Scheingefechte mit Argumenten von vorgestern

Die Fakten sind vergleichsweise eindeutig, doch der Streit um die Energiepolitik der Zukunft ist noch längst nicht beigelegt

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Die wesentlichen Argumente sind vielfach ausgetauscht worden, und der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung lässt an Eindeutigkeit wenig zu wünschen übrig.

Zwischen CDU, CSU und SPD bestehen hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung unterschiedliche Auffassungen, so heißt es da. Aus diesem Grund ...

... kann die am 14. Juni 2000 zwischen Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen geschlossene Vereinbarung und können die darin enthaltenen Verfahren sowie für die dazu in der Novelle des Atomgesetzes getroffene Regelung nicht geändert werden.

Koalitionsvertrag vom 11.11.2005

Damit gilt vorerst weiterhin der sogenannte Atomkonsens, der für die deutschen Kernkraftwerke eine Regellaufzeit von 32 Jahren und also den endgültigen Ausstieg aus dieser Art der Energiegewinnung vorsieht. Tatsächlich haben sich die ehemaligen Kontrahenten auf alternative Zielvorstellungen verständigt, die im genannten Koalitionsvertrag beschrieben sind und schon von ihren Vorgängern im Erneuerbare Energien Gesetz exakt definiert wurden. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung soll bis 2010 auf mindestens 12,5% und bis 2020 auf mindestens 20% steigen, außerdem ist eine Erhöhung ihres Anteils am Gesamtenergieverbrauch auf 4,2% bis 2010 und auf 10% bis 2020 geplant.

Dass Europa derzeit hinter den Erwartungen zurückbleibt und 2010 statt der beabsichtigten 12% wohl nur 9 bis 10% seines Energiemixes aus erneuerbaren Quellen beziehen wird, irritiert die aufblühende Branche nicht. Sie plant nach Angaben des Bundesverbandes Erneuerbare Energie e.V., bis zum Jahr 2020 mindestens 20% des deutschen Bedarfs an Strom, Wärme und Kraftstoffen aus regenerativen Quellen wie Wind, Sonne, Biomasse oder Geothermie zu decken. Zu diesem Zweck wollen die entsprechenden Unternehmen weitere 200 Milliarden Euro investieren, und jeder fünfte Betrieb plant, die Anzahl seiner Mitarbeiter bis 2010 zu verdoppeln. Schon jetzt arbeiten rund 150.000 Menschen in diesem Bereich. Allein der Bundesverband WindEnergie e.V. rechnet damit, dass die Windkraftkapazität in den nächsten 15 Jahren mit rund 3.000 Milliarden kWh weltweit etwa zwölf Prozent des bis dahin prognostizierten Strombedarfs decken kann. Die Windenergie würde dann mehr zum globalen Strombedarf beitragen als heute Wasserkraft oder Kernenergie.

Schon 2004 konnten durch den Einsatz erneuerbarer Energien beim Kraftstoffverbrauch sowie bei der Strom- und Wärmeerzeugung schätzungsweise 70 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Ohne diesen Beitrag hätte der CO2-Ausstoß in Deutschland nach Berechnungen von „Erneuerbare Energie e.V.“ um rund 8 Prozent höher gelegen. 2005 sollen außerdem Energieimporte im Wert von über 3 Milliarden € kompensiert worden sein.

In 50 Jahren werden auch die Uranvorräte erschöpft sein

Angesichts der technischen Fortschritte und ökologischen Vorteile, steigender Energiepreise und der Unstimmigkeiten auf internationaler Ebene, wie sie sich jüngst zwischen Russland und der Ukraine abzeichneten, plädieren aber auch immer mehr Bundesbürger dafür, die unter der Vorgängerregierung eingeleitete Energiewende fortzusetzen. In einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap antworten auf die Frage „Welche Energiequellen sollte Deutschland stärker zur Energiegewinnung nutzen?“ nur 17% mit Kohle und gerade einmal 25% mit Atomkraft. 81% sprechen sich dagegen für die Bevorzugung erneuerbarer Energien aus.

Gegen die unbedenkliche Weiterverwendung konventioneller Energieformen sprechen nicht nur Sicherheits- und Umweltaspekte, Entsorgungsprobleme oder das Bedürfnis, unabhängig von großen Importmengen zu sein. Der Weltenergierat geht davon aus, dass die Reserven an Erdöl und Erdgas in den nächsten 35 bis 45 Jahren erschöpft sind. Auf Uran könnte die Menschheit noch etwa 50 Jahre und auf Kohle rund 120 Jahre zurückgreifen, aber dann wären auch diese Reserven verbraucht.

Trotz alledem gibt es keine Möglichkeit, die 40 Gigawatt Kernkraftleistung in Deutschland bis zum politisch gewollten Ausstieg im Jahr 2021 durch regenerative Energien vollständig zu ersetzen, und andere Kraftwerke, die keine Treibhausgase ausstoßen, dürften bis dahin ebenfalls nicht zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund haben die Unionsparteien erneut eine Energiediskussion vom Zaun gebrochen und mit dem Hinweis auf die Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit von Atomkraftwerken für einen Ausstieg aus dem Ausstieg plädiert.

Bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode, wenn die nächsten Meiler abgeschaltet werden müssten, verlangt beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber eine „breite gesellschaftliche Debatte“, die „ohne ideologische Festlegungen“ geführt werden soll. Schade nur, dass sich die Konservativen derzeit selbst im Rückwartsgang befinden, während sie gleichzeitig versuchen, die verwitterten „Atomkraft – Nein danke!“-Aufkleber von den Heckscheiben des politischen Gegners zu kratzen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zwar ihre Bereitschaft erklärt, sich an die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages zu halten, doch viele hochrangige Parteifreunde können sich auch diesmal nicht entscheiden, ob sie lieber Steigbügelhalter oder Königsmörder sein möchten, und schießen schon mal prophylaktisch quer. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günter Oettinger hält Atomkraftwerke in seinem Bundesland auf absehbare Zeit für „unverzichtbar“, sein niedersächsischer Amtskollege Christian Wulff findet es „Wahnsinn“, ausgerechnet die deutschen Meiler vom Netz zu nehmen, der hessische Regierungschef Roland Koch denkt vorsichtig über Neubauten nach, und der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Bosbach, erklärt:

Welchen Sinn macht es, ein modernes und sicheres Kraftwerk in Deutschland abzuschalten, wenn man nachfolgend Atomstrom aus ausländischen Kraftwerken importiert, die nicht zwangsläufig so sicher sein müssen wie unsere?

Wolfgang Bosbach

Stellungnahmen wie diese entlocken selbst den Grünen, die nach den anstrengenden Regierungsjahren ansonsten Ruhe und Erholung suchen, ein plötzliches Lebenszeichen. Renate Künast erinnert sich jedenfalls noch deutlich, dass der Atomausstieg einst zum grünen Inventar und nicht in die schwarz-rote Verhandlungsmasse gehörte. So beschwört die Ex-Ministerin folgerichtig das goldene Zeitalter der außerparlamentarischen Opposition:

Sollte die große Koalition beim Atomausstieg wackeln, werden die Grünen den Protest auf die Straßen tragen. Wir werden den Atomausstieg mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.

Renate Künast

Den Vorsprung nicht verspielen

Die aktuellen Auseinandersetzungen erscheinen trotzdem nur wie ein müder Reflex. Grundsatzdebatten von einst können heute nicht mehr geführt werden, weil sich die Parteien energiepolitisch angenähert und die ideologischen Blockaden, die für den bayerischen Landesfürsten noch Realität sind, in vielen Fällen längst über Bord geworfen haben. Selbst Hardliner und Lobbyisten sehen in der Nutzung der Atomenergie keine langfristige Zukunftsperspektive, zumal auch die meisten anderen Länder ernsthaft nach Alternativen suchen. Nur in einigen wenigen Staaten wie Indien, China oder Südafrika könnte das Erfolgsmodell früherer Jahre noch einmal greifen, aber auch dort wird man irgendwann auf konventionelle und schließlich auf regenerative Formen der Energiegewinnung zurückgreifen müssen.

Für Deutschland wird es darauf ankommen, den Vorsprung, der in den vergangenen Jahren wenigstens auf diesem Gebiet erzielt wurde, nicht leichtfertig zu verspielen und das Thema nicht zum Spielball koalitionsinterner Kraftproben verkommen zu lassen. Die Frage, ob es sinnvoll sein kann, die Laufzeiten einzelner Atomkraftwerke befristet zu verlängern, muss irgendwann gestellt, darf aber nicht dahingehend beantwortet werden, dass der Bau moderner Gas- oder Kohlekraftwerke und vor allem die Forschung und Entwicklung im Bereich erneuerbarer Energien verzögert oder behindert wird.

Vorurteilsfreie und zielorientierte Diskussionsbeiträge sind also gefragt, und die gibt es hoffentlich nicht erst auf dem für April anberaumten Energiegipfel der Bundesregierung, sondern schon auf der Jahreskonferenz Erneuerbare Energie 2006, die am 15. und 16. Februar in Berlin stattfindet. Die Veranstalter wollen hier eine Plattform für den Erfahrungsaustausch zwischen Politik, Energiewirtschaft, Wissenschaft und Medien schaffen und die offenen Fragen zur Energieversorgung als „Querschnittsaufgabe von Sicherheits-, Außen-, Wirtschafts- und Umweltpolitik“ betrachten.

Auch der neue Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) hat mittlerweile einen bedenkenswerten, weil einfach und schnell umzusetzenden Vorschlag zur teilweisen Lösung der drängenden Probleme gemacht. Deutschland soll nicht nur Spitzenreiter in der Nutzung erneuerbarer Energien, sondern auch „Weltmeister in der Disziplin Energieeffizienz“ werden.

Die umweltfreundlichste und sicherste Kilowattstunde ist die, die nicht verbraucht wird. (...) Es geht nicht um eine große, es geht um viele kleine Lösungen, wo man sich häufig eigentlich fragt, wieso das nicht schon langst Standard ist. Würde man beispielsweise die Pumpen der Heizungsanlagen in den privaten Haushalten drehzahlsteuern, könnten bei einer Abdeckung von 60 Prozent des Bestandes die Kapazität von ein bis zwei Kernkraftwerken eingespart werden.

Sigmar Gabriel

Und ein bis zwei überflüssige Stellungnahmen ließen sich bestimmt auch vermeiden, wenn die Beteiligten die gemeinsame Entwicklung einer nachhaltigen Energiepolitik ins Zentrum ihres Bemühens stellen würden. Persönliche Eitelkeiten, kleine Machtdemonstrationen und die mediale Dauerpräsenz könnten dabei vorüberhegend auf der Strecke bleiben, aber das werden die Wählerinnen und Wähler aller Wahrscheinlichkeit nach verschmerzen können.