Russland: Prominenter linker Vordenker Boris Kagarlizky verhaftet

Xenia Kagarlizkaja, Boris Kagarlizky, Katze. Bild: privat

Boris Kagarlizky gilt als einer der bekanntesten linken Analysten Russlands. Nun steht er wegen "Rechtfertigung von Terrorismus" vor Gericht. Was es mit dem Fall auf sich und was er über den Rechtsstaat in Russland aussagt

Die russischen Strafverfolgungsbehörden werden dem international bekannten russischen Soziologen Boris Kagarlizky vor, im Internet zu "Terrorismus" aufgerufen zu haben. Der 64-Jährige wurde nach Medienberichten am Mittwoch festgenommen.

Sein Mandant weise den Vorwurf zurück, erklärte sein Anwalt gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Tass und Exilmedien. Sollte er verurteilt werden, drohen dem Soziologen bis zu sieben Jahre Haft.

Kagarlizky genießt in Russland und im Ausland hohes Ansehen. Wer einen sachkundigen und kritischen Blick auf die russische Gesellschaft und Politik brauchte, war beim Soziologen und Chefredakteur des Online-Magazins Rabkor immer an der richtigen Adresse.

Anders als manch liberaler russischer Intellektueller wahrte er als Linker jedoch stets kritische Distanz zum interessengeleiteten Vorgehen der Nato und des Westens. Den Euromaidan in Kiew kritisierte er ebenso scharf wie die russische Verfassungsreform im Sinne Putins.

Wegen seiner Zusammenarbeit mit der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde Kagarlizky im Mai 2022 in Russland als "ausländischer Vertreter" zwangsregistriert.

Anklage wegen "Rechtfertigung von Terrorismus

Vorgestern wurde der 64-Jährige wegen angeblicher "Rechtfertigung von Terrorismus" festgenommen und in die russische Provinz überstellt. Dort erwartet ihn eine längere Haft. Hintergrund der Anklage sind nach Angaben von Kagarlizkys Anwalt und nach Einschätzung exilrussischer Medien Äußerungen Kagarlizkys zum ukrainischen Anschlag auf die Krim-Brücke. Dies nahm die Moscow Times zum Anlass, seine Gedanken dazu aus seinem Telegram-Kanal abzudrucken.

Tatsächlich rechtfertigt Kagarlizky darin nicht den Anschlag, sondern kritisiert gängige Korruptionspraktiken bei staatlich beauftragten russischen Großprojekten, die auch bei der Reparatur der Krimbrücke wieder zum Tragen kommen dürften.

Seit ihrer Eröffnung ist die Krimbrücke nicht nur ein strategisches, sondern auch ein symbolisches Bauwerk. Sie ist eine wichtige Errungenschaft der Ära Putin und ein materieller Beweis dafür, dass diese in unserem Land, trotz Diebstahl und Ineffizienz, weiter funktioniert. Wenn man 400 bis 500 % der technisch nötigen Mittel investiert, gibt es durchaus praktische Ergebnisse. Sie wurde jetzt außer Betrieb genommen und eine Kommission zur Ursachen- und Folgenabwägung des ‚Vorfalls’ gebildet. Ich zweifle nicht daran, dass bereits der Mitteleinsatz für die Renovierungsarbeiten geschätzt wird und potentielle Auftragnehmer Koffer mit Geld vorbereiten, die zu bestimmten Büros gebracht werden müssen, um einen guten Auftrag zu bekommen.

Boris Kagarlizky in Telegram

Kagarlizkys Anwalt bestreitet laut dem in Berlin ansässigen exilrussischen Onlineportal Echo FM jede Rechtfertigung von Terrorismus durch seinen Mandanten. Dieser versuche nur "die Probleme zu benennen, mit denen die russische Gesellschaft konfrontiert ist".

"Jeder, der über eigene Medien verfügt" sei gefährdet

Kagarlizkys Familie erfuhr nach Auskunft seiner Tochter Xenia Kagarlizkaja gegenüber der Onlinezeitung Meduza aus den Nachrichten von der Festnahme. Die Vorwürfe gegen ihren Vater von Seiten der Behörden seien noch nicht ganz klar, sagt diese aus.

Allgemein ist jeder, der über eigene Medien verfügt und sich nach Anfang 2022 weiter in Russland aufhält, gefährdet. Wo es einen Willen gibt, gibt es einen Fall. Sie können alles konstruieren, sich Vorschriften einfallen lassen und jeden Beitrag auf sie beziehen. Es ist an sich egal, welcher Beitrag es war und was für ein Ziel er hatte.

Xenia Kagarlizkaja gegenüber Meduza

Kagarlizky saß bereits zu Sowjetzeiten aus politischen Gründen im Gefängnis und galt auch in den 1990er Jahren als scharfer linker Kritiker der marktradikalen Regierung unter Boris Jelzin. Wie schon zu Sowjetzeiten ist er auch nach Kriegsausbruch nicht ins Ausland emigriert, so seine Tochter, die für diese Haltung Verständnis zeigte.

Nawalny kehrte nach Russland zurück, wo alles sehr ernst war und er nichts Gutes zu erwarten hatte. Er glaubte jedoch, dass ein russischer Politiker in Russland sein sollte. Ich weiß nicht, ob dieser Vergleich passt, aber bei uns ist es ähnlich. Wenn Du in Russland politisch engagiert bist – nicht einmal praktisch, sondern auch in der Analyse - musst Du im Land sein, um auch im Thema zu sein.

Xenia Kagarlizkaja

Kagarlizky lehrte zuletzt an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Seine Verhaftung zeigt sehr deutlich, dass sich der Korridor der "erlaubten Meinungen", die von den russischen Behörden geduldet werden, seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine auch in Russland stark verengt hat.

Mit Repressionen muss nicht nur rechnen, wer sich im weitesten Sinne "prowestlich" äußert oder die eigene Obrigkeit generell in Frage stellt. Jede unbequeme Kritik kann nun eine Inhaftierung bedeuten – egal aus welcher politischen Richtung sie kommt.

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