vertrag hätte er schon mit 55 Jahren in seine millionenschwere Rente wechseln können. Auf diese Lösung werden wir zurückkommen! Und diese Renten sind übrigens ebenfalls gesetzliche Renten, geregelt im Aktiengesetz.

Ähnliches gilt für die hochbezahlten Mitarbeiter der Unternehmensberatungen, Wirtschaftskanzleien, Wirtschaftsprüfungskonzerne und PR-Agenturen, die seit der "rot-grünen" Bundesregierung von Gerhard Schröder und Joseph Fischer die Verarmung der Volkswirtschaft und die progressive Überschuldung des Staates mitorganisieren.

Dieselben Berater und Beraterinnen hatten die Verschärfung dieser Politik unter der Dauerkanzlerin Angela Merkel in noch größerer Zahl weiter befeuert und tun dies jetzt in der von der Bundesregierung organisierten "Wendezeit" weiter.

Diesen Beratern für die Privatisierungen, auch für die private Altersvorsorge, für die Sozialkürzungen, für die Deindustrialisierung im Rahmen der jetzigen Kriegshaushalte geht es so gut wie noch nie. Sie können dann frühzeitig mit hohen Renten das verarmte Deutschland von ihren bequemen Altersruhesitzen aus der Ferne begutachten – wenn wir das zulassen.

Durchschnittliche "gesetzliche" Rente: Armutsrente

Die durchschnittliche Rente der unteren Ränge der gesetzlichen Rente beträgt 1.152 Euro. (Stand 2022). Damit liegt diese Rente genau an der Armutsgrenze, die gegenwärtig in Deutschland 1.148 beträgt, während die durchschnittliche Beamtenrente dreimal so hoch ist, 3.170 Euro pro Monat!

Die Armutsrente bleibt auch so, wenn wir das nach Männern und Frauen und nach West- und Ostdeutschland aufschlüsseln: Die durchschnittliche Rente in Westdeutschland beträgt bei Männern 1.218 Euro, bei Frauen 809 Euro. Ostdeutschland: für Männer 1.143 Euro, für Frauen 1.072 Euro. Also alles unter der Armutsgrenze.

Höchstrente für Beamte fünfmal höher

Natürlich haben einige Millionen dieser Rentner eine höhere Rente. Vier Millionen Männer und zwei Millionen Frauen bekommen zwischen 1.200 und 1.500 Euro, also von knapp unter der Armutsgrenze und etwas darüber. Die höchste gesetzliche Rente bei 2.400 Euro wird von 1,2 Prozent der Männer und 0,1 Prozent der Frauen erreicht.

Aber diese wenigen gesetzlichen Höchstrenten liegen immer noch weit unter der durchschnittlichen Beamten-Rente. Denn die ist dreimal so hoch. Und während die Höchstrente der Arbeitnehmer bei 2.400 Euro liegt, liegt die Höchstrente der Beamten knapp fünfmal so hoch: bei 11.500 Euro pro Monat.

Die grundgesetzliche Gleichbehandlung der Bürger wird auch dadurch systemisch verletzt, dass die Beamten ihre höhere Rente in besserer Gesundheit mehrere Jahre länger beziehen.

Vier Millionen Best-Renten

Wir können also den ersten Lügenkomplex so zusammenfassen: Es gibt überhaupt kein allgemeines Rentenproblem und kein Demografie-Problem. Die etwa vier Millionen staatlichen wie privaten Besser- und Bestverdiener haben überhaupt kein Rentenproblem.

Diese ebenfalls gesetzlichen Renten sind hoch, sie werden mit der bisherigen und jetzigen Regierungs- und Konzernpolitik noch höher, auch völlig unabhängig von der Zahl derer, die in diesen Berufsgruppen noch arbeiten. Und diese Besser- und Bestverdiener erhalten eine umso höhere Rente, je mehr sie dazu beitragen, die Renten der Mehrheitsbevölkerung zu senken.

Zweite Lüge: Auch die Best-Renten sind gesetzliche Renten

Das Rentenproblem existiert also nur für die unteren Ränge der abhängig Beschäftigten. Also für diejenigen mit der sogenannten gesetzlichen Rente.

Dieser Begriff der "gesetzlichen Rente" ist irreführend: Denn wie wir gesehen haben, bekommen auch die Beamten, Berufssoldaten, Abgeordneten, politischen Ruhestandsbeamten, Regierungsmitglieder und auch die Konzernvorstände eine gesetzlich geregelte Rente. Die ist aber um Klassen besser.

Im Umkehrschluss heißt das: Der Gesetzgeber kann auch für die unteren Ränge der abhängig Beschäftigten gesetzlich für bessere Renten sorgen, das sogenannte Rentenproblem lösen. Das Grundgesetz gebietet sogar die gesetzliche Gleichstellung aller Bürger und Bürgerinnen, eben auch bei der Rente. Darauf kommen wir zurück.

Dritte Lüge: Es gibt nicht weniger, sondern immer mehr Arbeitnehmer

Von der gezielten begrifflichen Verwirrung abgesehen: Das Problem hängt überhaupt nicht daran, dass es immer weniger abhängig Beschäftigte der unteren Ränge gibt, die aus ihrem Arbeitseinkommen in den Rententopf einzahlen. Im Gegenteil: Die Zahl der abhängig Beschäftigten der unteren Ränge ist in den letzten drei Jahrzehnten ständig gewachsen.

1991 waren es im glücklich vereinten Deutschland 35,3 Millionen Arbeitnehmer, heute sind es im unglücklichen Gesamtdeutschland 41,6 Millionen offiziell registrierte Arbeitnehmer, also gut sechs Millionen mehr.

Das kommt allerdings nicht durch die Ausweitung des Arbeitsvolumens. Vielmehr wurde auch unter dem Einfluss von US-Investoren und -Beratern die bestehende Volkswirtschaft profitabel abgeschrumpft.

Viermal Hartz: Niedriglöhnerei für mehr abhängig Beschäftigte

Durch die Agenda 2010 von Schröder/Fischer, von SPD/Grünen (Regierung 1998 - 2005), wurde die unter der CDU-Kohl-Regierung in der Ex-DDR-eingeübte volkswirtschaftliche, Lohn- und Renten-Schrumpfung auch in Westdeutschland fortgesetzt.

Die Agenda 2010 hatte zwei Teile: Erstens die Einladung an US-Investoren zum günstigen Aufkauf hiesiger Unternehmen. Diese Investoren wie Blackstone und dann Blackrock und Co. wurden zusätzlich durch die extrem kapitaldienliche Niedriglöhnerei angelockt: Zur Agenda 2010 gehörten ja die vier Hartz-Gesetze.

Sie verletzen die menschenrechtlichen Arbeitsrechte der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Und das wird auch von der Europäischen Union unterstützt.

Der Namensgeber Peter Hartz hatte sich dadurch verdient gemacht, dass er das Buch "Die Job-Revolution" geschrieben hatte: Er nahm die menschenrechtswidrige Job-Praxis in den USA als Vorbild. Die USA stehen bekanntlich oder auch unbekanntlich, zusammen mit dem Golf-Staat Katar, weltweit einsam an der Spitze der Nicht-Ratifizierung der ILO-Arbeitsrechte.

So brachten die vier Hartz-Gesetze erweiterte Leiharbeit, Mini- und Midi-Jobs, Teilzeitarbeit, befristete Arbeit. Diese Arbeits-Armut führt zu Armutsrenten, gerade bei denen, die am allerwenigsten verdienen: Die Minilöhner dürfen sogar gesetzlich darauf verzichten, einen Rentenbeitrag zu zahlen, sondern sie können sich die paar Euro als kleine Aufbesserung ihres kargen Lohns für ihre prekäre Existenzsicherung auszahlen lassen.

7,5 Millionen Minijobber

So verdoppelte sich der Anteil der Teilzeit-Beschäftigten von 1991 bis 2019 von 18,5 auf 38,6 Prozent. Und die geringfügige Beschäftigung stieg von 7,7 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse auf 17 Prozent: Im Jahre 2022 hatten 7,5 Millionen Beschäftigte einen Minijob, also bis 450 Euro, ab Oktober 2022 bis 520 Euro pro Monat, fünf Millionen davon im "Hauptberuf", 2,5 Millionen im Nebenberuf.

Die Leiharbeit wurde zusätzlich menschenrechtswidrig erweitert, nämlich dadurch, dass sie schlechter bezahlt wird als die gleichartige Arbeit in Festanstellung: Entweder durch einen Tarifvertrag mit einer meist "christlichen" Gewerkschaft, oder durch die Festlegung im Arbeitsüberlassungsgesetz aus der Ära Merkel: In den ersten neun Monaten gilt kein "equal pay", keine gleiche Bezahlung, sondern erst danach.

Auch ein wachsender Teil der vielbeschworenen Babyboomer leidet darunter: Vor allem diejenigen, die jetzt und später in die Rente gehen werden, sind durch Phasen der Niedriglöhnerei und auch der Arbeitslosigkeit gegangen. Wobei die Niedriglöhnerei schon längst nicht mehr auf die vier Hartz-Gesetze beschränkt ist, sondern auch viele "Normal"-Arbeitsplätze betrifft.

Nicht-registrierte Niedriglöhner

Und auch ohne Erlaubnis durch Hartz-Gesetze organisieren die führenden Kapitalisten neue Niedriglöhne, etwa durch die Plattform-Konzerne für Taxi-, Liefer- und IT-Dienste. Dabei sind viele dieser abhängig Beschäftigten und Schein-Selbständigen – vielfach ohne formellen Arbeitsvertrag – in der staatlichen Arbeitsstatistik gar nicht registriert.

Zusammengefasst: Es gibt nicht weniger abhängig Beschäftigte, sondern immer mehr. Das Rentenproblem besteht in der vielgestaltigen, auch unter den CDU/Merkel-Regierungen erweiterten Niedriglöhnerei für immer mehr Beschäftigte.

Dieser Artikel basiert auf einem Referat, das der Autor beim "Forum Rente" der Initiative Blackrock-Trubunal am 7. Oktober 2023 in Berlin hielt.