Russland: Angriffe auf liberales Abtreibungsrecht

Seite 2: Bevölkerungsrückgang in Russland heizt Debatte über Abtreibungen an

Hier versuchte die russische Regierung in früheren Jahren zunächst nur mit besseren Sozialleistungen für Kinder gegenzusteuern, etwa einem Mutterschaftsbonus bei Geburt. Nun ist allerdings auch die Zuwanderung vor allem aus Mittelasien zurückgegangen, die die geringe Geburtenquote lange Zeit ausgeglichen hat. Das ist eine direkte Folge des Krieges und verstärkt das Problem der sinkenden Gesamtbevölkerung Russlands.

Eine aktive Kämpferin gegen die Abtreibung ist die Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Familien, Frauen und Kinder, Jelena Misulina, die der Regierungspartei "Einiges Russland" angehört. Misulina ist auch für erhebliche Einschränkungen der Arbeit von LGBTQ-Organisationen in Russland verantwortlich. Sie fordert etwa für Abtreibungen eine schriftliche Einverständniserklärung des Ehemanns – eine Position, die auch die russisch-orthodoxe Kirche vertritt.

Die Geistlichen gehen aber noch weiter. Patriarch Kyrill will die Abtreibung aus dem Leistungskatalog der russischen Krankenversicherung streichen lassen und den beliebten Privatkliniken als Alternative die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen untersagen.

Der Verkauf von Verhütungsmitteln im Einzelhandel soll nach dem Willen der Kirche verboten werden. Eine erste Gesetzesinitiative, Abtreibungen nicht mehr staatlich zu finanzieren, scheiterte 2015 am Widerstand des Gesundheitsministeriums. Das Ministerium gab zu bedenken, dass es bei weiteren Einschränkungen zwangsläufig zu einem Anstieg gefährlicher illegaler Abtreibungen kommen könnte.

Wissenschaftlerin: Zahl der Abtreibungen rückläufig

So findet mit der konservativen Offensive in Russland ein Kampf gegen das Abtreibungsrecht in einer Zeit statt, "in der die Zahl der Abtreibungen von selbst zurückgeht", wie Meduza unter Berufung auf die Anthropologin Michele Rivkin-Fish schreibt. Zusätzlich lässt dieser Kampf der Konservativen historische Lehren aus der russischen Geschichte einfach außer Acht – dass weniger Verhütung und Kriminalisierung der Abtreibung zu mehr illegalen Abbrüchen mit hohen gesundheitlichen Risiken führt.

Ähnlich wie der Krieg gegen die Ukraine bleibt der harte Kurs im liberalen, urbanen Teil der russischen Bevölkerung nicht ohne Widerstand. So kam es im Januar in der westsibirischen Metropole Tscheljabinsk zu einer Kundgebung von Feministinnen gegen ein Abtreibungsverbot. An der wichtigsten Flaniermeile wurde ein Banner mit der Parole "Ein Abtreibungsverbot ist Mord an Frauen" aufgespannt.

Auch über die rigide Abtreibungspolitik in Teilen der USA oder in Polen und etwa den folgenden "Abtreibungstourismus" gibt es in russischen Zeitungen noch sehr offene, kritische Berichte. Diese erscheinen in einer Zeit großer Repressionen gegen die Presse nicht ohne Hintergedanken: Kritik an westlichen Zuständen ist immer erlaubt.

Es ist möglich, dass solcher Widerstand und die mehrheitliche Einstellung der russischen Bevölkerung den konservativen Kurs zumindest in diesem frauenpolitischen Bereich bremsen. Solcher Widerstand hat in Russland bis heute immer dann einen besseren Stand, wenn er sich auf sowjetische Traditionen berufen kann.

Denn in der "russischen Welt" schwingt unterschwellig immer auch eine Portion Sowjetnostalgie mit. Schlechter stehen die Zeichen bei frauenpolitischen Themen ohne eine solche Tradition, denn der westlich geprägte Feminismus zählt zu den eindeutigen Feindbildern bei Russlands regierenden Konservativen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.