Schuldenbremse-Reform: Schreckgespenst Frankreich
Jetzt ist auch Friedrich Merz (CDU) offen für eine Reform. Frankreich demonstriert, was ohne Schuldenbremse schiefgehen kann. Über ein Duell der Konzepte.
Die Schuldenbremse soll weg. Zumindest in ihrer derzeitigen Form. Insbesondere führende Politiker der Grünen und der SPD, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck, haben sich für eine Reform ausgesprochen.
Die Begründungen für Anpassungen des Mechanismus variierten jeweils.
Mal nahm man Hochwassergefahren zum Anlass, mal die Energiekrise, mal die Schwäche der Infrastruktur und zuletzt sogar den Wahlsieg von Donald Trump (Kathrin Göring-Eckhart, Grüne).
Aber nicht nur innerhalb der verbliebenen deutschen Minderheitsregierung – die zumindest nach Darstellung der FDP an der Schuldenbremse-Reform scheiterte – ist man bereit, die Bremse zu lockern.
Merz wird weich
Auch innerhalb der CDU, die die Schuldenbremse 2009 unter Kanzlerin Angela Merkel selbst eingeführt hatte, gibt es wachsende Unterstützung für eine Anpassung des in Deutschland (eigentlich) grundgesetzlich verankerten Haushaltsmechanismus.
So hat sich auch der amtierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), bereits 2023 dafür ausgesprochen – und kürzlich deutete zur großen Überraschung der Medien auch Fraktionschef Friedrich Merz an, dass er einer Reform offen gegenübersteht.
In einem Interview mit der britischen Financial Times betonte zuletzt auch Bundesbankchef Joachim Nagel die Notwendigkeit, mehr fiskalischen Spielraum für strukturelle Investitionen zu schaffen, um die Modernisierung der Infrastruktur und höhere Verteidigungsausgaben zu ermöglichen.
Zu diesem Zweck nannte er die Reform der Schuldenbremse einen "klugen Ansatz". Zumal in einer Zeit, so Nagel, in der die deutsche Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gesunken sei und sich der im EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegten Grenze von 60 Prozent annähere.
Rechnungsprüfer misstrauisch
Angesichts dieser Meldungen scheint eine Reform der Schuldenbremse bereits beschlossene Sache. Nur die Behörden, die die Aufgabe haben, die deutsche Haushaltspolitik zu überwachen, scheinen noch im gestern verhaftet zu sein.
In der sogenannten "Münchner Erklärung", die aus der Frühjahrskonferenz der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder vom 24. bis 25. April 2023 hervorgegangen ist, erteilen die Unterzeichner einer Aufweichung der Schuldenbremse eine klare Absage.
Die Schuldenbremse erlebt seit 2020 eine "fortwährende Bewährungsprobe", heißt es in dem Papier der Präsidenten der Rechnungshöfe. Zunächst seien Notlagenkredite umfassend genutzt worden, um die finanziellen Auswirkungen der Corona-Pandemie abzufedern.
Den Umstand, dass in der Zwischenzeit auch andere Krisen als Begründung für außergewöhnliche Notsituationen herangezogen wurden, beäugen die Rechnungsprüfer mit Misstrauen.
Denn Notlagenkredite, so betonen die Unterzeichner, sollten nur dann aufgenommen werden, wenn eine tatsächliche Notlage bestehe, die sich der Kontrolle des Staates entziehe und eine erhebliche Beeinträchtigung der Finanzlage darstelle.
Vorrangig sollten vorhandene Rücklagen und Einsparmöglichkeiten genutzt werden. Für den möglichen Fall notwendiger Kredite fordern die Rechnungshöfe zudem, dass deren Planung, Inanspruchnahme und Verwendung gegenüber den Parlamenten transparent dargestellt wird.
In puncto Reform der Schuldenbremse heißt es in der Erklärung überdeutlich:
(D)ie verfassungsrechtliche Schuldenbremse [ist] einzuhalten und darf nicht aufgeweicht werden. Auch eine Umgehung der Schuldenbremse durch Auslagerung der Kreditaufnahme aus den Kernhaushalten, etwa in Fonds, Nebenhaushalten oder andere Konstruktionen, gilt es zu vermeiden. Eine wirksame Schuldenbegrenzung ist Garant einer finanziell nachhaltigen und generationengerechten Haushaltspolitik.
Münchner Erklärung
Die sichtbaren Schwachstellen, die sich in vergangenen Krisen offenbart hätten, gelte es zu beseitigen und in Zukunft zu vermeiden. Dazu zählen die Rechnungshöfe die Einführung von Erfolgskontrollen für Krisenmaßnahmen, die Entwicklung leistungsfähiger IT-Infrastrukturen für schnelle und gezielte Hilfsprogramme sowie die klare Regelung von Unterstützungsprogrammen.
Ziel müsse es sein, für künftige Krisen besser gewappnet zu sein und die kritische Verwaltungsinfrastruktur zu stärken.
Apropos Infrastruktur und kritisch: den Formulierungen der Münchner Erklärung steht allerdings gegenüber, dass Deutschland angesichts des inzwischen auf 400 Milliarden bezifferten Infrastruktur-Defizits dringend Investitionen mobilisieren muss. Eine Reform scheint deshalb unabwendbar.
Die Kernfrage ist aber, wie diese aussehen soll. Denn unser Nachbarland Frankreich macht gerade vor, dass ein undifferenziertes "einfach mehr Schulden machen" desaströse Konsequenzen nach sich ziehen kann.
Frankreich: "Grausame" Finanzlage
Die Zeitung Le Monde warnte bereits Ende September vor den Folgen einer undisziplinierten Haushaltspolitik, die die Grande Nation an den Rand des finanziellen Ruins treiben könnte. Mit 3 Billionen Euro (inzwischen 3,2 Billionen) habe die Staatsverschuldung Frankreichs ein "alarmierendes" Niveau erreicht, heißt es darin.
Der Rechnungshof des französischen Gerichtshofs habe damals bereits gewarnt, dass die Sanierungsmaßnahmen der (inzwischen gestürzten) Regierung um Michel Barnier auf "unrealistischen Zielen" basierten. Ein wesentlicher Faktor für diese Schieflage sei die Weigerung des Präsidenten gewesen, Steuern zu erhöhen. Allein durch Ausgabenkürzungen sei die Situation nicht in den Griff zu bekommen, so der Rechnungshof.
Das liegt vor allem an den hohen Zinslasten, die Befürworter der Schuldenbremse immer wieder als Argument anführen. Auch der geschasste Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte bereits im November 2023 auf diesen Zusammenhang zwischen Zinslast, Steuererhöhungen und "stranguliertem Haushalt" hingewiesen.
Jene Zinsbelastung des französischen Staates belief sich 2024 auf 50 Milliarden Euro – eine Summe, die die gesamten Ausgaben für die nationale Bildung überstieg. Angesichts steigender Zinsen rechneten Beobachter damals damit, dass Frankreich bis 2030 den größten Anstieg der Schuldenquote im Verhältnis zum BIP unter den europäischen Ländern verzeichnen könnte.
Innerhalb von zehn Monaten war das Haushaltsdefizit von 4,4 auf 5,6 Prozent des BIP angewachsen.
Interessant: Le Monde verdeutlichte die "besonders grausame" finanzielle Schieflage Frankreichs durch einen Vergleich zu Deutschland. So hatte sich die Zinsspanne zwischen französischen und deutschen Anleihen seit Juni 2024 um 50 bis 80 Basispunkte vergrößert.
Diese Entwicklung führte zur Herabstufung des Ratings französischer Schulden von AA auf AA- durch S&P, was die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der Regierung erschütterte.
Der Präsident des Rechnungshofs, Pierre Moscovici, appellierte an die Regierung, es ihren europäischen Partnern gleichzutun, die bereits begonnen hätten, ihre Defizite und Schulden abzubauen.
Wie passt das zusammen damit, dass Deutschland Schulden aufbauen will?
"Durch Sparsamkeit erdrosselt"?
In den Medien werden bereits Vergleiche zwischen Frankreich und Griechenland gezogen. Der ehemalige Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hatte bereits 2022 vor "dem schwarzen Schwan eines Bonitätsverlusts" gewarnt, der auch Deutschland ereilen könne.
Aus französischer Sicht ist dieses als unwahrscheinlich geltende Ereignis jedenfalls nicht in Sicht. Ein weiterer, kürzlich in Le Monde erschienener Artikel fasst die Situation der beiden Länder folgendermaßen zusammen:
"Frankreich wird durch seine Schulden erdrosselt, Deutschland durch seine Sparsamkeit."
Autor Stéphane Lauer schreibt:
Solange die "Deutschland AG" die Globalisierungsdividende einfuhr, war diese Bremse tugendhaft und verhinderte, dass die Exporteinnahmen in unkontrollierten Ausgaben versickerten. Doch innerhalb weniger Jahre haben sich die Stärken des europäischen Musterschülers in existenzielle Schwächen verwandelt.
Die Industrie hat keinen Zugang mehr zu russischem Gas, das ihr wettbewerbsfähige Produktionskosten ermöglichte. Zunehmende Handelsspannungen und die Verlangsamung des Welthandels gefährden die Handelsüberschüsse.
China, lange Zeit das Eldorado für "Made in Germany", hat technologisch aufgeholt und meidet deutsche Produkte, insbesondere die symbolträchtigsten wie die der Automobilindustrie.
Le Monde
Ist damit das Kriterium einer "Notlage (…) die sich der Kontrolle des Staates entzieht und eine erhebliche Beeinträchtigung der Finanzlage darstellt" (Bundesrechnungshof) gegeben?
Oder führt die Nichtbeachtung der "höheren Weisheit der Schuldenbremse" (Christian Lindner) in französische Verhältnisse? Oder ist es eben jene Verhältnismäßigkeit, die in dieser Diskussion zu kurz kommt?