Russischer Vormarsch: "Awdijiwka wird fallen, wenn kein Wunder passiert"
Umkämpfte Kokerei von Awdijiwka in der Ostukraine.
(Bild: MOs810, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons)
Herbstoffensive der russischen Armee hat begonnen. Die Lage der Ukrainer verschärft sich durch neue Drohnen und unsichere Waffenhilfe. Das sollten Sie wissen.
Die russischen Streitkräfte rücken im Raum Awdijiwka weiter vor. Obwohl die ukrainische Seite offenbar erhebliche Truppenkontingente von anderen Frontabschnitten in und um die bedrohte Frontstadt verlegt, ist es der russischen Armee nun gelungen, an mehreren Abschnitten nördlich und südlich von Awdijiwka vorzudringen.
Schwerpunkt der russischen Bemühungen ist, wie hier berichtet, die Kokerei AKHZ im Norden der Stadt. Hier konnten russische Truppen auf einer Breite von etwas mehr als 2,5 Kilometern die Bahngleise in Richtung Westen überqueren.
Der Einbruch erstreckt sich vom nördlich an AKHZ angrenzenden Rangier- und Verladebahnhof der Kokerei bis weiter nördlich zu einer verlassenen Datschensiedlung. Mit der Eroberung des östlichen und zentralen Teils des Dorfes Stepove dürfte ein wesentlicher Erfolg über die ukrainischen Verteidigungsstellungen gelungen sein.
Von dort sind es noch etwa 4,2 Kilometer bis zur einzigen befestigten Versorgungsstraße, die in die belagerte Stadt führt. Die russischen Truppen haben keinen direkten Sichtkontakt auf die besagte Straße O0542, da Waldstreifen die Sicht versperren. Russische Operatoren versuchen jedoch, den Nachschub mittels Drohnen zu stören.
"Awdijiwka wird fallen, wenn kein Wunder passiert, wie zum Beispiel ein massierter Gegenangriff", befürchtet der österreichische Ukraine-Experte Oberst Markus Reisner gegenüber Telepolis. "Verfügbare ukrainische Kräfte für einen Gegenangriff sind die 47ste Mechanisierte Brigade mit ihren Leopard und Bradley oder die 1. Panzerbrigade. Beide Einheiten leiden unter Verlusten, haben aber noch gepanzerte Angriffselemente", so Reisner weiter. "Um es ganz klar zu sagen: Wenn es keinen erfolgreichen Gegenangriff gibt, wird Awdijiwka eingekesselt werden und schließlich fallen", analysiert der österreichische Militärhistoriker.
Dabei konnte die russische Seite weitere Geländegewinne um das Dorf Krasnohorivka, nördlich der Eisenbahnlinie Pokrowsk – Horliwka in Richtung des von der ukrainischen Armee gehaltenen Dorfes Novokalynove erzielen. Auch westlich von Krasnohorivka konnten einige Felder erobert werden. Ziel der russischen Führung ist es, die Flanken für einen Angriff auf die Kokerei AKHZ zu sichern, um mögliche ukrainische Gegenangriffe abwehren zu können.
Westlich von Awdijiwka konnten sich russische Truppen südlich des Dorfes Sjeverne festsetzen und ein weiteres Feld erobern. Sjeverne liegt nur etwa zwei Kilometer von der oben erwähnten O0542 entfernt, der einzigen verbliebenen befestigten Straße nach Awdijiwka. An der engsten Stelle ist der Halbkessel nur noch 6,5 Kilometer breit.
In Awdijiwka soll auch eine Parallelentwicklung der erfolgreichen Lancet-Drohne, die Scalpel, eingesetzt werden. Die neue Kamikaze-Drohne sieht aus wie eine Kopie der Lancet, soll aber wesentlich günstiger in der Herstellung sein.
Der Herstellungspreis der Lancet wird auf Wikipedia mit ca. 35.000 US-Dollar angegeben. Entwickelt und hergestellt vom Vostok Design Bureau kann die neue Scalpel-Drohne wie die Lancet einen 5 Kilogramm schweren Gefechtskopf ins Ziel bringen. Bei einer Marschgeschwindigkeit von 120 km/h hat sie eine maximale Reichweite von 40 Kilometern.
Sie soll sich seit Oktober in der Serienproduktion befinden. Da die Lancet extrem schwer zu entdecken und zu bekämpfen ist, stellt sie die ukrainischen Streitkräfte vor große Probleme. Erst kürzlich berichtete die ukrainische Online-Zeitung The Kyiv Independent über die russische Kamikaze-Drohne als herausragende Waffe im fortdauernden Ukraine-Krieg:
In vielen der russischen Videos sticht ein Urheber hervor, der für Dutzende von bestätigten Treffern auf ukrainisches Gerät verantwortlich ist: die Kamikaze-Drohne Lancet, hergestellt von der ZALA Aero Group, einer Tochtergesellschaft des russischen Waffenriesen Kalaschnikow- Konzerns.
Welche Auswirkungen die neue Scalpel-Drohne auf das Frontgeschehen haben wird und wie hoch ihre Produktionszahlen sind, bleibt abzuwarten.
Russische Herbstoffensive
Aufgrund des Ausmaßes der russischen Militäroperationen in der Ostukraine kann insgesamt von einer russischen Herbstoffensive gesprochen werden. Denn Russland geht nicht nur im Raum Awdijiwka in die Offensive, sondern ist derzeit z. B. auch im Raum Bachmut in der Lage, Gelände zurückzugewinnen, hier nördlich von Bachmut beim Reservoir Berchiwka und bei Orikhovo-Vasylivka. Südlich von Bachmut gelang dies auch bei Klischtschijiwka und Andriivka.
Die schwierige Lage der ukrainischen Streitkräfte zeigt sich laut dem prorussischen Youtube-Kanal Military Summary Channel exemplarisch im Raum Welyka Nowosilka. Dort waren im Rahmen der gescheiterten ukrainischen Sommeroffensive mehrere Dörfer eingenommen worden. Nun aber, so der zitierte Youtube-Kanal, seien bei Welyka Nowosilka mehrere Brigaden abgezogen worden, die Mechanisierten Brigaden in Richtung Awdijiwka und die Marinebrigaden in Richtung Cherson. Dies hinterlässt einen äußerst verwundbaren Frontabschnitt mit wenigen Kräften, der für russische Vorstöße anfällig ist.
Ukrainische Brückenköpfe bei Cherson
Demgegenüber gelingt es der ukrainischen Armee seit Wochen, einen Brückenkopf bei Cherson am linken Dnipro-Ufer (Ostufer) zu halten. Nachdem es den ukrainischen Streitkräften schon seit Längerem gelungen war, die Flussinseln zwischen dem Dnipro-Mündungsarm Konka und dem Hauptfluss zu besetzen, konnten sie jetzt an mehreren Stellen den Dnipro vollständig überqueren, so nördlich des Dorfes Pidstepne auf dem Gelände eines Solarkraftwerkes, im westlichen Teil des Dorfes Kosatschi Laheri und im westlichen Teil des Dorfes Krynky.
Bemerkenswert ist die angewandte Taktik – hier schreibt die ukrainische Armee Militärgeschichte: In den dünn besiedelten Flussniederungen setzen die ukrainischen Streitkräfte mit kleinen Stoßtrupps in sehr kleinen Booten über den Fluss. Die Gesamtzahl der ukrainischen Streitkräfte, die derzeit auf der russisch besetzten Seite des Flusses gelandet sind, dürfte eine niedrige vierstellige Zahl nicht überschreiten, wahrscheinlich sind sogar weniger als 1.000 ukrainische Soldaten übergesetzt.
Was diesen Brückenkopf so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass es historisch wahrscheinlich der erste Brückenkopf ist, der nur mithilfe von Flugdrohnen (FPV-Drohnen) gehalten wird.
Seit Wochen gelingt es der Ukraine hier, die starken russischen Störsender der elektronischen Kampfführung zu neutralisieren und massiv FPV-Flugdrohnen gegen gepanzerte Fahrzeuge und Truppenmassierungen der russischen Armee einzusetzen.
In den ukrainischen Telegram-Kanälen werden zahlreiche Drohnenvideos veröffentlicht, die die Zerstörung russischer Truppen zeigen. Inzwischen ist es den Ukrainern auch gelungen, eine kleine Anzahl leichter gepanzerter Fahrzeuge und Feldgeschütze überzusetzen.
Der strategische Erfolg des Brückenkopfes bleibt jedoch fraglich, da es zwei gravierende limitierende Faktoren gibt.
Erstens ist es für die ukrainische Armee schwierig, eine stabile Logistik über den Dnipro aufzubauen – deswegen hat die russische Armee Cherson aufgegeben und sich auf das Ostufer des Flusses zurückgezogen.
Zweitens ist das Ostufer des Dnipro nicht die erste russische Verteidigungslinie, sondern nur das Vorfeld. Die tief gestaffelten und für die ukrainischen Streitkräfte während der gescheiterten Sommeroffensive unüberwindbaren Verteidigungsstellungen beginnen erst einige Kilometer weiter südlich.
Derweil beginnt die für den Winter befürchtete strategische Luftkampagne der russischen Streitkräfte, am 11. November waren sechs Oblaste betroffen, Tausende Menschen ohne Strom.
Schlechte Nachrichten für die Ukraine kommen auch aus Brüssel: Laut dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der EU-Kommission, Josep Borell, wird die US-Waffenhilfe für die Ukraine wahrscheinlich zurückgefahren. Die EU solle den politischen Willen aufbringen, die Waffenlieferungen fortzusetzen.
Tatsächlich sind die US-Waffenlieferungen bereits zurückgegangen. Dagegen will die Ampelkoalition die deutsche Militärhilfe für die Ukraine im nächsten Jahr auf acht Milliarden verdoppeln.
Ausblick und Kommentar
Die Lage für die ukrainischen Verteidiger wird immer schwieriger. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Bundesregierung zu ihren Zusagen steht und weiterhin wertvolle Rüstungsgüter an eine unterlegene Kriegspartei liefert. Die versprochenen Waffen sind nicht nur teuer, sondern auch schwer zu ersetzen.
Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, hat die deutsche Rüstungsindustrie ihre Produktion nicht wesentlich gesteigert. Wenn Deutschland weiter auf strategische Rüstungsgüter verzichtet, wird es immer schwieriger, den eigentlichen Kernauftrag der Bundeswehr glaubwürdig zu erfüllen: Die Abschreckung potenzieller Angreifer.
Militärisch nicht nachvollziehbar wird stattdessen seit letztem Jahr die NATO-Waffenhilfe an die Ukraine in der Weise geleistet, dass Waffen in nicht ausreichender Zahl und zudem über lange Zeiträume gestreckt in die Ukraine gelangen. So können diese Waffen von einer inzwischen gut organisierten und ausgerüsteten russischen Armee sukzessive vernichtet werden.
Damit wird nicht nur der Krieg verlängert und die Ukraine ausgeblutet, sondern auch die Arsenale der Bundeswehr und anderer europäischer Staaten in militärisch unverantwortlicher Weise geleert. Und seit Beginn des Krieges setzt die Bundesregierung voll auf Konfrontation statt auf Verhandlung.
Die hier zusammengestellten Informationen speisen sich aus folgenden OSINT-Quellen: Weeb Union, Military Summary Channel, Suriyakmap, Deepstatemap, Red Fish Bubble 2.1 (geschlossene Gruppe)
Anmerkungen der Redaktion: In einer älteren Fassung des Artikels wurde ein Video angeführt, dass ukrainische Soldaten zeigen soll. Im Beitrag hieß es:
Die Lage der ukrainischen Armee scheint äußerst angespannt zu sein. Soldaten der 110. Mechanisierten Brigade haben einen dramatischen Video-Appell an den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, gerichtet:
Oberbefehlshaber. Herr Präsident, wir sind keine Verräter oder Deserteure, aber unter den Bedingungen, die wir auf unserer Station vorfinden, sind wir nicht in der Lage, unsere Aufgaben zu erfüllen. Warum ist das so?
Lassen Sie mich das erklären: Wir werden jeden Tag zur Erstürmung von TERRICON (Schlackehalde der AKHZ-Kokerei) geschickt, unser Befehlshaber ist nicht in der Lage, uns mit der erforderlichen Menge an Munition zu versorgen. Jeden Tag sterben Dutzende von Soldaten bei sinnlosen Angriffen, weil die Sturmtrupps nicht ausreichend durch Artillerie unterstützt werden. Die gesamte Umgebung wird beschossen, Dutzende, vielleicht Hunderte von Leichen unserer Kameraden liegen herum, die niemand abtransportiert.
Das Kommando kümmert sich nicht darum, niemand kümmert sich um dieses Problem, außerdem, bitte erklären Sie uns, einfache Leute, wie es dazu kam, dass nachts, heimlich vom Personal, der gesamte Stab unseres Kommandos aus der Stadt evakuiert wurde. Wir bitten Sie, in dieser Situation zu intervenieren".
Sollten sich die Meldungen über den Rückzug der Stäbe aus der Stadt bewahrheiten, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der einfachen Soldaten, die die Stadt noch verteidigen.
Die betreffende Einheit hat sich allerdings auf Facebook von diesem Video distanziert und es als Fake bezeichnet. Jammern sei eine Eigenschaft der Russen und nicht der Ukrainer, heißt es dazu auf Facebook.
In der Vergangenheit gab es schon eine Vielzahl ähnlicher Videos, was für seine Authentizität sprach. Letztlich lässt sie sich aber weder bestätigen noch ausschließen. Deshalb haben wir die betreffende Textstelle aus dem Artikel entfernt.