Reportage über Geburtsklinik-Angriff in Mariupol "gefälscht"?

Geburtsklinik in Mariupol. Bild: Screenshot Telegram-Video

Was ist dran an Fälschungsvorwürfen? Moskau wirft Kiew vor, eine Video-Reportage über die Bombardierung "arrangiert" zu haben. Auch deutsche Blogger sind in den Reihen der Kritiker. Die Vorwürfe lassen sich überprüfen

Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Thomas Röper vom Anti-Spiegel beeilte sich so sehr, "die neue Brutkastenlüge" der Ukraine bloßzustellen, dass er selbst vieles außer Acht ließ. Da gerade aber Röpers dünne Analyse so viel Aufmerksamkeit bekam, lohnt es sich, die komplexe Faktenlage rund um die bombardierte Geburtsklinik in Mariupol nochmal zu checken.

Was ist geschehen? Am 9. März berichteten die ukrainischen Behörden, dass russische Truppen die Entbindungsstation des Krankenhauses Nr. 3 (es war beides: ein Kinderkrankenhaus und eine Entbindungsstation) in Mariupol beschossen hätten. Kiew teilte später mit, dass infolgedessen drei Menschen getötet, darunter ein Kind, und 17 weitere verletzt worden seien. Der Stadtrat von Mariupol betonte, russische Luftstreitkräfte hätten "das Kinderkrankenhaus vorsätzlich bombardiert".

Die Mitteilung wurden mit Videos begleitet, die zerstörte Gebäude und Autos zeigen. Der Autor eines Videos, wo ein Auto noch brennt, sagt: "Artilleriebeschuss... Entbindungsheim". In diesem Video sieht man zuerst einen Menschen auf einer Trage, dann zwei Männer eine offenbar schwangere Frau führen.

Im Hintergrund verlassen zwei Dutzend Menschen ein dreistöckiges Gebäude. Im Telegram-Kanal von Präsident Selenskyj erschien noch am Nachmittag ein weiteres Video, das innerhalb des Gebäudes gefilmt wurde. Man sieht zerstörte Räume, Glasscherben, Betten, Tische. Die medizinischen Geräte werden kaum gezeigt und auch keine Verletzten.

Am Anfang war ein Telegram-Bericht

Am Abend erreichten die Fotos des Fotografen Evgeniy Maloletka die Medien aus aller Welt. Maloletka nennt sich auf Instagram Freelance-Fotograf, die Fotos verkaufte er an die Nachrichtenagentur Associated Press. Auch eine Video-Reportage von Reporter Mstislaw Tschernow für Associated Press gehört dazu.

Man hört in dem Video zuerst einen heftigen Knall, dann geht der Kameramann zum Gebäude, das total beschädigt aussieht; im Innenhof ist alles zerstört; dann sieht man wieder zwei Dutzend Menschen unmittelbar vor dem Gebäude, darunter eine weinende Frau mit einem Kind im Arm, eine schwangere Frau auf einer Trage, einen älteren Jungen, der von einem Soldaten beschwichtigt wird, und eine junge Frau mit einer Decke, die sich umschaut.

Am 10. März schrieb ein prorussicher Telegram-Kanal "СИГНАЛ" (Zu Deutsch: Signal), dass die junge Schwangere im Bild, Marianna Podgurskaja, ein Model und eine bekannte Beauty-Bloggerin in Mariupol sei. Die junge Frau sei tatsächlich schwanger, steht im Beitrag geschrieben, sie hätte aber nicht in der Entbindungsklinik "liegen" können, die von "Asow-Neonazis (gemeint ist das ultranationalistische Battalion "Asow") besetzt" worden sei.

Marianna sei engagiert worden, so die Botschaft. Auch die russischen Behörden fingen diese Erzählung auf. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow erklärte am 10. März, Kiew habe den Luftangriff [auf das Krankenhaus] inszeniert, denn Moskau hätte am Vortag eine Feuerpause für die sichere Evakuierung von Zivilisten in der Stadt erklärt und die russische Luftfahrt habe an dem Tag in Mariupol keine Ziele am Boden getroffen.

Inzwischen analysierte der Inhaber des russischen Faktencheck-Portals "Проверено" (Zu Deutsch: Gecheckt) Ilja Ber für die regierungskritische Zeitung Meduza mit Sitz in Riga (in Russland zum "ausländischen Agenten" erklärt) die Argumente derjenigen, die "die Echtheit des Beschusses bezweifeln". Ber hinterfragt also vor allem das offizielle russische Narrativ, das sich jedoch ähnlich etwa bei Röper findet. Die neuen Infomationen, die Mängel der Analyse von Thomas Röper sowie die eigene Recherche der Autorin dieses Textes für Telepolis lassen folgende Schlüsse ziehen.

Stolperstein Marianna

Die junge Frau, die auf den Fotos von Maloletka sowie in der Video-Reportage mit der Decke zu sehen ist, heißt tatsächlich Marianna Podgurskaja, sie ist Beauty-Bloggerin auf Instagram (aktuell rund 100.000 Follower). Ukrainischen Journalisten zufolge brachte sie am 10. März ein Mädchen zur Welt, was heißt, sie war bereits hochschwanger und hätte in einer Geburtenklinik ganz natürlich "landen" können, ohne "Arrangements".

Ihre Tätigkeit als Bloggerin spielt dabei keine Rolle. Ein Argument einiger Befürworter der Fälschungsthese wie Röper ist, dass Marianna einmal gehend, einmal auf einer Trage in anderer Kleidung zu sehen sei. Dabei kann man vor allem auf dem Video klar erkennen, dass die Frau auf der Bahre nicht "dieselbe" Marianna ist, sondern älter ist und andere Gesichtszüge hat. Vor allem hier stolpern die "Entlarvungsversuche" von Röper und anderen.

Geburtsklinik längst von "Asow" eingenommen?

Im Telegram-Beitrag von Signal wird unter anderem auf einen Artikel vom 8. März in der regierungsloyalen Onlinezeitung Lenta hingewiesen, wo ein gewisser Igor zitiert wird:

Igor sagte, dass in den letzten Februartagen Menschen in Uniform in die Entbindungsklinik kamen, in der seine Mutter arbeitet. Er weiß nicht, ob es sich um Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte oder des nationalistischen Bataillons "Azow" handelte. Das Militär brach alle Schlösser ein, jagte das Personal des Entbindungsheims auseinander und richtete im Gebäude Schusspunkte ein, um, wie sie den Ärzten erklärten, die "Festung Mariupol" für die Verteidigung vorzubereiten.

Lenta

Die Nummer des Krankenhauses wird dabei nicht erwähnt.

Mariupol hat aber allerdings nicht nur eine Entbindungsstation. Auch wenn das Gesagte stimmt: Igor hätte auch die Geburtsklinik Nr. 1 meinen können. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums Konaschnenkow berichtete zwar am 5. März, die Bataillone "Asow" und "Aidar" würden auf die Einheiten der Volksmiliz der Rebellen von Positionen schießen, die sie in Schulen, Krankenhäusern, Entbindungskliniken und Kindergärten eingerichtet hätten.

Aber er nannte keine Nummern dieser Einrichtungen. Man sollte das von ihm wie von anderen Politikern auch nicht erwarten. Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja erwähnte jedoch am 7. März in seiner UN-Rede gerade die Geburtsklinik Nr. 1, die die ukrainischen Soldaten angeblich eingenommen und dort eine Stellung aufgebaut hätten.

Auch wenn das stimmen sollte: Es lässt sich daraus nicht schlussfolgern, dass es auch für die Geburtsklinik Nr. 3 stimmt, die in einem anderen Bezirk der Grosstadt liegt. Interessanterweise bestritt Außenminister Sergei Lawrow am 10. März auch nicht, dass das Gebäude der Geburtsklinik Nr. 3 beschossen wurde – er sprach lediglich von deren angeblichen Einnahme durch "Asow".

Die Autorin dieses Textes versuchte, für die unabhängige Überprüfung dieser Informationen ihre Kontakte in Mariupol zu erreichen, darunter eine Direktorin eines Hilfsfonds – vergebens. Sie ist seit zehn Tagen telefonisch nicht erreichbar, und ihren letzten Social-Media-Posts vom 4. März ist zu entnehmen, dass sie vor allem kleine Kinder in Kellern unterbringt und sie da auch schlafen. Andere Ukrainer berichteten parallel über massive Probleme mit Strom und Mobilfunk in Mariupol.

Zweifel an der Echtheit der Video-Reportage

Wir haben schon festgestellt, dass bei Marianna aus dem Video die Entbindung kurz bevorstand und sie einen Termin ganz natürlich wahrnehmen konnte. Das Argument, es sei für die "Inszenierung" eine Frau "arrangiert" worden, scheitert zweimal, auch weil neben Marianna viele andere Menschen und auch Frauen im Bild sind. Am Ende des Videos werden Bilder innerhalb des massiv beschädigten Gebäudes gezeigt, wo man auch Reste der medizinsichen Technik zu sehen sind.

Im großen Stil der Verschwörungstheoretiker weist Röper darauf hin, dass Kinder in dem Video angeblich nicht rechtzeitig oder gar nicht heulen oder dass die Soldaten, von denen es in dem Video viele zu sehen gibt, Frauen "unprofessionell" den Kopf verbinden würden.

Die Autorin dieses Textes bat vor diesem Hintergrund einen langjährigen technischen Direktor und Videoproduzenten aus Berlin, das Video auszuwerten. Ihm seien andere "Merkwürdigkeiten" aufgefallen: dass das gesamte Video nicht mit einem Handy, sondern offenbar mir einer sehr guten Kamera und einem Stabilisator aufgenommen worden sei, die man in Situationen wie einem Beschuss normalerweise nicht gleich zur Hand habe.

Das ist aus seiner Sicht zwar auffällig, spricht aber nicht gleich für eine Inszenierung. Viel interessanter findet er eher die Frage, ob es nur ein Knall war, der die Gebäude so unterschiedlich beschädigt habe, oder mehrere.

Fazit

Über die Feuerpause, die Moskau für Mittwoch ankündigte, hatte die russische Nachrichtenagentur Interfax schon am Dienstagabend geschrieben. Es lässt sich aber nicht unabhängig bestätigen, dass Moskau an diesem Tag, wie Konaschenkow sagt, "keine Ziele am Boden getroffen" habe, denn beide Seiten werfen eineinder die Nicht-Einhaltung von Waffenpausen vor.

Es bleibt noch die Frage: Wenn in der Video-Reportage bei der Evakuierung von Menschen aus dem massiv beschädigten Gebäude gleich so viele ukrainische Soldaten in Uniform zu sehen sind, kann es sein, dass ihre Schussposition sich in der unmittelbaren Nähe von der Geburtsstation befunden haben, während sie weiter funktionierte?

Es ist nur schwer vorstellbar, dass in einer belagerten und unter ständigem Beschuss stehenden Stadt solch eine komplexe Inszenierung organisiert werden konnte, auch wenn sie nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen werden kann.

Nach Angaben des ukrainischen Außenministeriums ist die schwangere Frau im Video auf der Bahre zwischenzeitlich als Opfer des Angriffs verstorben. Ebenso das Kind in ihrem Mutterleib. Die mit ihr fälschlicherweise identifizierte Marianna ist mit Kind wohlauf.