Sahra Wagenknecht und die Corona-Politik
Was taugen ihre Argumente? Ein Einwurf zu Kritik und Debatte um eine der renommiertesten Politikerinnen der Linken
Nicht erst seit ihrer Teilnahme bei der Talkshow Anne Will am 31. Oktober dieses Jahres wird Sahra Wagenknechts Haltung zur Corona-Politik in der Öffentlichkeit und in der Linkspartei kontrovers diskutiert. Aber was sind die Positionen von Wagenknecht im Einzelnen, wie tragfähig sind ihre Argumente?
Im Folgenden werden die Einleitungstexte ihrer drei seit dem Auftritt bei Anne Will veröffentlichten Newsletter, in denen sie sich zur Corona-Pandemie äußert, dokumentiert und kritisch kommentiert.
Die Impfdebatte erreicht immer absurdere Züge. Zwar sind selbstverständlich die Corona-Impfungen trotz der zunehmenden Durchbrüche nicht wirkungslos. Insbesondere für ältere Menschen spricht deshalb viel dafür, sich impfen zu lassen. Aber wenn fast jeder zweite Covid-19-Fall ein Impfdurchbruch ist und fast 40 Prozent der Covid-19-Patienten in Krankenhäusern doppelt geimpft sind, dann ist es falsch, von einer "Pandemie der Ungeimpften" zu sprechen und 2G-Maßnahmen zu propagieren.
Sahra Wagenknecht - Newsletter, Ausgabe 167
Laut der Medienanstalt NDR beträgt "auf den Intensivstationen (…) der Anteil der über 60-Jährigen mit Impfdurchbrüchen 37,8 Prozent, bei den 18- bis 59-Jährigen 13,1 Prozent, unter den Kindern ist kein Fall erfasst."1
Der Anteil der vollständig geimpften über 60-Jährigen erscheint in der Tat hoch und erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass Impfungen am Ende doch nicht viel bringen. Impfverweigerer – wie Sahra Wagenknecht – fühlen sich dadurch bestätigt.
Übersehen wird dabei allerdings, dass die absolute Zahl der vollständig Geimpften in Deutschland mit 56,7 Millionen (Stand 20.11.21) deutlich höher liegt als die der Nichtgeimpften. Insgesamt könnten sich in Deutschland 73,9 Millionen impfen lassen, was heißt, dass rund 17 Millionen Menschen als ungeimpft gelten.
Der Anteil der Patienten mit Impfdurchbrüchen auf den Intensivstationen bezieht sich daher auf die sehr große Gruppe von 56,7 Millionen Menschen. Umgekehrt entstammt der Anteil der schwer erkrankten Ungeimpften der sehr viel kleineren Gruppe von etwa 17 Millionen Menschen. Ungeimpfte tragen daher ein sehr viel größeres Risiko im Fall einer Infektion auf der Intensivstation zu landen.
Dies ist eine naheliegende und einfache Rechnung, die aber von Wagenknecht nicht anstellt wird, da es ihr hier ganz offensichtlich nur um den Effekt geht, den eingeschränkten Nutzen einer Impfung nachweisen zu wollen. Die Zahlen beweisen aber – liest man sie nur richtig – tatsächlich die positive Wirkung der Impfung.
Zudem stellen die sogenannten Impfdurchbrüche laut RKI die Effektivität der Impfung nicht generell infrage. "Im Vergleich zu den Ungeimpften mussten deutlich weniger Menschen beatmet werden - und das, obwohl die Personen älter waren und Risikofaktoren aufwiesen. Und: Die Sterblichkeitsrate sank bei den Geimpften im Vergleich zu den Ungeimpften deutlich."2
Es geht um die Vermeidung von Intensivbehandlungen
Auch die Abschaffung der kostenlosen Tests war ein folgenschwerer Fehler. Vor allem müssen wir endlich die verantwortungslose Politik beenden, die dazu geführt hat, dass unser Gesundheitssystem immer schneller überlastet ist! Es ist ein Skandal, dass wir nach anderthalb Jahren Corona noch weniger Intensivbetten, Pflegekräfte und Krankenhäuser haben als zuvor. Kliniken und Pflegeheime dürfen nicht länger kaputt gespart und privatisiert werden. Die neoliberalen Fallpauschalen müssen abgeschafft und Pflegekräfte entlastet und besser bezahlt werden.
Sahra Wagenknecht - Newsletter, Ausgabe 167
Das sind alles richtige Forderungen. Aber es geht zunächst doch einmal darum, dafür Sorge zu tragen, dass Infizierte nicht ernsthaft erkranken und intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Eine solche Behandlung ist für Betroffene auf jeden Fall sehr belastend und oft mit noch lange anhaltenden Beeinträchtigungen verbunden. Mehr Intensivbetten stellen daher die Notwendigkeit einer Impfung nicht infrage.
Die von Wagenknecht erhobenen Forderungen sind zudem wohlfeil, da sie an der gegenwärtigen akuten Notlage nichts ändern. Es ist aber Aufgabe der Politik – insbesondere linker Politiker jetzt und heute Antworten auf drängende Probleme zu geben. Das macht Sahra Wagenknecht aber leider nicht.
Corona und kein Ende. Die Fallzahlen explodieren, in einigen Krankenhäusern wird es schon wieder eng, obwohl die Corona-Einweisungen noch bei gerade mal einem Drittel dessen liegen, was wir in den letzten Wellen erlebt haben, die ersten Schulen sind schon wieder im Wechselunterricht. Steuern wir auf einen neuen Lockdown zu? Brauchen wir 2G überall oder gar eine Impfpflicht für alle? Ich halte davon nichts und finde es auch seltsam, dass der Druck auf Ungeimpfte immer weiter verschärft wird, obwohl sich immer mehr herausstellt, dass die Impfung leider nicht das hält, was man sich von ihr versprochen hat. Nicht nur, dass die Wirksamkeit der Impfstoffe schneller nachlässt, als man das zu Beginn der Impfkampagne erwartet hatte. Auch wer geimpft ist, kann sich erneut infizieren und andere anstecken.
Zum Glück schützt eine Impfung zumindest eine Zeitlang vor schweren Krankheitsverläufen und mit Blick auf das große Risiko einer Corona-Erkrankung für Ältere und für Menschen mit einem der inzwischen bekannten Risikofaktoren - Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck - sollte man bei diesen Gruppen natürlich dafür werben, sich impfen zu lassen. Doch wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wie auch bekannte Virologen wie Drosten und Streeck längst einräumen. Durch die Ausweitung von 2G und die Verbannung der Ungeimpften aus dem öffentlichen Raum wird man der Pandemie also kaum beikommen.
Sahra Wagenknecht - Newsletter, Ausgabe 168
Was hat Christian Drosten tatsächlich gesagt? Unter der Überschrift "Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften" zitiert ihn die Berliner Zeitung in einem Artikel vom 11.11.20213:
Immer wieder sprechen Politiker von einer "Pandemie der Ungeimpften". Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery warnte jüngst sogar vor einer "Tyrannei der Ungeimpften". Dahinter steht der Vorwurf, dass vor allem Impfverweigerer zur schlechten Corona-Lage beitragen - und auch für verschärfte Maßnahmen verantwortlich sind. Der Berliner Virologe Christian Drosten widerspricht: "Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie", betont er im Interview der Zeit. Es gebe eine Pandemie, "zu der alle beitragen - auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger".
Ein Kernproblem sieht Drosten darin, dass die vorhandenen Impfungen nur bedingt der Deltavariante des Coronavirus standhalten. "Nach zwei, drei Monaten beginnt der Verbreitungsschutz der Impfung zu sinken", sagt er. Gerade die älteren Menschen seien bereits im Frühjahr geimpft worden. "Die verlieren jetzt allmählich ihren Verbreitungsschutz, und sie werden immer mehr", so Drosten. Ein zweites Problem habe allerdings tatsächlich damit zu tun, dass es eine größere Zahl von Ungeimpften gibt. Bei den über 60-Jährigen liege die Quote der vollständig Geimpften bei 86 Prozent. "Das ist irrsinnig, das ist wirklich gefährlich", so Drosten weiter.
In dem Interview für Die Zeit, auf die sich der Artikel in der Berliner Zeitung bezieht, wird Christian Drosten noch deutlicher, was jetzt zu tun ist:
Rein wissenschaftlich gesehen, würde eine flächendeckende Impfung der gesamten erwachsenen Bevölkerung die Belastung auf den Intensivstationen nachhaltig reduzieren. Dann wäre jede Infektion ein Impfdurchbruch, und die sind deutlich weniger pathogen." In: Ich hoffe, dass man nicht wieder Schulen schließt
Die Zeit vom 10.11.2021
Mit der Zurückweisung der Parole von der "Pandemie der Ungeimpften" wollte Drosten daher lediglich der gefährlichen Illusion vieler Geimpfter entgegentreten, dass es mit der ersten und zweiten Impfung bereits getan sei.
Es ist also ein dringender Appell zur Drittimpfung, der Booster-Impfung. Im Übrigen verweist er noch einmal auf den "Irrsinn", sich nicht impfen zu lassen. Liest man also die Äußerung von Drosten und nicht nur alleine die Überschrift des Artikels der Berliner Zeitung, so ergibt sich ein ganz anderes Bild als das von Wagenknecht gezeichnete.
Impfdebatte: Wer schließt hier wen aus?
Die Corona-Zahlen steigen, in vielen Krankenhäusern spitzt sich die Lage wieder zu - und der Politik fällt unverändert nichts Besseres ein, als Ungeimpfte zu schikanieren und aus dem öffentlichen Leben zu verbannen.
Sahra Wagenknecht - Newsletter, Ausgabe 169
Eine Gesellschaft muss aber nicht die verheerenden Schäden in Kauf nehmen, die das unvernünftige Verhalten einige ihrer Mitglieder herbeiführt.
In dem Artikel "Irrational und unsolidarisch" hat Miguel de la Riva kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überzeugend dargestellt, wer wen in Wirklichkeit ausschließt:
Wer sich einer Impfung aus letztlich irrationalen Motiven verweigert, wird darum nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen. Er hat der Gesellschaft selbst den Rücken gekehrt, indem er begründete Solidaritätserwartungen missachtete. Sowenig wie behauptet werden kann, der Staat bestrafe oder schikaniere Raucher, weil er ihnen untersagt, andere mit ihrem Verhalten zu schädigen, so wenig können Ungeimpfte behaupten, bestraft oder schikaniert zu werden, wenn sie nun im öffentlichen Leben erheblich eingeschränkt werden, weil sie angesichts der aktuellen Entwicklungen eher früher als später eine potentiell tödliche Krankheit übertragen werden. Denn statt um eine Beschneidung von körperlicher Integrität, Autonomie und Zwecksetzungsfähigkeit handelt es sich um den Ausdruck des elementaren Prinzips, dem zufolge jeder mit seinem Körper tun und lassen kann, was er möchte, solange er dadurch niemand anderen daran hindert.
FAZ vom 19.11.2021
Dabei erkranken auch immer mehr Geimpfte. Vor allem können auch sie sich infizieren und das Virus übertragen. Denn die Wirkung der Impfstoffe lässt leider viel schneller nach, als das noch vor einigen Monaten erwartet wurde. Genau darin liegt ein Hauptgrund für das hohe Infektionsgeschehen. Die 2G-Regel bringt deshalb nur scheinbar mehr Sicherheit. Sinnvoller wäre es, in Bars, Restaurants, Diskotheken und überall sonst, wo sich viele Menschen in engen geschlossenen Räumen aufhalten, alle zu testen.
Sahra Wagenknecht - Newsletter, Ausgabe 169
In der Tat infizieren sich leider auch Geimpfte, und sie können das Virus auch weitergeben. Geimpfte genießen aber dennoch – wie schon beschrieben – im Falle einer Infektion einen deutlich höheren Schutz als Ungeimpfte. Und um ihren Schutz zu erhöhen, sind sie jetzt aufgerufen, sich einer Drittimpfung zu unterziehen.
Die von Wagenknecht anstelle der Anwendung der gemäß der 2-G-Regel empfohlenen Tests vor dem Besuch von Bars, Restaurants, Diskotheken sind jedoch unsicher und nur mit großem Aufwand zu realisieren. Und die Frage stellt sich, warum sich alle – auch die Geimpften – dem unterwerfen sollten? Nur weil andere aus irrationalen Gründen sich weigern, sich impfen zu lassen?
Vor schweren Verläufen schützt die Impfung zwar immer noch ganz gut - aber auch dieser Schutz lässt nach. Deshalb ist für Risikogruppen auch mit Impfung Vorsicht angebracht.
Sahra Wagenknecht - Newsletter, Ausgabe 169
Sahra Wagenknecht spricht sich aber weder für eine Drittimpfung noch für generelle Erst- und Zweitimpfungen aus – Impfungen empfiehlt sie lediglich für Ältere und Vulnerable. Das nicht geringe Risiko auch für Jüngere – und zu ihnen zählt auch sie – an Covid-19 schwer zu erkranken oder zu sterben, blendet sie dabei aus.
Die Autorin ist Molekulargenetikerin und Mitbegründerin des Marx-Engels-Zentrums Berlin.