Sahra Wagenknecht: "Was wir einfordern müssen, ist echte Gleichbehandlung"
Ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht über Identitäten, Wir-Gefühle, soziale Benachteiligung, den Begriff "Heimat" sowie Umweltpolitik und Fridays for Future (Teil 1)
Ihr Buch "Die Selbstgerechten" trägt die Unterüberschrift "Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt". In Ihrer Partei scheint es eher das Gegenteil zu bewirken. Wer ist eigentlich die Zielgruppe?
Sahra Wagenknecht: Alle, die sich darüber Gedanken machen, warum die linken Parteien hier und in anderen europäischen Ländern immer mehr Rückhalt verlieren, warum sie kaum noch von denen gewählt werden, für die sie eigentlich da sein sollten: Menschen, denen es nicht so gut geht, die für geringe Löhne arbeiten müssen, die niedrige Renten bekommen, Arbeiter, aber auch kleine Selbständige, die jetzt in der Corona-Krise völlig allein gelassen wurden. Es ist ein offensichtliches Problem, dass diese Menschen von links kaum noch angesprochen werden. Und wenn ich mir anschaue, wie desolat die Union derzeit dasteht, dann ist es doch ein Desaster, wenn SPD und Linke trotzdem zusammen kaum noch 25 Prozent der Wähler erreichen. Da muss man doch darüber nachdenken, ob man etwas falsch macht.
Sie haben jetzt die SPD und Die Linke genannt - in "Die Selbstgerechten" beschreiben Sie "Lifestyle-Linke" als Besserverdienende mit E-Autos. Trifft das nicht eher auf Anhänger der Grünen zu, die in der linken Friedensbewegung schon nicht mehr als links gelten, weil sie zu oft Militäreinsätzen zustimmen?
Sahra Wagenknecht: Die Lifestyle-Linken par exellence sind natürlich die Grünen. Sie werden hauptsächlich von dem Milieu gewählt, in dem diese Botschaften ankommen: Eher gutsituierte, akademisch gebildete Großstädter, die in Vierteln wohnen, in denen schon die Mieten garantieren, dass man mit Ärmeren oder Zuwanderern, soweit es sich nicht um Hochqualifizierte handelt, persönlich kaum in Kontakt kommt - und also auch nicht mit den mit Armut und Zuwanderung verbundenen Problemen. Die Wähler der Grünen verdienen im Schnitt mittlerweile mehr als die der FDP. Das reale Leben bewegt sich für viele in einer Art Filterblase.
Die Grünen sind erfolgreich, weil sie die Lebenswelt, die Interessen und die kosmopolitischen und individualistischen Werte dieses Milieus repräsentieren. Die Frage ist nur: Sollten Parteien, die sich als links verstehen, mit den Grünen vor allem um diese Wählerschaft konkurrieren? Oder sollten sie nicht eher versuchen, wieder die Stimme derjenigen zu sein, die es schwer haben, denen Bildungschancen vorenthalten werden, die um jedes bisschen Wohlstand kämpfen müssen und sich heute großenteils von niemandem mehr vertreten fühlen? Für diese Menschen da zu sein, war jedenfalls mal der Anspruch der Linken.
Sind Arbeiterkinder, die das müssen, nicht oft auch Migrantenkinder, für die Rassismus ein Thema ist - wo fängt dann die Identitätspolitik an, die Sie so kritisieren?
Sahra Wagenknecht: Es gibt sowohl Migrantenkinder als auch Nachkommen deutscher Eltern, die im Niedriglohnsektor arbeiten - und deren Interessen müssen wir vertreten. Natürlich müssen wir uns gegen Diskriminierungen wenden, etwa wenn Menschen aufgrund eines arabischen Namens bei der Bewerbung noch schlechtere Chancen haben. Aber diesen Menschen nützen abgehobene Sprachreglementierungen nichts und auch keine Quoten. Was wir einfordern müssen, ist echte Gleichbehandlung, etwa indem die anonymisierte Bewerbung gesetzlich vorgeschrieben wird.
Natürlich freue ich mich auch über jeden Besserverdiener, der links wählt - und ein Teil dieser Menschen hat auch nicht vergessen, wo sie herkommen, denn es gab ja mal eine Zeit, in der viele Kinder aus ärmeren Familien den sozialen Aufstieg schaffen konnten, weil die Politik den Rahmen dafür bereitgestellt hat. Aber wir sind nicht dazu da, die Interessen derer zu vertreten, die es geschafft haben. Und Debatten, in denen Privilegierte dem Rest der Gesellschaft vorschreiben, wie er zu reden, zu denken und zu leben hat, sind alles, aber nicht links. Wenn die Menschen das als linke Politik erleben, wenden sie sich zu Recht ab.
Was ist, wenn sich innerhalb dieser sozialen Klasse jemand so rassistisch äußert, dass es spaltend wirkt - sollen Linke dann nicht sagen, dass das falsch ist?
Sahra Wagenknecht: Natürlich muss man sich gegen Rassismus wehren. Aber die Frage ist: Wo fängt Rassismus an? Ist es schon Rassismus, wenn jemand, der nie im Leben die Zeit hatte, Seminare in wokem Sprachgebrauch zu besuchen, so redet, wie er es gelernt hat, ohne irgendeine böse oder herabsetzende Absicht? Rassismus ist für mich, wenn Menschen wegen ihrer Abstammung oder Hautfarbe diffamiert werden, wenn sie tätlich angegriffen oder im schlimmsten Fall ermordet werden wie in Hanau. Das ist Rassismus. Heute dagegen wird dieser Begriff so inflationär gebraucht, dass es einer Verharmlosung von echtem Rassismus gleichkommt.
Sie plädieren für eine "linkskonservative Politik". Die meisten Konservativen würden sich aber nicht links nennen, sondern als "Mitte" oder als gemäßigt rechts bezeichnen. Ist "Linkskonservatismus" nicht auch eine Identitätsfrage und ein Minderheitenphänomen?
Sahra Wagenknecht: Identität ist eine wichtige Sache - jeder Mensch hat Identitäten; und zwar meistens nicht nur eine. Ich etwa verstehe mich als Saarländerin, weil ich hier lebe, aber natürlich auch als Bürgerin dieses Landes und als Europäerin. Die entscheidende Frage ist, ob man die gemeinsamen Identitäten in den Vordergrund stellt, oder die, die spalten und den Unterschied von der Mehrheitsgesellschaft betonen - ob man also die Abstammung und die sexuelle Orientierung hervorhebt oder das, was Belegschaften und auch die große Mehrheit der Bevölkerung eint: Die meisten Menschen müssen von ihrer Arbeit leben, profitieren von einem starken Sozialstaat, sind nicht reich. Aber sie haben deutsche oder nicht-deutsche Eltern, sind homo- oder heterosexuell.
Die Identitätspolitik bläst solche Unterschiede zu unüberbrückbaren Trennlinien auf, die darüber entscheiden, wer worüber sprechen darf. Das ist der Kern des Problems - nicht, dass Identitäten ernst genommen werden.
"Nicht nur konservativ, sondern auch originär links"
Viele Menschen sind wertkonservativ in dem Sinne, dass sie Wert auf einen gewissen Grad an Stabilität legen, sie wollen in vertrauten Umgebungen leben und haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Sicherheit und Zusammenhalt. Mit konservativen Parteien wie der Union hat das nichts zu tun. Die stehen für eine neoliberale Politik, die diesen Bedürfnissen ins Gesicht schlägt. Der entfesselte globalisierte Kapitalismus ist das Gegenprogramm zu wertkonservativen Werten, weil er die Menschen zu Flexibilität, Mobilität und Bindungslosigkeit zwingt, sie herausreißt aus vertrauten Bezügen oder diese bis zur Unkenntlichkeit verändert, wenn etwa ganze Regionen infolge von Deindustrialisierung verfallen.
Der Anspruch, das zu bewahren, was für die meisten Menschen wichtig ist, was ihrem Leben Stabilität und Sicherheit gibt, ist aber nicht nur konservativ, sondern auch originär links, genau das war früher linke Politik - der Sozialstaat etwa sollte Stabilität und Planbarkeit des Lebens ermöglichen. Weniger Ungleichheit heißt auch weniger Kriminalität und mehr Sicherheit. Daher der Begriff "linkskonservativ".
Vertraute Umgebungen sind etwas kleinteiliger als der Nationalstaat, um den es meist geht, wenn Linke den Begriff "Heimat" aus Ihrer Sicht zu negativ wahrnehmen. Ist der nationale Heimatbezug nicht auch künstlicher und weniger natürlich gewachsen als lokale oder regionale Heimatgefühle?
Sahra Wagenknecht: Heimat ist sowohl regional geprägt als auch ein Wir-Gefühl, dass es innerhalb der einzelnen Länder gibt. Das haben Linke immer mit einer gewissen Skepsis gesehen, weil es historisch immer wieder missbraucht wurde - ja. Ein hochgepeitschter Patriotismus führte dazu, die eigene Nation für überlegen zu halten und andere zu verachten oder zu hassen. Er wurde für Kriege missbraucht.
Aber die Identifizierung mit dem eigenen Land als solche ist noch lange kein Nationalismus und auch nicht reaktionär. Sie ist eine unerlässliche Ressource für Solidarität und sozialen Ausgleich. Eine Solidargemeinschaft setzt voraus, dass es ein Wir-Gefühl gibt. Wenn Menschen miteinander nichts verbindet, sind sie auch nicht bereit, in ein Solidarsystem einzuzahlen. Wo das Miteinander sich auflöst, bleibt am Ende eine entfesselte Marktgesellschaft übrig.
Lebt Zusammenhalt nicht auch von Generationengerechtigkeit in dem Sinn, dass die Angst von Jugendlichen vor der Klimakatastrophe sehr ernst genommen werden muss? Sie erwarten von Fridays for Future mehr Empathie für Leute, die Angst vor hohen Spritpreisen haben, verstehen aber Aggressionen gegen diese Jugendlichen. Sollten nicht beide Seiten Empathie zeigen?
Sahra Wagenknecht: Ja. Aber ich halte schon das Gerede von der sogenannten Generationengerechtigkeit für ziemlich daneben. Es gibt nicht "die" junge Generation, ein Handwerker-Azubi aus einer Arbeiterfamilie hat andere Interessen als der Sohn eines höheren Beamten, der gerade sein Auslandssemester in den USA beendet. Natürlich muss für beide unser Planet bewohnbar und das Leben auf ihm lebenswert bleiben, der Klimawandel also gestoppt werden.
Aber die Frage ist, mit welchen Maßnahmen. Wenn die Forderungen in erster Linie darauf hinauslaufen, dass man denen, die sowieso schon kämpfen müssen, das Leben noch schwerer macht, indem man ihr Heizöl und ihren Sprit verteuert, obwohl sie zum Beispiel auf dem Land gar keine Alternative zum Auto haben und sich den schmucken E-Wagen trotz Subvention nicht leisten können, dann sind das Forderungen, die die soziale Lage auch junger Menschen ignorieren. Die Verteuerung nützt übrigens auch dem Klima nichts. Wo kein Zug und kein Bus fährt, wird auch mit teurem Sprit weiter das Auto benutzt.
Meinen Sie nicht, dass E-Autos mehr mit den Grünen zu tun haben als mit den jungen Leuten, die da auf die Straße gehen und sich mit keiner Partei identifizieren? - Die sind doch eher generell gegen motorisierten Individualverkehr, wo er vermeidbar ist.
Sahra Wagenknecht: Das Problem ist das Verächtlichmachen eines Lebensstils, zu dem auf dem Land und in der Kleinstadt das Auto aktuell einfach dazugehört. Wohnen im hippen Innenstadtbezirk, wo man die meisten Wege mit dem Fahrrad erledigen kann, können sich viele schlicht nicht leisten. Und teures Heizöl versetzt eine durchschnittlich verdienende Familie noch lange nicht in die Lage, in ein modernes Niedrigenergiehaus umzuziehen. Gerade weniger Begüterte wohnen oft noch in Häusern mit Ölheizung und werden auch weiter heizen. Sie wollen ja nicht frieren.
Statt eine klimapolitisch fragwürdige CO2-Steuer zu fordern, wäre es angebracht, darüber zu reden, wie wir anders produzieren und die Globalisierung zurückdrängen können. Der Irrsinn, immer da zu produzieren, wo die Arbeit am billigsten, die Steuern am niedrigsten und die Umweltauflagen am schlechtesten sind und dann die Produkte quer über den ganzen Globus zu transportieren, verursacht einen riesigen CO2-Ausstoß, der vermeidbar wäre.
Das würde die Renditen globaler Firmen schmälern, aber nicht den Wohlstand normaler Leute. Wir müssen die Unternehmen auch verpflichten, auf längeren Gebrauch orientierte, reparierbare Produkte herzustellen - statt solche, die extra so konstruiert werden, dass sie schnell kaputtgehen, wie es momentan der Fall ist. Diese Wegwerf-Wirtschaft ist mit hohen CO2-Emissionen verbunden, Ressourcenverschwendung und sie lässt die Müllberge wachsen. Eine Klimapolitik, die die Ungleichheit nicht vergrößert, sondern womöglich sogar senkt, ist letztlich im Interesse der Mehrheit der jungen wie der älteren Menschen.
Es gibt aber doch Positiv-Beispiele wie die Zusammenarbeit von Fridays for Future und der Gewerkschaft ver.di mit Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr. Haben Sie sich mal mit Aktiven aus dieser Bewegung ausgetauscht?
Sahra Wagenknecht: Dieses Beispiel kommt ja in meinem Buch vor, dass sie sich mit Busfahrern für höhere Löhne eingesetzt haben. Aber in ihren Hauptforderungen und dem öffentlichen Auftreten spiegeln sich soziale Aspekte nur selten wider. Ein Beispiel ist die Art, wie man sich für den sofortigen Kohleausstieg stark macht. Also erstens brauchen wir erst mal Technologien, die fossile Energieträger komplett überflüssig machen, die gibt es gegenwärtig nicht mal ansatzweise. Gas wäre eine umweltverträglichere Alternative zur Kohle, aber Gaspipelines wie Nord Stream 2 lehnt man ja genauso ab. Aber noch wichtiger ist der Umgang mit den Betroffenen, deren soziale Existenz heute am Kohlebergbau hängt.
Als die jungen Leute von FfF im Lausitzer Braunkohlerevier auf Bergleute und ihre Familien trafen, die für ihre sozialen Interessen demonstrierten, wurde nicht in erster Linie die Politik attackiert, die diese Menschen im Stich lässt, sondern sie wurden als "Kohlenazis" beschimpft, - Menschen, die Angst um ihre Zukunft und die ihrer Kinder haben.
Würden Sie denn einer Bewegung dieser Altersgruppe unterstellen, dass sie nicht dazulernen kann?
Sahra Wagenknecht: Ich habe niemandem etwas unterstellt. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Art, wie die Klima-Forderungen von Fridays for Future vorgetragen wurden, die soziale Herkunft eines Großteils der Aktivisten widerspiegelt - wenn auch nicht aller. Zwei Drittel rechnen sich nach Umfragen der oberen Mittelschicht zu, sie kommen überwiegend aus gutsituierten Akademikerfamilien und haben nie erleben müssen, wie sich soziale Existenzängste anfühlen. Das hat die Bewegung geprägt.
Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke und Autorin mehrerer Bücher. Von 2010 bis 2014 war sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis bis 2019 Ko-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Ihr neues Buch „Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ ist diesen Monat im Campus-Verlag erschienen.
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