Sarkozy verunglimpft, weil er unbequeme Wahrheit über die Ukraine ausspricht
Seite 2: Die düstere Realität des Ukraine-Kriegs
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Trotz der nahezu universellen Verunglimpfung, die Sarkozys Interview ausgelöst hat, wurde vieles von dem, was er sagte, bereits von einigen US-amerikanischen und europäischen Regierungsvertretern im Hintergrund geäußert und in den westlichen Medien zitiert.
Im Februar erklärten ungenannte Beamte der Biden-Administration gegenüber der New York Times, das Ziel der USA sollte nicht darin bestehen, dass die Ukraine die Krim zurückerobert (was ihrer Meinung nach sowohl militärisch äußerst schwierig als auch ein Risiko für eine russische Eskalation in Richtung eines Atomkriegs wäre), sondern stattdessen darin, die russische Militärherrschaft auf der Halbinsel "glaubhaft herauszufordern", um "Kiews Position in künftigen Verhandlungen zu stärken".
Das führt jedoch zu der offensichtlichen Frage – oder sollte es zumindest: künftige Verhandlungen über was? Im Gegensatz zu Sarkozy waren die US-Vertreter und ihre europäischen Kollegen nicht bereit, die offensichtliche Schlussfolgerung auszusprechen: Wenn die Ukraine einen solchen militärischen Erfolg erzielen könnte, ohne die Krim tatsächlich zurückzuerobern, müsste es bei den daraus resultierenden Verhandlungen darum gehen, der Ukraine die Gebiete zurückzugeben, die sie seit letztem Jahr verloren hat, während die Krim (und wahrscheinlich auch der östliche Donbass, der in der Praxis ebenfalls seit 2014 von Russland gehalten wird) in russischer Hand bleibt.
Sie haben sich auch nicht mit der Frage befasst, wie eine solche Friedensregelung international legitimiert werden könnte. Hier hat Sarkozy eine demokratische Lösung vorgeschlagen, die auch von Thomas Graham und anderen vorgeschlagen, aber von den Regierungen der westlichen Demokratien rigoros ignoriert wird: die Entscheidung durch international überwachte Referenden in die Hände der Bevölkerungen der betroffenen Gebiete zu legen.
Derzeit ist die ukrainische Armee jedoch noch weit davon entfernt, die Krim zurückzuerobern, und wird dies höchstwahrscheinlich auch nie können, wovor das Pentagon bereits im Vorfeld zu Recht gewarnt hat.
Das wahrscheinliche Scheitern der derzeitigen ukrainischen Offensive wird nun von offiziellen und inoffiziellen westlichen Analysten breit diskutiert. Wieder einmal ziehen jedoch nur wenige die offensichtliche Schlussfolgerung, dass das Ergebnis ein langwieriger Zermürbungskrieg sein wird, der entweder zu einem Waffenstillstand entlang der derzeitigen Fronten oder – möglicherweise – zu einem neuen russischen Sieg führen wird.
Noch weniger argumentieren wie Sarkozy, dass das Endergebnis ein Kompromissfrieden sein muss, und machen Vorschläge, wie dieser Frieden aussehen sollte.
Was die ukrainische EU-Mitgliedschaft anbelangt, so äußerten EU-Beamte und Analysten, mit denen ich im letzten Herbst in Brüssel unter vier Augen sprach, Sarkozys tiefe Skepsis, dass das in der nächsten Zeit möglich sein wird. Das liegt zum Teil daran, dass die Kosten des ukrainischen Wiederaufbaus eine noch nie dagewesene und enorme Belastung für die EU-Haushalte darstellen würden.
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Vor sechs Monaten schätzte die Weltbank, dass sich die Aufwendungen für den Wiederaufbau bereits auf rund 411 Milliarden Dollar belaufen würden – das Zweieinhalbfache des ukrainischen BIP für das Jahr 2022 und mehr als das Zwölffache der gesamten derzeitigen jährlichen Ausgaben der EU für die Hilfe an ihre ärmeren Mitglieder.
Mir gegenüber wurden auch ernste Zweifel an der Fähigkeit der Ukraine geäußert, die Art von internen Reformen durchzuführen, die es ihr ermöglichen würden, die Bedingungen des Acquis Communautaire der EU (Rechte und Pflichten der Mitgliedsländer) auch nur ansatzweise zu erfüllen. Präsident Macron ist der Ansicht, dass die Ukraine, selbst wenn der Frieden erreicht werden kann, "mehrere Jahrzehnte" brauchen wird, um sich zu qualifizieren.
Unter diesen für die Ukraine und den Westen ungünstigen Umständen scheint die reflexartige und diskussionslose Zurückweisung von Sarkozys Äußerungen der Gipfel der Verantwortungslosigkeit, Heuchelei und moralischen Feigheit zu sein und dient auch nicht den wahren Interessen der Ukraine.
In den Jahren 1916 und 1917, als die westliche Front in einer schrecklich blutigen Pattsituation erstarrte und Russland in Revolution und Bürgerkrieg versank, wurden in den europäischen Kriegsparteien dissidente Stimmen laut, die einen Kompromissfrieden forderten. Und in all diesen Ländern wurden auch diese Stimmen als "schändlich" bezeichnet und durch Anschuldigungen wie "Verrat" und "Kapitulation" zum Schweigen gebracht.
Das Ergebnis war, dass drei große europäische Staaten zerstört wurden, die Sieger (mit Ausnahme der Vereinigten Staaten) unwiderruflich verkrüppelt wurden und der Boden für den Faschismus, den Stalinismus und das noch größere Unheil des Zweiten Weltkriegs bereitet wurde.
106 Jahre später würden nur sehr wenige Historiker die Befürworter des Friedens als "schändlich" oder ihre Kritiker als korrekt bezeichnen. Was werden Historiker in hundert Jahren wohl über die gegenwärtige westliche Hexenjagd gegen diejenigen sagen, die Frieden in der Ukraine vorschlagen?
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).