Russlands Krieg gegen die Ukraine: Von Frieden und Mythen

Putin und Militärs, siegessicher. Bild: kremlin.ru

Appelle für Diplomatie bedeuten keine Parteinahme für Putin. Mit ihm an der Macht ist aber kein Kriegsende möglich. Eine Replik auf einen Gastbeitrag.

In einem Beitrag, der auch auf Telepolis erschien, rekonstruieren der Politologe Hajo Funke und General a.D. Harald Kujat ihre Sicht der Ereignisse, die zum Scheitern der Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine in der Anfangsphase des Krieges geführt haben sollen.

Angesichts der Befürchtungen einer Pattsituation zwischen der russischen und ukrainischen Armee und einer möglichen neuen Eskalation des Krieges sehen die Autoren eine Chance für eine friedliche Lösung durch Verhandlungen.

Dieser Text erschien zuerst bei unserem Partnermedium Berliner Zeitung. Die Vollversion mit zusätzlichen Einschätzungen finden sie hier. Darin dann auch: "Wladimir Putins idealistische Selbstverblendung"; "Interessengeleiteter Pragmatismus statt selbstgerechter Scheinfriedenspolitik"; "Die 'objektiven Interessen' Russlands sind in Wahrheit kaum greifbar"; "Frieden ist niemals alternativlos".

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat einen neuen Geist der Solidarität im Westen geweckt und den naiven "sanften Optimismus der Post-Kalter-Kriegsjahre" endgültig vertrieben. Aktuell aber macht sich im Westen eine zunehmende Kriegsmüdigkeit breit. Seit vielen Wochen hält in den westlichen Medien die Kritik an den angeblichen Misserfolgen der ukrainischen Gegenoffensive an.

Richtig ist dabei, dass die ukrainischen Militäroperationen bislang nicht zu durchschlagenden Erfolgen wie im Herbst 2022 führten und die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Pattsituation, wie unter anderem vom Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, gegenüber The Economist angedeutet, zunimmt.

Doch angesichts der deutlichen Erweiterung der Operationsfähigkeit ukrainischer Streitkräfte im Gebiet Cherson und in Richtung der Halbinsel Krim kann von einem klaren Misserfolg freilich keinesfalls die Rede sein.

Parallel zu zunehmend kritischeren Medienberichten werden auch die Unkenrufe derjenigen zunehmend lauter, die mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine die sogenannte Doppelmoral des Westens kritisieren, vor einer weiteren Eskalation des Krieges warnen, die Waffenlieferungen an die Ukraine verurteilen, einen verständnisvolleren Umgang mit Russland erwarten, die Akzeptanz "vitaler russischer Interessen" in der Ukraine einfordern sowie zu einer Aufhebung der Sanktionen drängen.

Den Höhepunkt derartiger Ausführungen bildet zumeist der Vorschlag einer gemeinsamen Suche nach einer politisch-diplomatischen Lösung, mit der auch Russland einverstanden sein könne; denn schließlich trage ja der Westen eine "Mitschuld" für das Ende der Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022. Doch woher stammt eigentlich dieser Vorwurf?

Was der israelische Ex-Ministerpräsident gesagt hat

Die Rede von einer "Mitschuld des Westens" für das Ende der Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 wurde durch die Worte des ehemaligen Premierministers Israels, Naftali Bennett, vom Februar 2023 befeuert.

In einem fünfstündigen Interview sprach Naftali Bennett unter anderem von seinen Vermittlungsbemühungen zwischen der Ukraine und Russland. Unmittelbar nach dem Erscheinen dieses Interviews behauptete Russlands Staatsmedium Sputnik, dass Bennett dem Westen eine "Blockade" des ausverhandelten Friedensabkommens vorwarf.

Alexander Dubowy ist Politikanalyst für Osteuropa und Rssland. Der promovierte Jurist studierte Rechtswissenschaften, Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Wien und Moskau.

Ausgehend von der Berichterstattung Sputniks entwickelte diese absurde These ein nicht mehr aufzuhaltendes Eigenleben. Dass es ein derartiges Abkommen niemals gab, und lediglich ein vorläufiger Diskussionsentwurf vorlag, der weiterer Abstimmungen bedurfte, wurde von Kritikern weitgehend ignoriert.

Bei genauer Betrachtung der Friedensverhandlungen fällt auf, dass die Frage der Neutralität der Ukraine sowie ein etwaiger Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft kein ernstzunehmendes Verhandlungshindernis darstellten.

Denn eine Aufnahme der Ukraine in die Nato wurde weder ernsthaft angestrebt noch jemals "geplant". Schließlich dürfen die über drei Jahrzehnte (!) verteilten, oftmals ihres Kontextes entkleideten Aussagen sowie die vorwiegend während protokollarischer Ereignisse getätigten symbol- doch nicht inhaltsträchtigen Ankündigungen einzelner Vertreter von Nato-Mitgliedstaaten keinesfalls als weitreichende Pläne für eine Erweiterung betrachtet werden.

Ein etwaiger Beitritt der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 zur Nato würde ohnehin am eindeutigen Unwillen Deutschlands, aber auch Frankreichs scheitern. Zugespitzt formuliert, steht die Ukraine heute einem Nato-Beitritt wesentlich näher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt vor dem 24. Februar 2022.

Der Hauptstreitpunkt bei den ukrainisch-russischen Verhandlungen bestand noch nicht einmal in der Frage der territorialen Integrität der Ukraine, sondern vielmehr in der konkreten Ausgestaltung der Sicherheitsgarantien.

Für Kiew sollten etwaige Sicherheitsvereinbarungen nicht in ein zweites zahn- und sinnloses "Budapester Memorandum" gipfeln.

Für Moskau hätten aber jedwede Sicherheitsgarantien vonseiten der Nato-Staaten gegenüber Kiew einen de facto Nato-Beitritt der Ukraine bedeutet. Gerade die Frage nach den Sicherheitsgarantien bildete in Wahrheit das schier unüberwindbare Hindernis auf dem Wege zum Frieden.

Wie Naftali Bennett seine falsch übersetzten Worte mehrfach richtigstellte, gab es zu keinem Zeitpunkt den Versuch einer Blockade der Friedensverhandlungen durch den Westen.

Schon gar nicht wurde ein "ausverhandeltes Abkommen" bewusst zum Scheitern gebracht. Denn nach Ansicht Bennetts war es alles andere als sicher, dass es zu einem derartigen Abkommen überhaupt kommt: "Es ist ungewiss, ob ein Abkommen zustande gekommen wäre. Zum damaligen Zeitpunkt gab ich dem Ganzen eine Chance von etwa 50 Prozent."

Vielmehr seien die Friedensverhandlungen nach Bekanntwerden der russischen Kriegsverbrechen in Butscha gescheitert, so Bennett.

Auch weist Bennett auf Twitter zu Recht darauf hin, dass ein Friedensabkommen zum damaligen Zeitpunkt für die weltpolitische Lage sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich gebracht hätte.

Selbstredend wurden die potenziellen Folgen der Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland mit Blick auf die Auswirkungen einer ausgebliebenen Bestrafung von Russlands Aggression für andere potenzielle globale Konfliktherde (z.B. Taiwan) auch in der Nato intensiv und kontrovers diskutiert.

Die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland wurden jedenfalls im Mai 2022 beendet. Wie Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik treffend zusammenfasst, waren für den Abbruch der Friedensverhandlungen mehrere Faktoren ausschlaggebend: die russischen Kriegsverbrechen in Butscha, die ersten substantiellen westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine im April 2022, der aus der Sicht der Ukraine günstige Kriegsverlauf und die damit einhergehende Überzeugung, Russland Einhalt gebieten zu können.

Putin hat kein Interesse an einer diplomatischen Lösung

So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach baldigem Frieden auch sein mag, gilt es auch für die deutschen Pazifisten am 633. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, nach den Untaten von Butscha, Kramatorsk, Mariupol, unzähligen zerstörten Orten der Ukraine und knapp 10.000 Opfern unter der Zivilbevölkerung die schlichte Wahrheit radikaler Erwartungen des Kremls ernst zu nehmen.

Nach fruchtlosen Friedensbemühungen und zahllosen enttäuschter Hoffnungen kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgehalten werden, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Anbeginn an keinerlei Interesse an einer ehrlichen diplomatischen Lösung hatte.

Vielmehr dienten die Verhandlungsgespräche Russland als ein diplomatisches Instrument zur Stärkung eigener Positionen gegenüber dem Westen, zur Unterstützung der eigenen Narrative sowie zur Begleitung der breitangelegten Desinformationskampagne im Westen.

Kein belastbares Indiz deutet auch nur ansatzweise darauf hin, dass Moskau das Maximalziel einer prorussischen Regierung in Kiew aufgegeben hat.

Bereits im Juli 2022 hat der russische Außenminister Sergej Lawrow im Rahmen der gemeinsamen Pressekonferenz mit den ständigen Vertretern bei der Arabischen Liga in Kairo erstmals öffentlich zugegeben, dass der Kreml die aktuelle politische Führung in Kiew stürzen und gegen ein prorussisches Marionettenregime austauschen möchte.

Vor wenigen Tagen schrieb der ehemalige Präsident und Regierungschef Dmitri Medwedew in seinem Telegram-Kanal, dass die Nato erkennen müsse, dass die ukrainische Sprache "keine [eigenständige] Sprache" bilde, sondern nur einen Dialekt des Russischen und die Ukraine "kein Land" sei, sondern "künstlich zusammengetragene Territorien" darstelle.

Die zahllosen vor Aggressivität triefenden Interviews und Beiträge auf unterschiedlichen Sozialmedienkanälen hochrangiger russischer Politiker und Kreml-naher Intellektueller sowie die überdeutlichen Worte Wladimir Putins seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine legen ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass die russische Führung in einer selbstgerechten Filterblase eigener abstruser Weltanschauung gefangen bleibt.

Der absolut überwiegende Teil der russischen Eliten ist von der feindlichen Gesinnung des Westens überzeugt, sieht sich im Zugzwang und glaubt, durch eine konstruktive, auf eine ernstzunehmende diplomatische Lösung abzielende Haltung im Krieg gegen die Ukraine nichts zu gewinnen, aber nur noch mehr zu verlieren.

Doch ist die Hoffnung der Pazifisten auf Frieden mit Russland tatsächlich vergebens? Freilich gibt es eine politisch-diplomatische Lösung, die Moskau nur zu gern akzeptieren würde.

Diese besteht aus der Sicht der russischen Führung in einem Diktatfrieden, einer bedingungslosen Kapitulation und der voraussetzungslosen Unterwerfung Kiews unter die Willkür Moskaus mit darauffolgender schrittweise Auflösung der Ukraine als unabhängiger Staat und der Auslöschung der ukrainischen Kultur.

Die "berechtigten" russischen Sicherheitsinteressen

Doch wie ist es dann mit der Akzeptanz der "berechtigten" russischen Sicherheitsinteressen? Insbesondere die gerade in Deutschland weitverbreitete Mär von objektiven russischen Sicherheitsinteressen, die vom Westen über zwei Jahrzehnte grob missachtet wurden und den "Ukraine-Konflikt" auslösten, stellt ein ernstzunehmendes Problem dar.

So übt beispielsweise der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg in seinem Beitrag für das Magazin Emma am 1. März 2022 zwar Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, behauptet jedoch zugleich, dass auch den Westen eine "schwere Schuld" für das "jahrzehntelange Ignorieren der Sicherheitsinteressen Russlands" treffe.

Dabei wird aber eine Tatsache übersehen. Im Rahmen der lügenhaften Erfahrungswelt des russischen Regimes zählt nicht die historische faktenbasierte Wahrheit, sondern die tiefe Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der eigenen geistigen Konstrukte.

Denn es ging Wladimir Putin bei der Invasion der Ukraine nie um die objektiven Sicherheitsinteressen Russlands. Auch die Nato-Erweiterung war niemals das Hauptproblem.

Widrigenfalls wären die russischen Reaktionen auf die durch den Überfall auf die Ukraine erst möglich gemachte Nato-Norderweiterung auf Finnland und Schweden und die damit einhergehende Verdoppelung der Nato-Russland Grenze ungleich schärfer ausgefallen.

Überhaupt besteht der Krux an der Sache mit den "objektiven Sicherheitsinteressen Russlands" ja gerade darin, dass diese "objektiven Sicherheitsinteressen" mittlerweile durch Putin allein auf eine äußerst subjektive Weise definiert werden und außerhalb seiner Denkkonstrukte nicht zu bestehen vermögen.

Letztlich führt diese klandestine Herangehensweise Wladimir Putins zum schockierenden Ergebnis, dass selbst erfahrene und in den Machtstrukturen des heutigen Russlands hervorragend vernetzte russische Diplomaten die konkreten Bedingungen für ein Ende der Kriegshandlungen gegen die Ukraine unmöglich in Worte fassen können.

Was die "Track-1,5-Diplomatie" bedeutete

Die Moscow Times berichtete am 26. Juli 2023, unter Verweis auf ein Mitglied der US-Delegation, von den Versuchen der USA, gegenüber der russischen Führung Gesprächskanäle offenzuhalten.

Diese als Track-1,5-Diplomatie bekannten verdeckten Gespräche ermöglichen es beiden Seiten, die roten Linien der jeweils anderen Seite zu verstehen, potenzielle Konflikte zu entschärfen, und dienen als wichtiges Bindeglied zwischen offiziellen Regierungsverhandlungen (Track-1-Diplomatie) und inoffiziellen Expertendialogen (Track-2-Diplomatie).

Einen wesentlichen Erkenntnisgewinn der bisherigen Verhandlungen fasst im ansonsten recht konfusen Gespräch mit Moscow Times ein nicht näher genanntes Mitglied der US-Delegation wie folgt zusammen: "Sie (die Russen; Anm. d. Autors) wissen nicht, wie sie Sieg oder Niederlage definieren sollen."

Doch genügt es lediglich der Russischen Föderation ein mehr oder weniger gesichtswahrendes Ausstiegsszenario zu ermöglichen?

Denn angesichts der Misserfolge im Angriffskrieg gegen die Ukraine und der explodierenden Kriegskosten müsse ja Putin über kurz oder lang unweigerlich seine Ambitionen und Zielsetzungen mäßigen, um sich diesem gescheiterten Abenteuer zu entziehen.

Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Nein. Denn ungeachtet aller Schwierigkeiten kann der Krieg für Wladimir Putin als Katalysator für bemerkenswerte innen- und außenpolitische Erfolge gewertet werden.

Solange Wladimir Putin an der Macht bleibt, ist ein wie auch immer geartetes Kriegsende kaum zu erwarten.

Dr. Alexander Dubowy verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in Forschung und Beratung zu internationalen Politik- und Sicherheitsfragen.

Er arbeitet interdisziplinär zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik und ist Autor von Strategie- und Regionalstudien sowie Analysen zu internationalen Beziehungen mit Schwerpunkt Osteuropa, Russland und GUS. Darüber hinaus ist Dubowy in der Politikberatung und Policy-Analyse tätig, wobei er sich methodisch der Trend-, Akteurs- und Stakeholderanalyse sowie der Szenarienentwicklung bedient.

Geboren in Semipalatinsk (Semei im heutigen Kasachstan), wuchs Dubowy in Estland und Österreich auf. Der promovierte Jurist studierte Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Wien und Moskau.

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