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Rojava: Ausrufung einer kurdisch-syrischen "Demokratischen Föderation"

Die drei Kantone von Rojava. Bild: Turco826/CC BY-SA 4.0

Der Erklärung folgt Kritik seitens der syrischen Regierung, von syrischen Oppositionsvertretern in Genf, von den USA, aus Russland und der Türkei

Zum Abschluss einer Konferenz von 31 Parteien und 200 Teilnehmern in Rmelan/Rojava wurde am Donnerstag eine Erklärung [1] verabschiedet, in der die bereits bestehende "Demokratische Autonomie" ausgeweitet wurde. Bereits am 21. Januar 2014 wurde die Autonomie ausgerufen und ein demokratischer Gesellschaftsvertrag verabschiedet. Dieser soll die verfassungsrechtliche Grundlage bilden und basiert auf den Grundprinzipien des demokratischen Konföderalismus (siehe dazu Das Modell Rojava [2]).

Auf dieser Grundlage wurde eine Übergangsregierung mit allen ethnischen und religiösen Minderheiten unter der Führung der stärksten Partei PYD gegründet. Die Konferenz [3] vergangener Woche, am 16. und 17 März, befasste sich mit der Zukunft der Region. Die Teilnehmer setzten sich aus allen Bevölkerungsgruppen - wie Arabern, Kurden, Armeniern, Turkmenen und Assyrern - zusammen. Sie kamen aus der gesamten Region Nordsyriens, aus Rojava, aus der Sheba-Region und aus der Aleppo-Minbic-Region.

Unter den Teilnehmern war auch der einflussreiche arabische Stammesführer Sheikh Hamad Shehade. Er äußerte [4] die Hoffnung, dass sich mit dieser Initiative das föderale System in ganz Syrien verbreiten werde. Vertreter der PYD betonten [5], es gehe nicht um eine Abspaltung Nordsyriens, sondern um einen ersten Schritt hin zu einem föderalen Syrien.

"Das föderale System könne ein Modell sein, um die Krise in Syrien zu lösen", hieß es in der Abschlusserklärung. Auch der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura räumte [6] für die Gespräche in Genf die Möglichkeit ein, dass ein föderales System diskutiert werden könne.

Zunächst wird es in den nächsten Monaten vermutlich darum gehen, die Kantone Cizire und Kobane mit Afrin zu verbinden, um ein zusammenhängendes Gebiet zu haben, was besser gegen den IS und andere islamistische Gruppen zu verteidigen ist. Eine territorial zusammenhängende demokratische Föderation sei der beste Weg, die Rechte für alle Menschen in der Region, ungeachtet der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu gewährleisten, so der Diskussionsentwurf der Konferenz.

Die Ausrufung der Demokratischen Föderation stößt nicht überall auf Gegenliebe

Syriens Regierung lehnt ein föderales Syrien ab, für sie hätte dies keine Bedeutung, wird übermittelt [7]. Die Erklärung werde "keine rechtlichen, politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Auswirkungen" haben. Auch die syrische Opposition distanzierte sich entschieden. Über die zukünftige Gestalt Syriens werde allein bei den Genfer Friedensgesprächen verhandelt.

Die nach Genf eingeladenen Vertreter der syrische Opposition stellten gegen "jeden Versuch, Einheiten, Gebiete oder Verwaltungsbereiche zu bilden". Das politische System des Landes solle durch Verhandlungen bestimmt werden, erklärten [8] die von der Türkei und Saudi-Arabien unterstützten Kräfte.

Die kurdische Autonomieregion im Irak hat sich noch nicht offiziell zu den Entwicklungen geäußert. Die Schließung des Grenzübergangs Semalka nach Rojava ist wohl eine erste Reaktion auf die Autonomiebestrebungen Rojavas könnte. Der Schritt wurde am Mittwoch von der Regierungspartei Barzanis angeordnet, wie die kurdische Nachrichtenagentur ANF mitteilte [9].

Das Konzept des Demokratischen Konföderalismus ist Barzani ein Dorn im Auge, da er mit seinem feudal konservativen Modell in Konkurrenz dazu steht. Die Türkei fürchtet eine föderative Lösung in Syrien und damit die Region Rojava als eine Art "Bundesland" an ihrer Grenze. Schließlich könnte dies Auswirkungen auf die Kurdengebiete jenseits der Grenze auf türkischem Staatsgebiet haben.

Die Türkei hatte wiederholt damit gedroht, dass sie einen "Kurdenstaat" an ihrer Grenze nicht dulden werde. Mit dem anderen "Kurdenstaat", um bei der - falschen - türkischen Sprachregelung zu bleiben, nämlich bei der Autonomen Region Kurdistan, unter Führung von Massud Barsani, im Irak, die ebenfalls an die türkische Grenze angrenzt, hat die Türkei allerdings kein Problem. So tut sich hier ein Widerspruch auf.

Einen Anschluss des Kantons Afrin an Kobane und Cizire wertet die türkische Regierung als Überschreiten einer - einseitig postulierten - roten Linie. Sie drohte in diesen Zusammenhang mehrmals mit einem Einmarsch in Syrien.

Die USA spielen hier ein Doppelspiel. Einerseits unterstützen sie die Kurden in Syrien militärisch und drängen darauf, dass Raqqa von ihnen erobert wird. Sie schicken Delegationen nach Rojava und betreiben einen Flugplatz bei Rmelan, dem Konferenzort. Andererseits wollen sie die Türkei als NATO-Partner nicht allzu sehr verärgern.

Ein Modell wie Rojava es erfolgreich vorlebt, ist den USA ideologisch ein Dorn im Auge. Sie wollen, wie die Tagesschau berichtete [10], "selbstregierte Zonen innerhalb Syriens nicht anerkennen". Ein Sprecher des Außenministeriums in Washington beharrte dem Bericht zufolge "auf dem Ziel eines vereinten Syriens".

Diese Formulierung ist spitzfindig, denn sie unterstellt der "Demokratischen Föderation" Rojavas, dass sie gegen ein geeintes Syrien sei. Wie schon ausgeführt, stellt sich Rojava aber lediglich gegen ein autoritäres Zentralstaatmodell, welches Minderheiten ausschließt und unterdrückt. Sie stellen dem ein demokratisches Syrien gegenüber, mit verschiedenen "Bundesländern" (ähnlich wie europäische Föderalismus-Systeme), die gewisse Autonomierechte haben und alle Minderheiten und Religionen gleichberechtigt an der Regierung beteiligen.

Auch Russland, das Assad unterstützt, kritisierte das Vorgehen der syrischen Kurden. "Solche Fragen lassen sich nicht einseitig klären", wird der russische Vizeaußenminister Michail Bogdanow zitiert [11]: Dies müsse in Verhandlungen entschieden werden. Aber, so betonte Bogdanow, dafür müssten die Vertreter Rojavas auch zu den Verhandlungen hinzugezogen werden.

Dass es zur Ausrufung der Demokratischen Autonomieregion gekommen ist, hängt mit den Genfer Gesprächen zusammen. Der Schritt erfolgte nicht zufällig. Er ist dem Ausschluss der Kurden Nordsyriens, bzw. der Regierung Rojavas an den Genfer Friedensverhandlungen geschuldet. Rojava hat immer wieder insistiert, dass sie als relevante politische Kraft, die ein großes Territorium im Norden Syrien kontrolliert, mit einbezogen werden müsse.

Man verweist und pocht darauf, dass die unter ihrer Führung stehenden "Demokratischen Syrischen Streitkräfte" (SDF) als einzige effektive Armee den IS immer weiter zurückdrängen und dafür auch international Anerkennung wie auch Waffenunterstützung von den USA erhalten. Die Teilnahme an den Gesprächen scheiterte am entschiedenen Widerstand der Türkei und Saudi-Arabien. Beides Staaten, die so gut wie nicht in den Kampf gegen den IS involviert sind, wie die Regierung Rojavas und ihre Anhänger monieren.

Mögliche Folgen der Entwicklung

Assad hätte bei einem föderalen Syrien eigentlich nichts zu befürchten. Aber der Machtapparat an der Spitze des Staates sieht das wohl anders. Es wäre durchaus möglich, ein demokratisches, föderales Syrien aufzubauen mit mehreren Bundesländern, die Autonomie für ihre ethnischen und religiösen Besonderheiten haben und ihre Region selbst verwalten. Wie auch bei uns in der Bundesrepublik. Die Frage ist, ob sich Assad - der im März 2011 von der damaligen US-Außenministerin Clinton noch als Reformer gelobt [12] wurde - in der Frage gegen die alten Eliten und Strukturen durchsetzen kann und ob er dazu willens wäre.

Die irakischen Kurden

Im Irak haben die KDP und die Barzani-Führungsriege große Legitimationsprobleme innerhalb der Bevölkerung. Die Repressalien der Geheimdienste, die fehlenden Öl-Dollars, die ausbleibenden Löhne - das stimmt die kurdische Bevölkerung misstrauisch bis pessimistisch. Es werden immer mehr Stimmen laut, dass das feudale Stammessystem des Barzani-Clans abgeschafft gehört und demokratische Strukturen entwickelt werden müssen.

Dabei orientieren sich die Menschen auch am Modell Rojava. Dies könnte dazu führen, dass Barzani, um seine Macht zu halten, mit der Türkei weitere Deals und Zugeständnisse macht. Schon jetzt lassen er wie auch die irakische Regierung es zu, dass die Türkei permanent irakisches Territorium verletzt, um im Kandil-Gebirge PKK-Stellungen mit ihren Kampffliegern zu bombardieren. In der Regel werden kurdische Dörfer oder Nomaden getroffen. Die verhängte Grenzschließung zu Rojava könnte ein Indiz sein für eine neue Blockade für Waren und Hilfsgüter.

Die Türkei und die PKK

Die Türkei, insbesondere Erdogan, ist unberechenbar. Erdogans Kurdenphobie und sein sich ausweitender Führerkult lassen keine Voraussagen zu. Die stark kontrollierten Medien in der Türkei können die Bevölkerung nicht mehr darüber informieren, was wirklich passiert. Viele Menschen ziehen sich aus Angst, ins Visier der Geheimdienste oder anderer Organisationen zu geraten, zurück und halten sich bedeckt.

Die Politik der PKK ist im Moment noch nicht klar. Sie versucht, der kurdischen Bevölkerung in der Türkei beizustehen. Sollte die Situation aber eskalieren, könnte dies sich auch negativ auf Rojava auswirken, weil Erdogan die Partei PYD und die SDF (Syrian Democratic Forces) gleichsetzt mit der PKK. Diese Sichtweise wird gerne von den westlichen Medien übernommen. Dabei muss man kein PKK-Sympathisant sein, um die Einschränkung der Pressefreiheit, die "Gleichschaltung der Medien" und die Verfolgung kritischer Intellektueller zu kritisieren.

USA und Russland

Die USA und Russland verfolgen ausschließlich ihre geopolitischen Ziele, wobei sie sich des einen oder anderen Bündnispartners in der Region bedienen. Russland wird Assad nicht alleine lassen. Wenn von Assad kein Einlenken in Richtung föderales Syrien kommt, wird Russland das zentralistische, autoritäre System auf Kosten Rojavas unterstützen - auch wenn diese jetzt ein Büro in Moskau haben.

Die USA agieren nicht anders. Im Moment ist die SDF im Kampf gegen den IS nützlich, aber zu viel Autonomie ist auch nicht erwünscht. Auch die USA werden sich gegen Rojava wenden, wenn die Aktivitäten dort nicht in ihr geopolitisches Bündniskonzept passen. Die Türkei und Saudi-Arabien sind als wichtige Partner der USA mächtige Gegenspieler und vor allem gute wirtschaftliche Absatzmärkte. Mit der politischen Führung der beiden Länder will man es sich nicht verscherzen.

Stachel im Getriebe des Nahen Ostens: die Frauenemanzipation

Aber es gibt noch einen anderen tieferen Grund, warum Rojava so isoliert ist - jenseits vom diplomatischen Geplänkel. Und das lässt im gesamten Nahen Osten die Alarmglocken klingeln: Die im Gesellschaftsvertrag Rojavas festgelegte Frauenemanzipation auf allen Ebenen des politischen und sozialen Lebens sprengt die patriarchalen Strukturen des gesamten Nahen Ostens. Zwangsverheiratung, Polygamie wird in vielen Ländern der Selbstbestimmung der Frauen vorgezogen.

Rojava liefert für Frauen in der gesamten Region ein neues Rollenmodell. Tausende von Frauen sympathisieren damit. Denn das hat es im Nahen Osten noch nie gegeben: eigene Fraueneinheiten, die sich nicht unter Männerhierarchien (wie selbst bei uns in der Bundeswehr) unterordnen, sondern ihre eigenen Strukturen haben. Frauenräte, die den sozialen Alltag im Dorf oder Stadtteil regeln. Frauenhäuser für Frauen, denen Gewalt widerfahren ist.

Nächster Stachel: Basisdemokratie

Auch dieser Punkt darf nicht unterschätzt werden: Die basisdemokratischen Strukturen Rojavas sprengen die Clanstrukturen. Denn plötzlich ist der Stammesführer nicht mehr an erster Stelle, sondern der Stadtteil- oder Kantonsrat. Plötzlich muss sich der arabische Scheich mit dem christlichen Oberhaupt über die Belange seiner Stadt gemeinsam verständigen. Oder der kurdische Clanchef darf nicht mehr entscheiden, wer seine Tochter heiratet, sondern sie darf das selbst. Das ist so im Gesellschaftsvertrag festgelegt.

Und davor haben viele Eliten und auch die in Genf sitzende sogenannte Opposition Angst, rüttelt es doch an ihren Grundmauern, die das Alte im Prinzip bewahren wollen.


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https://www.heise.de/-3379067

Links in diesem Artikel:
[1] http://civaka-azad.org/6964-2/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Das-Modell-Rojava-3367894.html
[3] http://anfenglish.com/kurdistan/rojava-and-northern-syria-united-democratic-system-document-accepted
[4] http://www.middleeasteye.net/news/syria-kurds-push-federal-system-after-exclusion-peace-talks-1683795390
[5] http://news.yahoo.com/syria-kurds-expected-declare-federal-system-officials-135559551.html
[6] https://www.tagesschau.de/ausland/kurden-in-syrien-101.html
[7] https://www.tagesschau.de/ausland/kurden-in-syrien-101.html
[8] https://www.jungewelt.de/2016/03-18/007.php
[9] https://anfenglish.com/kurdistan/kdp-closes-semelka-and-welid-border-gates
[10] https://www.tagesschau.de/ausland/kurden-in-syrien-101.html
[11] https://www.tagesschau.de/ausland/kurden-in-syrien-101.html
[12] http://www.joshualandis.com/blog/clinton-calls-bashar-al-assad-a-reformer/