Russland: Wie man eine Front (nicht) aufbricht
Solidarität unter Kriegsgegnern muss auch für Russen gelten, die sich aus der Front der Kriegsunterstützer lösen – und dafür nicht immer geachtet werden. Ein Kommentar
In einer überaus mutigen Aktion hat am 14. März die russische Journalistin Marina Owsjannikowa in den Abendnachrichten des größten russischen TV-Staatssenders als Einzeldemonstrantin gegen den Krieg in der Ukraine protestiert. Natürlich war eine Folge der Tat, die ihr potenziell bis zu 15 Jahre Haft hätte einbringen können, der Verlust ihres Arbeitsplatzes.
Das animierte den deutschen Axel-Springer-Verlag, Owsjannikowa einen Job anzubieten – sicher nicht ohne eigene propagandistische Hintergedanken. Gegen die Einstellung der Russin bei einem deutschen Medium fand jedoch einige Tage später in Berlin eine Demonstration statt – unter dem Motto "Ex-Propaganda gibt es nicht". Die Demo war von Menschen aus der ukrainischen Community vor Ort organisiert worden.
Ein Solidaritätskonzert mit der Ukraine, organisiert von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), rief Ende März ähnliche Reaktionen hervor. Weil unter anderem russische Musiker, die sich damit gegen den Krieg positionierten, dort auftraten, blieb der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk dem Konzert demonstrativ fern – unter dem persönlichen Motto "Kein Bock auf russische Kultur".
Nichteinverstandene Russen gibt es zahlreich
Warum kann Wladimir Putin seinen Angriffskrieg in der Ukraine momentan führen? Weil er dabei - nicht ohne propagandistische Beeinflussung und Druck - auf die Mehrheit der russischen Bevölkerung zählen kann und viele Nichteinverstandene in Russland es nicht wagen, offen zu rebellieren.
Welches Signal sendet man an diese Nichteinverstandenen, wenn man denen, die diesen Mut haben und sich öffentlich gegen den Krieg positionieren, mit einem Stigma versieht, weil sie Russen sind oder vor ihrer Heldentat gar "für die dunkle Seite" gearbeitet haben?
Und das, obwohl sie großen Mut und Zivilcourage mit ihrem öffentlichen Auftreten beweisen. Animiert solches Verhalten weitere russische Kriegsgegner, unter großem persönlichem Risiko gegen den Krieg ihrer Regierung öffentlich aufzustehen und damit die russische Kriegsfront aufzubrechen? Mit Sicherheit nicht.
Dabei gibt es genug Indizien dafür, wie groß die Menge dieser Nichteinverstandenen gerade unter Russlands Intellektuellen ist. Große russische Antikriegsaufrufe, solange sie noch möglich waren, brachten vor Ort nach der Invasion ein riesiges Echo unter Akademikern bis in regierungsnahe Kreise.
Der frühere leitende Nahost-Korrespondent der russischen Nachrichtenagentur Tass, Ruslan Suleimanov, der selbst aus Protest gegen den Krieg beim russischen Staat kündigte, erklärte gegenüber der Münchner Abendzeitung, dass viele selbst in den Staatsmedien mit dem Regierungskurs nicht einverstanden seien und nur aus wirtschaftlichen Zwängen weiter dort arbeiteten.
Eine Front aktiv aufzubrechen, erfordert Taten
Was im Hinterland gilt, gilt an der Front in der Ukraine noch mehr. Selbst unter den Augenzeugenberichten aus Butscha gibt es nicht nur die Schilderung russischer Gräueltaten, sondern auch Berichte über russische Soldaten, die Anwohner schützten oder ihre fehlende Motivation für den Krieg zum Ausdruck brachten.
Gerade in Zeiten fehlender Durchbrüche der russischen Offensiven müsste es ein Leichtes sein, tatsächlich demotivierte Soldaten aus der Front zu lösen und damit Putins Angriffskrieg zu schwächen. Zu Beginn des Krieges gab es Überlegungen in der Ukraine, solches Verhalten durch Straffreiheit und Geldprämien zu unterstützen. Die deutsche Linkspartei nahm das damals zum Anlass, für desertierende russische Soldaten ein Recht auf Asyl zu fordern, da ihnen ja tatsächlich bei einer Rückkehr ins Heimatland politische Verfolgung drohe. Gekommen ist es anders:
In der Ukraine kam zu massiven Misshandlungen russischer Kriegsgefangener, die natürlich in Russland von den Kreml-Medien ausführlich thematisiert wurden. Solche Kriegsverbrechen aus pauschalem Hass gegen Russen halten wirkungsvoll auch demotivierte russische Soldaten davon ab, sich aus den Reihen der angreifenden Armee zu lösen.
Nicht nur bereits verfolgte Russen sollen auswandern können
Es ist emotional verständlich, dass die Ukrainer als Angegriffene Probleme haben, zwischen aktiven Kreml-Förderern und regierungskritischen Russen zu unterscheiden. Doch gerade in einem Volk wie dem deutschen, das mit der These einer Kollektivschuld umfangreiche Erfahrungen sammeln durfte, sollte hier das Bewusstsein ein anderes sein.
Manchmal dringt ein solch anderes Bewusstsein sogar bis in höhere Politikkreise durch. Etwa wenn Bundesinnenministerium Nancy Faeser (SPD) fordert, politisch Verfolgte auch aus Russland in Deutschland besser zu schützen und ein Aufnahmeprogramm für russische Deserteure zu starten.
Dem ließe sich noch hinzufügen, warum nur für bereits Verfolgte oder solche, die die russischen Truppen bereits verlassen haben? Ließe sich die russische Front, die den Angriffskrieg trägt, nicht viel wirkungsvoller aufbrechen, wenn man allgemein den Nichteinverstandenen vor Ort bessere Angebote für eine Auswanderung in den Westen macht?
Denn ohne Nachweis einer bereits erfolgten Inhaftierung ist der Weg in den Schengener Raum für Russen aktuell sehr hart und bürokratisch. Visa für eine dauerhafte Ausreise werden nur unter sehr strengen Auflagen erteilt, während ukrainische Flüchtlinge ganz ohne ein solches nach Deutschland einreisen können.
Zugleich ist es wichtig, bei den hier schon angekommenen und auch mutigen Widerständlern in Russland immer deutlich und auch offiziell zum Ausdruck zu bringen, dass sie volle Unterstützung und Solidarität genießen. Eine Kollektivschuld von Russen nur aufgrund ihrer Nationalität darf nicht unterstellt werden. Denn Solidarität ist etwas, was nicht nur in Bezug auf die Ukrainer wichtig ist, sondern unter allen Gegnern eines Angriffskriegs - unabhängig von ihrer Nationalität.