Retrospektives Nation Building
In Osteuropa und Russland dient die Geschichte zunehmend der Selbstvergewisserung
Fast 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus haben viele östliche Länder immer noch keine neue Identität gefunden. Diese Unsicherheit treibt sie dazu, in ihrer Geschichte nach Halt zu suchen - ohne es dabei mit der Wahrheitsfindung allzu genau zu nehmen.
Beim jüngsten Nato-Gipfel stritten Russland und die Ukraine nicht nur über Kommendes wie den zur Debatte stehenden Beitritt Kiews zum westlichen Bündnis, sondern auch über längst Vergangenes. Den Anlass dazu bot die große Hungersnot von 1932 und 1933, welche die Ukraine als Holodomor bezeichnet. „Holocaust“ steckt zwar nicht in dem aus Holod (Hunger) und Mor (Tod) zusammen gesetzten Wort, aber als einen solchen fasst das Land die Zwangskollektivierungen unter Stalin durchaus auf, weshalb in viele Geschichtsbücher die Bezeichnung „Hunger-Holocaust“ Eingang fand.
Auf internationaler Ebene ringt die ehemalige Unionsrepublik seit Jahren darum, die Politik Stalins als Genozid am ukrainischen Volk zu brandmarken. Einzelne Staaten wie Australien, Belgien, Italien, Polen, Ungarn und die USA haben den Holodomor bereits als Völkermord anerkannt. Mit ihrem Anliegen, die Generalkonferenz der UNESCO zu einer entsprechenden Entschließung zu bewegen, scheiterte die Ukraine allerdings im letzten Herbst. Trotzdem hält sie unverdrossen an ihrem Ziel fest und kann dabei auf die Mithilfe der USA zählen. Bei seinem Staatsbesuch im Vorfeld des Bukarester Nato-Gipfels legte George W. Bush nicht nur einen Kranz am Holodomor-Denkmal nieder, er unterzeichnete zudem ein Dokument, in dem sich die beiden Nationen verpflichten, die Erinnerung an den Holodomor wach zu halten, „auch im Rahmen internationaler Organisationen“.
Russland reagierte empört. Für Alexander Solschenizyn übertraf eine solche, „in modrigen Chauvinistengeistern“ geborene Geschichtsbetrachtung noch die „kühnen Verdrehungen des bolschewistischen Agitprops“. Die Duma sah sich zu einer Erklärung veranlasst. „Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass es sich um eine nach ethischen Kriterien organisierte Hungersnot handelte“, hieß es in der Resolution, „Millionen Sowjetbürger unterschiedlicher Herkunft fielen ihr zum Opfer.“ Die Dumisten machten allerdings nicht nur Opfer des Stalinismus aus, sondern auch Heroen, wenngleich keine aus Fleisch aus Blut. Das Wasserkraftwerk Dnjeproges und die Stahlstadt Magnitogorsk setzten die Abgeordneten auf die Positivliste, womit sie an den historischen Eiertanz von Jelzin und Putin anknüpften. Als „schrecklich, aber notwendig“ hatte das scheidende Staatsoberhaupt die Stalin-Zeit unlängst bezeichnet und das auf eine fast schon anrührende Weise begründet. „Weder mit meinem Herzen noch mit meinem Kopf kann ich akzeptieren, dass unsere Mütter und Väter umsonst gelebt haben sollen“, so der Präsident.
Beim postsozialistischen dialektischen Idealismus von Putin & Co. wie bei der patriotischen Engführung der Historie in der Ukraine handelt es sich um zwei im Osten derzeit recht verbreitete Spielarten, mit der Vergangenheit umzugehen. Wer meint, die ehemaligen Blockstaaten hätten sich nach dem Umbruch von 1989 um zivilgesellschaftliche Vorboten wie 1956, Prager Frühling, Solidarnosc und Dissidenten-Kultur herum schnell ein stabiles neues Geschichtsbild gezimmert, sieht sich leicht getäuscht. Ein neues Nationalgefühl war vielmehr das hervorstechenste Merkmal der Nachwendejahre. Und dieses war nicht nur der frisch gewonnenen Souveränität nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums geschuldet. Es keimte bereits in der Endzeit des Sozialismus, als die Politiker die immer offenkundiger werdende Legitimationskrise des Systems mit vaterländischen Tönen zu übertünchen suchten.
Historiker als Ahnenforscher
Um dem zarten Pflänzchen möglichst viel Halt zu geben, vergraben die historischen Landschaftspfleger die Wurzeln ganz tief. So hat der rumänische Geschichtswissenschaftler Nicolae Gudea kürzlich den Ursprung seines Landes in das Dakien des Jahres 106 zurückverlegt Russland erinnert seit 2005 wieder mit einem Nationalfeiertag an die 1612 erfolgte Befreiung Moskaus von den polnischen Besatzern. Als „Tag der Einheit des Volkes“ steht er nunmehr auf dem Kalender. Was Putin zufolge damals nur „durch den Zusammenschluss des Volkes“ gelang, soll auch heute wieder die arg strapazierten Bindekräfte stärken.
Bulgarien hat hingegen den Überfall osmanischer Truppen auf das Dorf Batak zum Gründungsmythos auserkoren. Bei der Arbeit an diesem Mythos haben die Patrioten so einige Retouchen vorgenommen, wie die Kunsthistorikerin Martina Baleva im letzten Jahr aufdeckte. Eine beispiellose Medien-Kampagne brach daraufhin gegen sie los, sogar Morddrohungen gab es. Polen hat seine Nationalgeschichte sogar gerichtsfest gegen eine derartige Kritik abgeschirmt. Der Artikel 132a des Strafgesetzbuches lautet seit 2006: „Wer öffentlich die polnische Nation der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt, dem droht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren“. Und die Politiker hatten dabei schon jemand ganz Bestimmten im Auge: Den polnisch-amerikanischen Historiker Jan Tomasz Gross mit seinem Buch über das antisemitische Pogrom von Kielce. Im Januar erschien es in polnischer Übersetzung, und die Staatsanwaltschaft gehörte zu den ersten Lesern.
Das Comeback der Nationalheiligen
Die Kirchen, die sich als „Mittler der Transformation“ verstehen und mit zunehmendem Erfolg als Sinnstiftungsinstanzen betätigen, unterstützen diese Art von Vergangenheitspolitik nach Kräften. Durch die Ernennung neuer Nationalpatrone oder die Auffrischung des Kultes um alte arbeiten sie gehörig daran mit, die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes für sakrosankt zu erklären, wie das von Stefan Samerski herausgegebene Buch „Die Renaissance der Nationalpatrone“ dokumentiert. So sprach die russische orthodoxe Kirche den letzten Zaren heilig, vorsichtshalber aber nicht wegen seiner - gelinde gesagt umstrittenen - vita activa, sondern wegen seiner vita passiva als „Leidensdulder“.
„Man hat ihm viele Fehlentscheidungen und Missgriffe vorgeworfen (...), doch übersieht man dabei meistens, dass er beseelt war von einer hohen Auffassung seiner Berufung als christlicher Herrscher und vom aufrichtigen Wunsch, das 'heilige Russland' zu retten“, rechtfertigt etwa die Leipziger Orthodoxe Kirche die Aufnahme des Zaren in den Kirchenkalender. Die slowakischen Katholiken bugsierten ihre alten Recken, die mährischen Fürstenbrüder Kyrill und Method, sogar als Stammväter der jungen Nation in die Präambel der Verfassung. „Im Bewusstsein des geistigen Erbes von Kyrillios und Methodios und des historischen Vermächtnisses des Großmährischen Reiches“ beschloss die Slowakei ihre Konstitution.
Die rumänische orthodoxe Kirche erhob derweil 1992 den Moldau-Fürsten Stefan den Großen zum Nationalheiligen, während die serbische den Kult um den heiligen Sava reanimierte. Hatte dieser Serbien bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine eigene nationale Identität jenseits von Kommunismus und Faschismus verschafft, so sollte das Svetosavlje, das heilige Savatum, nach 1989 die metaphysische Obdachlosigkeit beheben. „Das Svetosavlje ist die Grundlage des serbischen Staates, und als Staatsgrundlage auch Grundlage der Nation“, bekannte der heutige serbische Staatspräsident Vojislav Kostunica 1995 in einer Rede vor der svetosavischen Akademie in Pancevo.
Diese Sakralisierung der Politik, in der orthodoxen Kirche auf den 565 gestorbenen Kaiser Justinian zurückgehend, fördert einen aggressiven Nationalismus. So feierte die Zeitschrift „Pravoskavlije“ die serbischen Soldaten in Bosnien als Kämpfer, „die blutig das Werk des heiligen Sava verteidigen“. Selbstverständlich verteidigten sie es auch im Kosovo, dem „Fundament des Svetosavlje“, so der Patriarch Pavle in seinem Weihnachtssendschreiben von 1998. Für zukünftige Aufgaben könnte der Nationalheilige ebenfalls in Anspruch genommen werden. Das kritische Journal „Vreme“ warnte 2004 bereits vor einer „klerikalen Monarchie, die, natürlich, alle in fernen und nahen Kriegen verlorenen Territorien umfassen sollte“.
In der slowakisch-ungarischen Grenzstadt Komárno, dem Zentrum der magyarischen Minderheit im Land, verteidigt dagegen ein gegen heftige Widerstände aufgestelltes Kyrill-und-Method-Standbild die slowakische Leitkultur. Und das im Zuge der Heiligsprechung Stefans des Großen von Bukarest bis ins moldawische Chisinau getragene „Kreuz des rumänischen Volkes“ hatte auch die Mission zu erfüllen, den nach dem Zweiten Weltkrieg verlustig gegangenen Bessarabiern „heimzuleuchten“.
Das Alte und das Neue
Abstecher in die jüngere Geschichte nahm die rumänische Orthodoxie bei dem, was Übelmeinende ketzerisch als Zusammensammeln von Märtyrern bezeichneten, dagegen nicht. Die Ehrung geistlicher Regime-Gegner wie etwa Nicolae Steinhardts unterblieb. Da es nicht allzu viele dieser Standhaften gab, hätte das den Blick sofort auf die zahlreichen kirchlichen Kollaborateure gelenkt. Wer es wagte, über diese unheiligen Allianzen zu sprechen, sah sich lange Zeit sofort einem Blasphemie-Vorwurf ausgesetzt. Erst jüngst hat der neue rumänische Patriarch Daniel eine Lockerung des Schweigegelübdes angekündigt. Auch in Ungarn verfügten die Agenten in Soutanen über eine beträchtliche Betriebsstärke. Dem Präsidenten Jozsef Antall war es jedenfalls zuviel: Als der Geheimdienst dem ersten frei gewählten Staatsoberhaupt des Landes die lange Liste überreichte, landete sie schnell auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Kritikern dieser Schonhaltung hielt der 1993 verstorbene Antall einmal entgegen: „Dann hätten sich die Herrschaften halt dazu bequemen müssen, eine Revolution zu machen“. In der Tat erkauften nicht nur Ungarn und Polen den friedlichen Übergang zum Postsozialismus an den „Runden Tischen“ mit einem Stillhalte-Abkommen. Es sicherte den alten Eliten Amnestie zu und förderte so auch die Amnesie. Selbst in Rumänien, wo sich die Herrschaften mit der Tötung Ceausescus noch zum allermeisten bequemt hatten, kam es nicht zu einem klaren Bruch mit der Vergangenheit. 1994 untersuchte eine Senatskommission die Vorgänge von 1989 und konstatierte, es habe sich nicht um eine Revolution, sondern um den Staatsstreich eines Teils der Partei-Elite gehandelt, welche sich kurzerhand an die Spitze der spontanen Volkserhebung gestellt habe.
So lebt überall im Osten noch ein Stück alte Zeit in der neuen weiter und sorgt für Identitätsprobleme. Diese fördern einen Umgang mit der Vergangenheit, der unentschlossen zwischen Beschweigen, dem ehrlichen Bemühen um Aufarbeitung und recht abenteuerlichen historischen Rückversicherungen schwankt. Den polnischen Geschichtswissenschaftler Janusz Tazbir veranlasste das unlängst zu einem Appell an seine Kollegen: „Je rationaler wir an unsere Vergangenheit herantreten, desto besser werden wir unseren zivilisatorischen Beitrag zur europäischen Kultur begreifen, und desto besser wird sich unsere Identität erhalten. Das ist viel besser, als großen Gestalten der Geschichte - etwa Nietzsche - polnische Wurzeln anzudichten“. Wäre es in der Tat, und zumindest in Polen dürften die Chancen dafür nach dem Scheitern des versessenen Vergangenheitspolitikers Jaroslaw Kaczynski bei der letzten Wahl gestiegen sein.