Russlands Öl-Trick: Wie Indien dem Westen ein Schnippchen schlägt
Indien kauft verbilligtes Öl aus Russland. Der Westen kritisiert das Land für diese Geschäfte. Doch Indien will mehr als nur günstig einkaufen, so unser Interviewpartner.
"Wir haben so gute Beziehungen, dass ich dachte, Sie würden mich ohnehin verstehen", scherzte Wladimir Putin zu Beginn seines Treffens mit dem indischen Premierminister Narendra Modi in Kasan, als er vergaß, eine Pause für die notwendige Übersetzung einzulegen.
In der Tat zeichnen sich die hochrangigen Kontakte zwischen Indien und Russland durch eine positive Dynamik aus, die beiden Seiten zahlreiche vorteilhafte Entscheidungen ermöglicht – sei es im Ölhandel, bei der Eröffnung neuer Konsulate oder der Rückkehr von indischen Soldaten, die unrechtmäßig in der russischen Armee gedient hatten.
Warum intensiviert Indien seine Zusammenarbeit mit Russland und welche Perspektiven eröffnen sich aus dieser Partnerschaft? Darüber sprach Telepolis mit Rajoli Siddharth Jayaprakash von der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi.
▶ Wie gelingt es Indien, gute Beziehungen sowohl zu westlichen Ländern als auch zu Ländern des "Globalen Südens" aufzubauen?
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Nach der Unabhängigkeit Indiens hat es seine Außenpolitik so gestaltet, dass wir immer gute Beziehungen zu Ländern in Afrika, Lateinamerika und anderen Ländern pflegten, die heute als "Globaler Süden" bezeichnet werden.
Ferner sah sich Indien nie als einen Staat, der die Weltpolitik dominieren möchte. Vielmehr strebten wir nach einer demokratisierten Weltordnung. Das ist der Grund, warum der "Globale Süden" ein gewisses Vertrauen in Indien hat.
Was den Westen betrifft, so haben die indischen Eliten starke kulturelle Verbindungen zu Europa und den USA. Viele Inder schicken ihre Kinder in die USA und nach Europa, um zu studieren. Und natürlich spielt auch der Faktor der englischen Sprache eine Rolle.
▶ Es herrscht die Meinung, dass Indien zweimal nachdenkt, bevor es sich zu etwas verpflichtet.
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Die indische Außenpolitik wird vom äußeren Umfeld stark beeinflusst. Wir müssen sehr vorsichtig sein, da wir eine lange Grenze mit China haben und die Grenzprobleme seit den 1960er Jahren ungelöst sind. Deswegen neigen wir nicht dazu, uns einer Allianz mit militaristischen Tönen anzuschließen. Aber wir treten wirtschaftlichen Allianzen bei, die dem Wohl des indischen Volkes dienen.
Außerdem liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Indien ungefähr bei $2.400 pro Jahr, was eine sehr niedrige Zahl ist. In einer Situation der Ressourcenknappheit muss man rationale Entscheidungen treffen und alles gut planen.
▶ Wie lässt sich der Charakter der Beziehungen zwischen Indien und Russland beschreiben?
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Wir möchten mit allen großen Mächten der Welt zusammenarbeiten, auch mit Russland. Wir hatten nie geopolitische Probleme mit Russland. Wir teilen keine Grenze zu Russland im Gegensatz zu China.
Die Beziehungen Indiens zur Sowjetunion verbesserten sich besonders ab 1971, als die USA Beziehungen zu Pakistan aufbauten. Die Beziehungen zwischen Indien und Russland waren vor allem von militärischen und technischen Partnerschaften geprägt.
Aber in den heutigen geopolitischen Dynamiken hat das seit den 2010er Jahren erheblich nachgelassen. Indien kauft immer noch das S-400-System und viele Ersatzteile aus Russland, aber es begann, mehr Waffen und Munition aus dem Westen zu erwerben. Der wirtschaftliche Aspekt spielt heute in den gegenseitigen Beziehungen eine größere Rolle.
▶ Was sind die Gründe für diese Entwicklung?
Der Handel zwischen Indien und Russland ist ein Produkt der Übereinstimmung von nationalen Interessen beider Länder. Die indische Wirtschaft benötigt heutzutage mehr Energie, um ihre Industrie zu betreiben. Der Energieverbrauch pro Kopf wächst. Die indischen Ölmärkte funktionieren so, dass wir immer dort kaufen, wo der Preis günstig ist.
Der Kauf von Öl aus Russland hat daher nach der Krim zugenommen, aufgrund von Sanktionen und anderen Faktoren. Und nach 2022 gewährte Russland einen Rabatt von 15 bis 30 Prozent auf Öl.
▶ Ist Indien besorgt über negative Reaktionen aus westlichen Ländern wegen des Ölhandels mit Russland?
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Der Westen hat Indien dafür kritisiert, Öl zu kaufen. Aber im Westen gibt es auch Verständnis dafür, dass Indien russisches Öl kaufen muss. Andernfalls würde der Ölpreis weltweit steigen. Aber wenn Russland die Rabatte reduziert, denke ich, dass Indien woanders Öl kaufen wird.
▶ Es gab Enthüllungen über verdeckte Handelsrouten zwischen Indien und Russland, also Handel über Drittstaaten. Ist das ein Problem für Indien?
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Die offizielle Reaktion der indischen Regierung ist, dass Indien selbst nie dem Sanktionsregime beigetreten ist. Aber ich habe zusätzliche Erklärungen für die aufgedeckten Handlungen. Ich habe mir die sanktionierten Unternehmen in Neu-Delhi genauer angeschaut. Diese Unternehmen hatten minimale Aktivitäten und nur kleine Büros.
Ich wusste nicht einmal, dass sie überhaupt existierten. Wenn man es aus einer globalen Perspektive betrachtet: Warum sollte ein Unternehmen ein Produkt nicht zum Beispiel an die Türkei oder Kirgisien verkaufen? Ein Unternehmen muss Gewinne erzielen. Und wenn etwas über die Türkei nach Russland gelangt, ist das nicht das Problem des Unternehmens.
▶ Gibt es in letzter Zeit eine Annäherung zwischen Indien und Russland?
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Seit 2022 gibt es eine größere interkulturelle Interaktion zwischen Indien und Russland – in Bezug auf eine nicht-westliche Weltordnung und nichtwestliche internationale Beziehungen.
Viele indische Studenten gehen nach Russland, indische Restaurants eröffnen in Moskau und St. Petersburg. Die indische Soft Power ist in Russland sichtbar, aber die indische Gesellschaft bleibt größtenteils sehr westlich orientiert.
▶ Könnte Indien eine Rolle bei der Beilegung des Ukraine-Konflikts spielen?
Rajoli Siddharth Jayaprakash: Ich denke, es muss eine globale Anstrengung geben. Indien könnte bereit sein, Gespräche zu erleichtern, aber nicht eine sehr aktive Rolle in diesem Konflikt zu übernehmen. Das Problem liegt einfach in der europäischen Sicherheitsarchitektur.
Rajoli Siddharth Jayaprakash ist Doktorand am Zentrum für Russland und Zentralasien an der Jawaharlal Nehru Universität mit dem Schwerpunkt Sanktionsforschung; er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programm für Strategische Studien beim Observer Research Foundation in Neu-Delhi. 2023 war er außerdem Gastwissenschaftler am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen.