Russische Stellungen im Donbass bleiben durchbrochen
Ukrainer konnten sich hinter der ersten russischen Abwehrlinie festsetzen. Drohnenangriffe beider Seiten bestimmen Nachrichten. Was geschah in Konstantinowka?
Die Vorgänge an der Front in der Region Saporischschja beherrschen weiter die Schlagzeilen der internationalen Presse. Laut geolokalisierten Bestätigungen verbreiterten die Ukrainer in den letzten Tagen die Lücke, die sie in die defensive russische Surowikin-Linie geschlagen haben und setzten sich hinter der ersten Verteidigungslinie bei Werbowe (russisch: Werbowoje) fest.
Der zwischen den Gegnern heftig umstrittene Durchbruch, der jedoch nur die vorderste von drei Verteidigungslinien betrifft, wird auch vom finnischen Militärhistoriker Emil Kastehelmi bestätigt.
Durchbruch erweitert, aber kein Vorstoß ins Hinterland
Der Durchbruch bedeutet jedoch – anders, als manche Presseberichte suggerieren –, keinen sicheren Erfolg der ukrainischen Offensivaktionen, da erst der weitere Kampfverlauf entscheidet, ob die Ukrainer genügend Reserven besitzen, diesen zu einem Vorstoß in das russisch besetzte Hinterland zu erweitern. Mit verstärkten Einheiten werden die Russen versuchen, dies zu verhindern. Die Schlacht ist also noch nicht entschieden.
Dass die taktische Lage vor Ort für die Russen prekär ist, zeigt auch der mittlerweile vom örtlichen Besatzungsgouverneur eingeräumte Rückzug der Invasionseinheiten aus dem Nachbarort von Werbowe, Robotyne (russisch: Rabotino). Ziel der Ukrainer in der Region ist die Unterbrechung einer wichtigen Versorgungsroute der russischen Armee und die Eroberung der schon seit Kriegsbeginn russisch besetzten Großstadt Melitopol.
16 Tote Konstantinowka: Angriff oder Unfall?
Neben den Vorgängen an der eigentlichen Front bestimmten in den letzten Tagen vor allem Drohnenangriffe beider Seiten die militärische Lage. Die blutigste Attacke wurde nach ersten Meldungen von der russischen Seite verübt, auf einen Markt in der ukrainischen Stadt Konstantinowka. Hier kamen nach ersten Angaben 16 Menschen ums Leben.
Ein oppositioneller russischer Experte geht jedoch von einem ukrainischen Raketenunfall aus. Der Gründer des sogenannten "Conflict Intellgence Team" (CIT), Ruslan Leviev, erklärt in einem Video auf dem YouTube-Kanal des oppositionellen russischen Journalisten Michail Naki, dass er keinen russischen Flugkörper für die Ursache der Explosion halte.
Diese Information wurde so auch von mehreren regierungskritischen, exilrussischen Medien wie der Online-Zeitung Meduza verbreitet. Leviev sagt, die eine Analyse der Videoaufnahmen lege den Schluss nahe, dass die Rakete aus dem Nordwesten von Konstantinowka gekommen sei. Es gäbe Spiegelungen der Rakete auf Karosserien von Autos, die keinen anderen Schluss zuließen.
In nordwestlicher Richtung des Ortes lägen die nächsten russischen Truppen in der Region Belgorod. Diese sei zu weit entfernt, dass eine Rakete vom Typ S-300 die Distanz überwinden könne, die er für den Urheber des Einschlags hält. Es handelt sich hier ursprünglich um ein Flugabwehrsystem, das jedoch nun im Ukraine-Krieg auch zur Bekämpfung von Bodenzielen eingesetzt wird.
Die Analyse genießt Glaubwürdigkeit, da das CIT zwar aus Russland stammt, jedoch in Opposition zur russischen Regierung steht. Es dokumentiert bewaffnete Konflikte mit russischer Beteiligung. Das Team kooperiert unter anderem mit westlichen Medien wie der BBC oder der Nachrichtenagentur Reuters und musste Russland beim Kriegsbeginn 2022 verlassen. Leviev hält den Angriff der Ukrainer nicht für Absicht, sondern für einen Unfall mit tragischen Folgen.
Unabhängig davon führte die russische Armee vier Attacken mir Kamikaze-Drohnen iranischer Bauart innerhalb von fünf Tagen auf die Hafenstadt Odessa durch. Dort gab es zwei Verletzte. Ziel ist hier vor allem die Unterbrechung der ukrainischen Getreideausfuhr.
Eine Drohne fiel hierbei auf benachbartes rumänisches Gebiet. Die Nato vermutet dahinter nach Auskunft ihres Generalsekretär Jens Stoltenberg allerdings keine Absicht. Tatsächlich stürzte die russische Drohne auf ein Feld nahe einer Flussbiegung, das von drei Seiten von ukrainischem Gebiet eingeschlossen ist und könnte dorthin aufgrund von einer Fehlfunktion oder Flugabwehrfeuer geraten sein.
Ukrainische Angriffe auch mit westlichen Drohnen
Auch die ukrainische Seite führte zahlreiche Drohnenangriffe durch. In der Nacht von gestern auf heute wurden dabei die Region Moskau und Rostow am Don getroffen, drei weitere Drohnen wurden nach russischen Angaben heute in der westlich gelegenen Region Brjansk abgeschossen. In Brjansk wurden Eisenbahnwaggons und ein Bahnhof beschädigt. In Rostow detonierte eine Drohne unweit des örtlichen Militärhauptquartiers. Vor Ort wurde der Ausnahmezustand ausgerufen.
Das russische Außenministerium gibt dazu an, dass bei den Drohnenangriffen auf das russische Mutterland auch ein in Australien hergestellter Typ eingesetzt werde. Dieser wurden den Ukrainern tatsächlich von Down Under geliefert. Es wäre der erste bestätigte Einsatz von westlichem Militärgerät auf das unumstritten russische Mutterland, da die Ukrainer hier bisher nur auf Eigenbauten gesetzt hatten. Ihnen ist bewusst, dass die Waffenspender solche Angriffe nicht befürworten.
Zahl der Kriegsinvaliden geht in die Zehntausende
Inzwischen gibt es erstmals auch Angaben über die Anzahl der Personen, die im Zuge des Ukraine-Kriegs Amputationen von Gliedmaßen erlitten haben. Die Nachrichtenagentur AP bezifferte solche tragischen Fälle auf ukrainischer Seite auf 20.000.
Wie viele solche Kriegsversehrten es auf russischer Seite gibt, ist nicht feststellbar. Die zuständige Behörde, der Sozialfonds der Russischen Föderation, hat zwischenzeitlich die Veröffentlichung von Daten über die registrierten Personen mit Behinderungen gestoppt, aus denen sich die Anzahl der Kriegsversehrten ermitteln ließ. Bis Juli wurden hier seit Kriegsbeginn etwa 5.000 neue Militärinvaliden erfasst.
Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel wurde am 8. September aktualisiert, da es nach der Einstellung neue Informationen und öffentliche Zweifel an der russischen Urheberschaft des Angriffs beziehungsweise Raketenunfalls in Konstantinowka gab.