Russland dominiert nach Charkiw-Offensive zunehmend die Gefechtsfelder in der Ukraine

Seite 2: Russische Rüstungsindustrie überrascht Experten

Zunehmend verwundert sind zudem Nato-Kreise über die Fähigkeit des russischen Militärs, seine Kampfkraft nicht nur zu erhalten, sondern diese noch auszubauen. In einem Beitrag des Fachmagazins Defence News zeigen sich westliche Experten überrascht über die Fähigkeiten der russischen Rüstungsindustrie:

"Sie schlagen sich besser, als wir gedacht hätten", sagte ein hochrangiger US- Verteidigungsbeamter gegenüber Defense News unter der Bedingung der Anonymität, um über sensible Informationen zu sprechen.

Als Cavoli im April dem Capitol Hill einen Besuch abstattete, hatte er seine eigene Liste mit Zahlen dabei: Russlands BIP wuchs 2023 um 3 %, trotz der Vorhersagen, dass es schrumpfen würde. Das Land kann jedes Jahr 1.200 Panzer beschaffen und mindestens 3 Millionen Artilleriegeschosse oder Raketen bauen. Und aufgrund eines Abkommens mit dem Iran plant Russland, bis zum nächsten Sommer 6.000 Drohnen vor Ort zu bauen.

In einem Bericht der Denkfabrik RUSI vom Februar, der von dem ungenannten hochrangigen US- Verteidigungsbeamten zitiert wurde, der es ablehnte, vollständige amerikanische Zahlen zu nennen, hieß es, dass Russland 3.000 gepanzerte Fahrzeuge pro Jahr herstellen kann und seinen Bestand an Präzisionsraketen aufgestockt hat.

Auch die Streitkräfte innerhalb der Ukraine sind gewachsen.

Ob Russland nun neue Panzer herstellt oder alte aufarbeitet, unter den Bedingungen eines Abnutzungskrieges sei das nicht so wichtig, zitiert das Portal Defence News im gleichen Artikel Tony Radakin, der militärische Befehlshaber der Streitkräfte des Vereinigten Königreichs:

Allerdings gehe es im Krieg in der Ukraine mehr um Abnutzung als um Präzision, sagte der Beamte. Mit anderen Worten: Es ist vielleicht nicht so wichtig, ob die russischen Soldaten einen 50 Jahre alten T-72-Panzer oder einen neuen Panzer benutzen.

Hier muss man vielleicht noch anmerken, dass ein mit den neuesten Kampfwertsteigerungen ausgerüsteter T-72 wahrscheinlich einem ukrainischen Abrams-Panzer überlegen ist.

Ukrainische Armee vor Personalproblemen: Befestigungsbau erschwert

Gleichzeitig gelingt es der Ukraine nicht, genug Soldaten zu mobilisieren. Der Guardian sieht dadurch auch die Gefahr, dass die Ukraine nicht ausreichend Befestigungen bauen kann:

Der Analyst argumentierte, dass die Ukraine "ein riesiges Gebiet verteidigen muss, aber mit Personalproblemen zu kämpfen hat" - was bedeutet, dass sie nicht in der Lage ist, entlang der gesamten Nordgrenze Befestigungen nach russischem Vorbild zu errichten.

Doch ohne den Bau ausreichender Befestigungen wird es für die ausgeblutete ukrainische Armee immer schwieriger, die Front zu halten. Angesichts der wachsenden russischen Luftüberlegenheit wäre dies selbst mit perfekt ausgebauten Verteidigungsanlagen nicht ohne Weiteres möglich. Russischen Kampfflugzeugen gelingt es zunehmend, gehärtete Frontelemente systematisch zu zerstören.

Russische Luftüberlegenheit: Gezielte Zerstörung ukrainischer Verteidigungsanlagen

Die New York Times beschreibt dieses Vorgehen der russischen Streitkräfte recht detailliert in einem neuen Artikel:

Die russische Offensive folgte einer Taktik, die die Ukrainer in den Städten Bakhmut und dann Avdiivka gesehen haben: Sie setzten Gleitbomben ein, Luftbomben, die bis zu anderthalb Tonnen wiegen und Betonbunker und mehrstöckige Gebäude durchschlagen können, um ein verheerendes Sperrfeuer auf die ukrainischen Stellungen zu werfen.

"Sie gingen Schritt für Schritt vor und nahmen eine Stellung nach der anderen ein", sagte Achilles. "Wo unsere Linien sehr stark befestigt waren, haben die Russen gelenkte Bomben eingesetzt und diese Stellungen einfach dem Erdboden gleichgemacht. Auf diese Weise näherten sie sich Chasiv Yar."

"Dies geschah, nachdem unsere Munition knapp wurde und unsere Artillerie nichts mehr zum Feuern hatte", fuhr er fort. Die Kanonen feuerten nur zwei Schuss pro Tag ab, obwohl sie mindestens 30 hätten abfeuern müssen, sagte er.

Auf einer Karte seines Handys zeigte er, wo russische Bomben drei ukrainische Verteidigungslinien zerstört hatten und über die Felder bis an den Stadtrand vorgedrungen waren.

Niemand konnte diesem Bombardement standhalten, und die ukrainischen Truppen erlitten Verluste und mussten sich zurückziehen, sagte er. Mit seinen Drohnen beobachteten Achilles und seine Teams, wie die russische Infanterie vorrückte und die ukrainischen Stellungen einnahm.

Auf diese Weise können die russischen Streitkräfte die ukrainische Armee langsam zerschlagen, ohne eine große personelle Überlegenheit an der Front erreichen zu müssen. Und ohne große eigene Verluste zu erleiden, denn die russische Führung ist mit dem Einsatz ihrer überlegenen Abstandswaffen derzeit sehr erfolgreich. So erfolgreich, dass selbst der Focus dies teilweise einräumen musste. Dort heißt es:

Ein für die Ukraine positiver Ausgang dieses Konflikts ist nicht mit militärischer Hilfe möglich. Und eine direkte militärische Intervention der USA riskiert eine nukleare Auseinandersetzung mit Russland.

Russlands mögliche Ausweitung der Kampfzone: Ukraine befürchtet Einsatz von 300.000 Soldaten

Der Artikel schließt mit der perfiden Idee eines Waffenstillstands, um sich in der Rüstungsindustrie auf einen großen Krieg mit Russland vorbereiten zu können.

Die angespannte Lage könnte sich für das ukrainische Militär noch verschärfen, wenn Russland weitere Angriffskorridore nördlich von Charkiw eröffnet. So befürchtet der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerov in einem Interview mit Reuters den Einsatz von nochmals bis zu 300.000 russischen Soldaten an neu zu eröffnenden Frontabschnitten.

Auch wenn diese Zahl zu hoch gegriffen sein mag, rechnen viele Beobachter mit einer Ausweitung der Kampfzone durch Russland, vermutlich in der Region Sumy – mit immer gravierenderen Folgen für die Lage der ukrainischen Armee.