Sabotage Nord Stream: Terroranschlag oder Geheimdienstoperation?
Mediensplitter (19): Was wusste Kiew? Nach ersten Meldungen über einen möglichen ukrainischen Terroranschlag auf Nord-Stream versucht sich die Ukraine-Koalition in Schadensbegrenzung.
Es ist ja jedem klar, wem das nützt. Und wer profitiert, der hat es auch getan.
Wladimir Putin
Es mag für Interessierte keine große Überraschung gewesen sein, aber für die breite Öffentlichkeit ist dies eine Sensation, die das politische Berlin in den nächsten Tagen erschüttern dürfte: Offenbar hat ein ukrainisches Terrorkommando vor einem halben Jahr, am 26. September 2022, einen Anschlag auf "Nord-Stream" geführt und Teile der Pipeline gesprengt (siehe: Nord-Stream-Explosionen: Die Spur der Täter führt in die Ukraine).
"Spur führt zu pro-ukrainischer Gruppe" titelte gestern die 20-Uhr-Tagesschau der ARD und verwies auf Recherchen der ARD und der mit US-Behörden überaus gut vernetzten Redaktion der Zeit, die bis dahin sorgfältig geheim gehalten wurden. Noch in der ZDF-"Heute"-Sendung eine Stunde zuvor gab es nicht den geringsten Hinweis auf die Nachricht.
Bereits die von Anfang an publizierten Rechercheergebnisse sind einerseits erstaunlich detailliert: Ausgangspunkt der Anschläge soll Deutschland gewesen sein. Ein sechsköpfiges Kommando hat sich offenbar bereits 20 Tage zuvor in Rostock auf eine Yacht begeben. Diese soll von einer in Polen ansässigen, zwei Ukrainern gehörenden Firma angemietet worden sein.
Die Bootsbesatzung bestand allem Anschein nach aus fünf Männern und einer Frau, neben dem Kapitän handelt es sich um zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und eine Ärztin. Die Identität und Nationalität aller sechs ist noch unklar. Es wurden professionell gefälschte Reisepässe benutzt.
Auch sonst heißt es, die schwierige, technisch anspruchsvolle Spezialoperation – der Einsatz von Sprengstoff unter Wasser erfordert nicht nur besonderes Material, sondern auch Erfahrung und besondere technische Kenntnisse – sei in sehr professioneller Weise durchgeführt worden. Wenn auch nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Bislang hieß es, nur ein Staat (Militär, Geheimdienste etc.) könne eine solche Sprengaktion durchführen, wird in der Debatte kritisch angemerkt.
Es bleiben wesentliche Fragen einstweilen offen: Falls sich die These erhärtet, dass es sich tatsächlich um ein ukrainisches Kommando gehandelt hat, so wäre festzustellen, ob es im Auftrag der Regierung Selenskyj handelte oder im Auftrag einer anderen Macht.
Also: Was wusste Kiew? Was wusste Berlin? Und was wusste Washington?
Abstimmung in Washington, Minenräumung im Deutschlandfunk
Vor diesem Hintergrund erscheint auch die jüngste Washington-Reise des Bundeskanzlers, die auffälligerweise ohne Medienbegleitung stattfand, in neuem Licht. Handelte es sich in Wahrheit darum, dass die Regierungschefs ihre Reaktion auf die bevorstehenden Enthüllungen persönlich abstimmen wollten?
Oder gibt es womöglich weitere Rechercheergebnisse, die auf einen Auftrag aus den USA hindeuten und damit auf einen Anschlag des sogenannten "engsten Verbündeten" Deutschlands auf ihren sogenannten "wichtigsten Partner in Europa"?
Immerhin gibt es Hinweise aus anderen Quellen, die ins Spiel bringen, dass in den Tagen um den Anschlag auch ein US-Amphibienschiff in der gleichen Gegend nur 30 Kilometer entfernt unterwegs war, und "Minenräumung" trainierte.
Verteidigungsminister Boris Pistorius wiegelt heute Morgen im Deutschlandfunk alle entsprechenden Fragen ab:
Es ist immer interessant, solche Hinweise zu lesen. ... Jetzt hypothetisch zu kommentieren halte ich für nicht zielführend.
Boris Pistorius
Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelt, um pro-ukrainische Gruppen zu beschuldigen. Auch eine Form von Minenräumung. Eine ähnliche Zurückhaltung würde man sich jedenfalls auch bei Schuldzuweisungen in anderen Fällen wünschen.
Deutsche Medien verteidigen Kiew
Die deutschen Medien zeigten sich nach Auftauchen der Meldung vor allem bemüht, mit Nebelkerzen zu werfen und aufzuführen, was zumindest gegen die direkte Beteiligung der ukrainischen Regierung spricht:
Doch auch wenn Spuren in die Ukraine führen, heißt das, nicht dass die ukrainische Regierung hinter dem Anschlag stecken muss. In internationalen Sicherheitskreisen wird nicht ausgeschlossen, dass es sich auch um eine Operation unter falscher Flagge handeln könne. Das würde bedeuten, es könnten auch bewusst Spuren gelegt worden sein, die auf die Ukraine als Drahtzieher hindeuten sollen.
Tagesschau
Es gebe keine Beweise, dass Kiew dahinterstecke.
Auch der schnelle Kommentar des ZDF-Experten im Göran Swiestek gehört ins Reich moderner Märchenerzählungen: Es gebe "keine neuen Fakten" behauptet Swiestek steif und fest, wo doch gerade solche Fakten vom Konkurrenzsender publiziert wurden. "Was bringt es der Ukraine?"
US-Korrespondent Elmar Thevessen sekundierte: "Weder amerikanische noch britische Staatsbürger beteiligt." Die US-Regierung habe jede Beteiligung "empört und entschieden" dementiert. Wenn das kein Beweis ist.
Unter falscher Flagge?
Auch eine false-flag-Operation lässt sich nach wie vor nicht ausschließen. Dabei ist allerdings offen, wer hier unter welcher Flagge segelt? Nutzen die Russen ukrainische Terror-Zellen, um einen Keil zwischen Kiew und seine Verbündeten, bzw. zwischen Europa und die USA zu treiben? Oder nutzen die USA die Ukrainer, um die Schmutzarbeit im Sinne ihrer Wirtschaftsinteressen zu erledigen?
Die Frage, inwieweit diese Nachrichten nun auch die Theorie des US-Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh in neuem Licht erscheinen lassen, bleibt hier vorläufig ein Nebenthema.
Natürlich ist die Frage zu klären, wie es sein kann, dass solche Anschläge an viele Kilometer auseinander liegenden Punkten mit Hunderten von Kilo Spezialsprengstoff durchzuführen sind, ohne dass dies von westlichen Geheimdiensten bemerkt wird. Und natürlich ist offensichtlich, dass vor allem zwei Seiten ein Interesse an einer Sprengung von Nord Stream haben: die Ukraine, die davon politisch, und die USA, die davon wirtschaftlich profitieren.
Kreml-Sprecher Peskow forderte jedenfalls heute erneut eine internationale Untersuchung. Dies sei eine koordinierte Medienkampagne, die der Ablenkung diene, sagte er der Nachrichtenagentur RIA zufolge.
"Tiefgreifende Auswirkungen auf die Koalition zur Unterstützung der Ukraine ..."
Die New York Times berichtet konkreter vom Sachverhalt, und führt zugleich aus, wie auch US-Offizielle sich seit Dienstag darin versuchen, die Eindeutigkeit der Rechercheergebnisse zu verwischen und zu verunklaren:
US-Beamte lehnten es ab, die Art der Geheimdienstinformationen, die Art und Weise, wie sie erlangt wurden, oder Einzelheiten über die Stärke der darin enthaltenen Beweise bekannt zu geben. Sie sagten, dass es keine eindeutigen Schlussfolgerungen gibt, und ließen die Möglichkeit offen, dass die Operation inoffiziell von einer stellvertretenden Kraft mit Verbindungen zur ukrainischen Regierung oder ihren Sicherheitsdiensten durchgeführt wurde.
New York Times
US-Offizielle fürchten nun, so zitiert die Zeitung weiter, dass die Schlussfolgerungen aus dieser ersten wichtigen Spur "tiefgreifende Auswirkungen auf die Koalition zur Unterstützung der Ukraine haben könnten".
Jeder Hinweis auf eine ukrainische Beteiligung, ob direkt oder indirekt, "könnte die delikate Beziehung zwischen der Ukraine und Deutschland stören und die Unterstützung der deutschen Öffentlichkeit, die im Namen der Solidarität hohe Energiepreise in Kauf genommen hat, beeinträchtigen".