Riskantes Manöver: Armeniens Schwenk von Russland zum Westen
Seite 2: Strategische Isolation
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Er führte sein Land in eine strategische Isolation, indem er eine populistische Rhetorik pflegte, wenn er etwa verkündete (und die Machtwirklichkeiten dabei aus dem Auge verlor): "Arzach ist Armenien. Punkt."
In seinem sprunghaften Vorgehen hatte er 2019 bei einem Besuch in Stepanakert "Miazum" (die Vereinigung Arzachs mit Armenien) skandiert, sein Verteidigungsminis- ter gar in New York vor der armenischen Diaspora die Formel "Neuer Krieg – neue Territorien" verkündet, was Baku reizte und als Abbruch der Verhandlungen interpretiert wurde.
Am 6. Oktober 2022 erkannte Paschinjan in Prag Aserbaidschan dann aber grundsätzlich in den Grenzen von 1991 an. Im Mai und September 2023 wiederholte er diese Aussage und zog gleichzeitig einen Austritt aus der von Russland angeführten Verteidigungsgemeinschaft OVKS in Betracht.
Ein weiterer Krieg?
Durch den am 31. Januar 2024 erfolgten Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, der einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat, distanziert sich Armenien noch weiter von Moskau. Am 12. Oktober 2023 blieben sowohl Paschinjan als auch sein Außenminister dem GUS-Gipfel in Bischkek fern.
Mittlerweile ist auch das Territorium der Republik Armenien selbst bedroht. Präsident Alijew erklärte derweil, dass er die Republik Armenien als historisches Territorium West-Aserbaidschans betrachtet.
Das Hauptinteresse Aserbaidschans wird dabei sein, durch Sangesur (den südöstlichsten Zipfel der Republik Armenien) zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan eine Landverbindung zu schaffen, die zugleich eine Verbindung zur Türkei herstellt.
Ein Gegenspieler dabei ist der Iran, den gerade diese Landverbindung nach Norden abschneiden würde. Je mehr sich Armenien der EU und den USA annähert, entfremdet es sich auch dem Iran. Bereits die Eröffnung einer armenischen Botschaft in Tel Aviv im Sommer 2020 hatte in Teheran für Irritationen gesorgt, ohne die Militärallianz Israels mit Aserbaidschan schwächen zu können.
Sprunghafte Diplomatie und Bergkarabach
Seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert gehörte das Gebiet, das die Armenier Arzach nennen, zum sich vom Ararat ausdehnenden Reich von Urartu, in dem die armenische Nationalgeschichtsschreibung das Vorgängerreich Armeniens erblickt. Durch seine sprunghafte Diplomatie und seine wechselhaften Aussagen gegenüber den Nachbarländern verwandelte der armenische Premier Paschinjan Arzach, das bergige Widerstandsnest der Armenier, innerhalb von zwei Jahren in Urartus Unglücksrabennest.
Als glücklich ließe sich im Rückblick nur die kurze Phase der armenischen Geschichte in der Spätantike bezeichnen, welche die arianischen Arsakiden beendeten. Das familiäre Königsdrama zerrüttete die Substanz des Landes: Die besten Geschlechter wurden getötet und die Kirche, die in diesem Jahrhundert noch zahlreiche heilige Bischöfe stellte, bekämpft.
Der Antichalkedonismus des folgenden fünften Jahrhunderts erwies sich für Armenien als nicht weniger tragisch: Er schnitt die Armenier von der Gesamtkirche ab, sodass sie fortan in einer randständigen Kapsel abgeschlossen lebten, weitgehend vom kulturellen Austausch mit der Außenwelt isoliert.
Bis heute lebt Armenien als eine Art Monade, die nun nach Verlust alter Bündnispartner existenziell gefährdet ist.
Hort ursprünglicher armenischer Kultur
Nach dem Untergang des Königreichs blieb den Armeniern schließlich nur noch das Gebiet des heutigen Bergkarabach. Dieses Gebiet, das nicht nur im militärischen Sinne ein réduit darstellte, ist jetzt verloren. Es war das einzige Gebiet, in dem der altarmenische Adel überlebt hatte, in dem die Armenier über die Jahrhunderte autochthon lebten und nicht in einer Diaspora-Situation.
Es war der Rückzugsort authentischer armenischer Kultur. Alle anderen Gebiete, auch das der Republik Armenien, sind vor allem von Repatrianten geprägt. Im Gebiet der Republik Armenien und in Westarmenien lebten die Armenier jahrhundertelang unter anderen Völkern.
Meist als auf andere Völker bezogenes Mittlervolk, in fremden Diensten, als Mündel und Dragomanen fremder Herrscher. Sie vollbrachten große kulturelle, politische und militärische Leistungen im Oströmischen Reich und in der weltweiten Diaspora. Aber nur in Bergkarabach lebten sie unter sich und für sich, als Herren über sich und ihr Land.
Hier verkörperten sie über Jahrhunderte die Souveränität Armeniens. Die Karabach-Armenier besaßen eine andere Sichtweise auf die Welt als die verstreuten Spjurk-Armenier, die stets mit Blick auf die fremde Herrschaft lebten, von deren Gnade sie abhängig waren, und die oft bedrohliche Umgebung, deren Willkür sie ausgesetzt waren.
Ablösung als Tragödie
Möglicherweise erwies sich gerade deshalb bereits die Ablösung der Karabach-Armenier in der Staatsführung als tragisch. Bergkarabach war der einzige Teil des Landes, in dem die Armenier seit der Spätantike nicht auf der schiefen Ebene der Abhängigkeit von äußeren Mächten, einer fremden Willkür ausgesetzt, lebten.
Insofern ist die Frage der Souveränität auch eine kulturelle Frage, ihre Bedeutung mentalitätsprägend. In Anwendung der Begrifflichkeit des britischen Publizisten David Goodhart könnte man sagen, dass im September 2023 die Bastion der historischen Somewhere-Armenier untergegangen und nun ein territorialer Rest Anywhere-Armeni- ens erhalten blieb.
Hierin ist vielleicht die bleibende kulturelle Bedeutung des Untergangs Bergkarabachs (Arzachs) für Armenien zu sehen.
Die Rolle Europas im Spannungsfeld zwischen Baku und Jerewan ließe sich als ambivalent bezeichnen. Ende Februar 2023 entsandte die EU die EUMA (European Union Mission in Armenia) mit dem strategischen Ziel, einen Beitrag zur Verringerung der Zahl der Zwischenfälle in dem Konfliktgebiet zu leisten, das Risiko für die dort lebende Bevölkerung zu verringern und damit zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan beizutragen.
Nach der Niederlage: EU kann nichts ausrichten
Auf die Kriegshandlungen im September 2023 konnte die Mission wenig Einfluss nehmen. Ursula von der Leyen, die im Herbst 2019 zu ihrem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsidentin ankündigte: "Wir wollen eine starke geopolitische Kommission sein", nannte Aserbaidschan 2022 einen "entscheidenden Partner auf dem Weg zu Versorgungssicherheit und Klimaneutralität".
Die tschechische Abgeordnete Marketa Gregorova von der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament betonte, es liege im strategischen Interesse Europas, dass "der Einfluss Russlands in Armenien und der Region minimiert wird, Aserbaidschan auf dem Weg zu Demokratie unterstützt wird und der Jahrzehnte währende Konflikt gelöst wird".
Die Einnahme der armenischen Enklave Bergkarabach durch Aserbaidschan konnte den strategischen Einfluss Russlands freilich nur auf Kosten der vertriebenen Karabach-Armenier reduzieren.
2011 wurde in Armenien Schach als Schulpflichtfach eingeführt, um das strategische Denken zu fördern. Paschinjan hat gerade die Partie um Karabach verloren. Er droht nun auch Sangesur zu verlieren. Geht es ums physische Überleben, ist Realismus für die in ihrer nackten Existenz Bedrohten ein Gebot der Notwendigkeit.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends. Der Artikel entstammt der neuen Ausgabe "Multipolare Geopolitik".
Philipp Ammon, geb. 1975, studierte in Berlin, Kasan, Moskau und Tbilissi (Tiflis) Geschichte und Slawistik. Er ist Fellow Researcher am Centre for Military, Intelligence and Security Studies (CMISS) in Victoria (Kanada)