Russland: Störaktionen von Kriegsgegnern am Siegestag
Das wichtige Datum des 9. Mai haben russische Antikriegsaktivisten mit hohem persönlichen Risiko für effektvolle Aktionen gegen den Ukraine-Krieg genutzt
Regierungsnahe Zeitung von eigenen Redakteuren gekapert
Leser der russischen Onlinezeitung lenta.ru staunten am Sonntag und Montag nicht schlecht, als ihnen aus ihrer Zeitung Schlagzeilen entgegen prangten wie "Putin hat einen der blutigsten Kriege des 21. Jahrhunderts entfesselt", "Russlands Offizielle verbieten Journalisten jede negative Berichterstattung" oder "Der Krieg erleichtert es, das wirtschaftliche Scheitern zu vertuschen".
Für viele Beobachter waren solche Überschriften eines russischen Mediums, tatsächlich gefolgt von passenden journalistischen Artikel, eine Sensation – und sie verbreiteten sich schnell im Sozialen Netzwerk Telegram.
Die Zeitung ist seit 2014 eigentlich als regierungsnah bekannt. Damals wurde die liberale Chefredakteurin Galina Timtschenko durch den linientreuen Journalisten Alexej Goreslawsky ersetzt. Timtschenko emigrierte mit einigen Getreuen und gründete damals in Lettland das Nachfolgeprojekt Meduza. Lenta.ru berichtet seitdem aus Moskau kaum noch regierungskritisch, nach Beginn der Militärzensur im Februar hielt sie sich streng an die Vorgaben aus dem Kreml.
Alle Artikel der neuen, plötzlich aufmüpfigen Linie, laut Meduza waren es 20 an der Zahl, waren mit einem Vermerk versehen:
Dieses Material ist nicht mit dem Management abgestimmt. Für seine Veröffentlichung wird die Präsidialverwaltung Sterne an dieses Magazin verteilen: Oder um es anders auszudrücken: Machen Sie schnell ein Bildschirmfoto, bevor es gelöscht wird.
Disclaimer bei lenta.ru laut Meduza
Dieses Material ist nicht mit dem Management abgestimmt. Für seine Veröffentlichung wird die Präsidialverwaltung Sterne an dieses Magazin verteilen: Oder um es anders auszudrücken: Machen Sie schnell ein Bildschirmfoto, bevor es gelöscht wird.
Disclaimer bei lenta.ru laut Meduza
Insider-Infos aus regierungsnahen Medien
Im Laufe des 9. Mai verschwanden die kritischen Meldungen spurlos und wurden wieder durch die übliche, linientreue Lenta-Berichterstattung ersetzt. Noch bevor sich das Gerücht über einen Hacking-Angriff von außen richtig verbreiten konnte, enttarnten sich gemäß der Onlinezeitung Media.Zona die Autoren und Urheber der Aktion selbst – zwei namentlich bekannte Redakteure der Lenta-Wirtschaftsredaktion.
Der Inhalt einiger Meldungen hatte es in sich, da sie Insider-Informationen aus dem kremlnahen Blatt enthielten. So seien aktuell "Journalisten aus kontrollierten Medien" gezwungen, Wörter und Sätze zu vermeiden, die soziale Unruhen verursachen oder bestimmte Sachen in einem negativen Licht erscheinen lassen.
Etwa der aktuelle Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts müsse zwingend als "negatives Wachstum" bezeichnet werden, Entlassungen in russischen Medien aufgrund des Krieges seien als "Freistellungen von der Arbeit" zu bezeichnen.
Über die Konsequenzen ihres Handelns sind sich beide Journalisten wohl bewusst, da sie in einer Meldung die Suche einer neuen Arbeit und "wahrscheinlich von politischem Asyl" ankündigten, aber auch feststellten, dass sie mit ihrer Meinung nicht alleine, sondern viele an der Zahl seien.
Die Texte hatten sie an der Selbstzensur des Blattes vorbei geschmuggelt, indem sie bereits veröffentlichte Artikel textlich ersetzten. Laut Meduza setzten sich die beiden Journalisten zwischenzeitlich aus Russland ab und sind vor dem Zugriff der russischen Strafverfolgung in Sicherheit.
Antikriegsbotschaften in Smart-TVs
Neben der Aktion bei Lenta gab es in Russland weitere Antikriegsproteste. In Novosibirsk wurde ein Weltkriegspanzer mit der Aufschrift "nach Butscha" und einem aus Z-Symbolen stilisierten Hakenkreuz verziert, einer Anspielung auf die Losung "nach Berlin" der Roten Armee und dem Ort mutmaßlicher russischer Kriegsverbrechen bei Kiew vor einigen Wochen. Das Z-Symbol wird sonst in Russland von Kriegsbefürwortern quasi als Merchandisingsymbol genutzt.
In der Nacht vom 8. auf dem 9. Mai tauchte bei Smart-TVs in den Beschreibungen zahlreicher russischer TV-Kanäle eine Antikriegsinschrift auf. Ursache ist ein Hacking-Angriff, dessen Ursprung jedoch auch im Ausland liegen könnte – womit unklar ist, ob es sich um russischen Widerstand handelt.
Regierung instrumentalisiert Weltkriegsgedenken
Währenddessen beabsichtigte die Regierung, über das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg auch eine neue Patriotismuswelle für den aktuellen Krieg in der Ukraine zu wecken. Ein Element dabei ist der Brauch des "Ewigen Regiments", Umzüge, bei denen mit Portraits von Gefallenen aus dem Zweiten Weltkrieg die Erinnerung an sie gelebt wird. Ursprünglich handelt es sich hierbei um eine unabhängig von der Regierung entstandene Gedenkaktion, die nichts mit Kreml-Nähe zu tun hat.
In diesem Jahr wurde allerdings von offizieller Seite versucht, mit dem "Ewigen Regiment" eine Parallele zwischen dem Weltkrieg und dem Ukraine-Krieg herzustellen. Portraits von russischen Gefallenen in der Ukraine wurden etwa bei Putins Teilnahme demonstrativ gezeigt. Auch nach der Prozession traf sich Russlands Präsident mit dem Vater eines Gefallenen der separatistischen Donbass-Rebellen und stellte seinen Krieg als alternativlos dar.
Einige andere am Siegestag zur Steigerung des Patriotismus gestartete Aktionen wirken auf mitteleuropäische Betrachter angesichts des aktuellen, realen Krieges mit russischer Beteiligung etwas obskur. So durften Kinder im Vorschulalter als Panzer und Kampfpiloten verkleidet an regionalen Umzügen in mehreren russischen Städten teilnehmen.
Regierungskritische Russen schmuggeln Kritik ein oder bleiben fern
Einzelne Antikriegsaktivisten nutzten derartige Umzüge ebenfalls, um Plakate gegen den Militäreinsatz vor Ort eingeschmuggelt zu zeigen. Die 76-jährige Künstlerin Elena Osipowa wurde in Sankt Petersburg von Unbekannten angegriffen, als sie mit einem derartigen Plakat unterwegs zum Umzug des "Ewigen Regiments" war. Die rüstige Dame ist als Ikone der Antikriegsbewegung russlandweit bekannt, da sie trotz mehrerer Festnahmen am Straßenwiderstand gegen den Ukraine-Krieg unbeirrt festhält.
Dass auf den Umzügen gegen die Invasion Stellung bezogen wurde, ist jedoch in der Masse der Kriegskritiker eher eine Ausnahme. Während das "Ewige Regiment" ansonsten gerade bei jüngeren Russen beliebt ist, blieben viele regierungskritische Vertreter der urbanen Jugend in diesem Jahr den Umzügen einfach fern, da sie es in Kriegszeiten als unpassend empfanden.