Rückeroberung der Krim: Ängste unter Zivilisten
Mit Recht werden die militaristischen Töne des Kreml gegenüber der Ukraine kritisiert. Sie gelten als Haupthindernis für Friedensverhandlungen. Vielen ist unklar, was Kiewer Maximalziele beinhalten.
Was ist schon über die konkreten Rückeroberungspläne der Ukraine bekannt, die mit der angekündigten Frühjahrsoffensive in die Tat umgesetzt werden sollen? Dass es dabei nicht nur um die Rückeroberung der nach dem 23. Februar 2022 von der russischen Armee besetzten ostukrainischen Gebiete geht, zeigt ein Dokument, das Anfang April vom ukrainischen Verteidigungsrat und dessen Vorsitzenden Oleksij Danilow veröffentlicht wurde.
Darin werden dort zwölf Punkte zur Rückeroberung der Krim in einer Sprache skizziert, die die taz berechtigterweise von totalitären Tönen sprechen lässt.
Tatsächlich heißt auf der Seite des ukrainischen Verteidigungsrates: "Der russische Gauleiter-Abschaum auf der vorübergehend besetzten Krim ist in seinem hysterischen Z-Anfall zu weit gegangen – mal will er Kyjiw oder Odessa einnehmen, dann verfällt er dem sowjetischen Wahnsinn der 'Krim-Smersch'", so Danilow in der Einleitung seiner Thesen.
Smersch war im Stalin-Regime der Sammelbegriff für alle Geheimdienste, die angebliche Verräter enttarnen sollten und damit Träger des Unterdrückungs- und Verfolgungssystems wurden. In dieser Diktion geht es weiter.
Ganz konkrete Maßnahmen nach einer Rückeroberung der Krim werden auch genannt: Die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden müssten sich um die Beamten, Richter, Staatsanwälte, Strafverfolgungsbeamten und andere Personengruppen kümmern, die nach Februar 2014 für die russischen Besatzungsstrukturen gearbeitet haben.
Selbst wenn ihr Verhalten keine juristischen Konsequenzen hat, droht Personen aus diesem Kreis der Entzug staatlicher Renten. Die Krim verlassen müssten alle russischen Staatsbürger, die sich seit 2014 auf der Krim aufhalten. Auch seit 2014 geschlossene Verträge sollen ihre Gültigkeit verlieren.
"Desubjektivierung Russlands"
Doch die Pläne des ukrainischen Ultranationalismus gehen weit darüber hinaus. So erklärte Oleksij Danilow schon vor einigen Wochen, dass Russland in seiner jetzigen Form nicht weiter bestehen dürfe. "Der wahre Sieg der Ukraine ist ein Zerfall Russlands, sein Verschwinden als kohärentes Subjekt der Geschichte und Politik," erklärte Danilow am 11. Februar 2023 laut der Online-Zeitung Ukrainska Prawda.
Dort heißt es, dass zu den ukrainischen Sicherheitsgarantien nach einem gewonnenen Krieg die "Desubjektivierung Russlands als staatliches Gebilde, die Dekolonisierung seiner Territorien, die Denuklearisierung und die Deputinisierung der Bevölkerung" gehören. "Eine ernsthafte Diskussion darüber, wie man die Demontage von Russland sicher bewerkstelligen kann", ist laut Danilow angebracht.
Erbe des ukrainischen Ultranationalismus
Die Begriffe von russischem Abschaum oder Moskauer Müll und die Forderung nach der Auflösung Russlands, die hier in einem offiziellen Dokument der ukrainischen Regierung verwendet werden, sind nicht einfach mit einer groben Reaktion auf den brutalen russischen Angriffskrieg zu rechtfertigen, wie es häufig auch in linksliberalen Kreisen in Deutschland geschieht.
Hier wird die Geschichte und Gegenwart eines aggressiven ukrainischen Nationalismus ausgeblendet, wie er sich in der Vergangenheit immer wieder gegen Russen, Polen und Juden auch in blutigen Mordaktionen ausgedrückt hat. Zudem wurde der ein Teil der ukrainischen Bevölkerung als Handlanger von Russen und Polen markiert und verfolgt.
Ein blutiger Höhepunkt dieser Politik des ukrainischen Nationalismus waren die Jahre zwischen 1941 und 1944. Zeitweise in Kooperation mit der deutschen NS-Bewegung initiierten die unterschiedlichen Fraktionen ukrainischen Ultranationalismus Mordaktionen an Polen, Juden,
Russen und allen, die als Unterstützer dieser als Feinde der Ukraine markierten Menschen gesehen wurden. Doch die NS-Politik wollte die ukrainischen Nationalisten nicht als gleichberechtigte Partner in Crime anerkennen. So wurden viele der Mordaktionen auch eigenständig von den ukrainischen Ultranationalisten organisiert.
Der Historiker Johannes Spohr hat im Metropol-Verlag ein Buch über diese verwickelte Geschichte des deutschen und ukrainischen Nationalismus herausgegeben. Doch wichtig ist dabei zu beachten, dass der ukrainische Nationalismus auch immer eine Feinderklärung gegen die Menschen in der Ukraine war und ist, die sich beispielsweise als prorussisch sehen.
Die Blutspur zieht sich bis in die jüngste Vergangenheit, wie die 44 Toten beim Angriff ukrainischer Ultranationalisten auf das Gewerkschaftshaus in Odessa am 2. Mai 2014 zeigten – fast acht Jahre vor der russischen Invasion. Vor diesem Hintergrund sind die zwölf Punkte zur Rückeroberung eine besondere Drohung für mutmaßlich prorussische Bevölkerungsteile, die Objekt besonderer Entgiftungsmaßnahmen werden sollen.
Damit aber wird einmal mehr die mantraartig von bedingungslosen Unterstützern der Ukraine vorgebrachte Behauptung widerlegt, dass die ukrainische Bevölkerung mit großer Mehrheit mit allen Mitteln gegen eine russische Besatzung kämpft.
"Die Leute wissen nicht genau, was als Kollaboration gelten kann"
Nun müssten eigentlich allen, die sich mit nationalistischen Propagandamythen beschäftigt haben, die immer auf Feindbildern und Ausschlüssen beruhen, solche Töne suspekt sein. Besonders aber in einem Land wie der Ukraine müsste klar sein, dass es dort eben nicht eine einzige nationalistische Erzählung gibt.
Daher muss den angeblichen Prorussen ein besonderes Umerziehungsprogramm angedroht werden. Kein Wunder, dass viele Menschen in der Ostukraine befürchten, von der ukrainischen Armee und der Kiewer Regierung zu prorussischen Kollaborateuren erklärt zu werden. "Die Leute wissen nicht genau, was als Kollaboration gelten könnte", erklärt die Analystin Katharine Quinn-Judge in einem Interview mit der Jungle World.
Die Analytikerin untersucht die Ängste und Befürchtungen in den von Russland besetzten ostukrainischen Gebieten bei einer Rückeroberung durch die Regierung in Kiew:
Wir hatten beispielsweise Gespräche mit älteren Menschen in Cherson, die das Gefühl hatten, sie hätten ihr Land verraten, und die befürchteten, angeklagt zu werden, weil sie Hilfe oder Zahlungen von den Russen angenommen hatten.
Katharine Quinn-Judge im Gespräch mit der Jungle World
Sie äußert sich auch insgesamt kritisch zur Politik der ukrainischen Regierung im Umgang mit angeblichen prorussischen Kollaborateuren:
Die offizielle Position ist unklar. Das ukrainische Parlament berät derzeit zu Gesetzesentwürfen über die Bestrafung von Kollaborateuren, einige davon sind ziemlich furchtbar, andere sind vernünftiger. Grob scheint die bisher kommunizierte Linie derzeit zumindest zu sein, dass Ärzte, Arbeiter in Notdiensten und in der Infrastruktur nicht bestraft werden sollen, wenn sie für die Besatzungsmacht gearbeitet haben, aber Lehrer und Menschen in sozialen Berufen wahrscheinlich schon.
Eine sehr proukrainisch eingestellte Frau, die die ganze Besatzungszeit in Cherson erlebt hat, empörte sich über die Einstellung der Regierung zu Lehrern: "Es ist gut zu wissen, dass man in hohen Positionen in unserem Land Millionen stehlen kann, aber wer Kinder unterrichtet, die einen brauchen, wird wie ein Verbrecher behandelt!"
Katharine Quinn-Judge
Die in den zwölf Punkten zur Rückeroberung zusammengefassten Thesen dürften auch unter die Kategorie "ziemlich furchtbar" fallen, die Katharine Quinn-Jugde benennt. Umso unverständlicher ist, dass diese ultranationalistischen Töne hierzulande nicht genauso energisch zurückgewiesen werden wie ähnlich menschenverachtende Pläne, wenn sie aus Russland kommen.
Dabei sind genau diese Thesen ein Beweis mehr, dass es keinen guten Nationalismus gibt und dass ein Ende des Konflikts in der Ukraine nur die Zurückweisung jedes Nationalismus bedeuten muss. Zudem wäre eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalismus fällig, der in der von den ukrainischen Ultranationalisten geforderten Auflösung Russlands einen späten Sieg der deutschen Wehrmacht sieht. Damit wäre der Sieg von Stalingrad vor 80 Jahren revidiert.