Schule der Nation: Immer diese "Minderleister"
Sind Schulsystem und Lernkonkurrenz unschuldig am negativen "Bildungstrend 2021"? Ein Nachtrag zum Zweiteiler "Schule der Nation" mit Antworten auf Forenbeiträge zum Stichwort "Intelligenz".
Im zweiteiligen Aufsatz zur "Schule der Nation" wurde hier unlängst eine "systemrelevante" Leistung dieser bürgerlichen Institution so zusammengefasst:
Die Selektion anhand des zu erwerbenden Wissens, also die Herstellung entsprechender Schülertypen und Schülerzahlen, ist zwar das praktische Werk des Bildungswesens selbst. Es stellt sich den Lehrenden und Lernenden ideologisch aber so dar, als sei dies nur die Antwort der Schule auf von ihr ziemlich unabhängige Voraussetzungen, die gemeinhin auf den Namen "Begabung" hören. (…) Die Schule der Nation hinterlässt also etwas, das den sachlichen Lehrstoff und auch die ideologischen Inhalte überdauert.
Nämlich die große Lehre aus ihrem Verfahren, mit dem sie ihre Absolventen veranlasst, das in den Zeugnissen und deren Rechtsfolgen ausgesprochene Urteil als Selbsturteil zu übernehmen.
Teil 1: Schule der Nation
Illustriert wurde diese Zusammenfassung unter anderem mit zwei Phänomenen, nämlich erstens mit "der populären Redeweise, es könne nicht jeder Professor werden", und zweitens mit dem "Lehrerzimmer-Spruch, dass man aus einem Ackergaul kein Rennpferd machen kann". Der fällt dann, wenn Pädagogen "einen Schüler danach taxieren, ob er ‚Gymnasiast‘, ‚Real‘- oder ‚Hauptschüler‘ ist, und ihm je nach Spezies eigene ‚Lernkanäle‘, Grenzen des Verstandes oder eine falsche Schulwahl zuschreiben".
"Nivellierung"
Auch in den wenigen Forenbeiträgen zu dem zweiteiligen Text finden sich solche Illustrationen. "Mathematiker" zum Beispiel fragt:
In welcher geistigen Blase muss man eigentlich leben, um nicht zu erkennen, dass die Menschen auch unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen, die sich nicht durch längeres Lernen nivellieren lassen? Ich tippe da auf mangelhafte Selbstreflexion (des Autors).
Wenn der Kommentator sich beim Autor dahingehend verrechnet, dass dieser die Menschen "nivellieren" wolle, verdankt er dies seiner Abneigung gegen "sozialistische Gleichmacherei", die er auch dort entdeckt, wo sie gar nicht vorkommt. Der Autor war lediglich bemüht, den ungemütlichen Zusammenhang zwischen Lernkonkurrenz und Konkurrenzgesellschaft aufzuzeigen und zu kritisieren.
Der Nutzer begegnet solchen Erläuterungen – rein argumentativ gesehen – unangemessen, weil er für selbstverständlich nimmt, dass sich in den unterschiedlichen Klassen und Schichten nur "menschliche" Unterschiede abbilden.
Forumsteilnehmer "Grober_Unfug" macht sich am Beispiel des Abiturs dann Gedanken über die Folgen der "Nivellierung":
Der Wert des Abiturs ist im freien Fall. (…) Es ist eine üble Noteninflation, der die Unis mit altbewährtem Rausprüfen (…) der Studienanfänger in den MINT-Fächern begegnen.
Das kann "Grober_Unfug" gut verstehen – angesichts einer verfehlten Bildungspolitik, die angeblich "in der Heranbildung einer undifferenzierten Masse an gleich befähigten Spitzenstudenten (besteht), die es so nie gab und die es so nie geben wird, weil nun mal nur fünf bis maximal zehn Prozent eines Jahrgangs für ein richtiges Studium intellektuell geeignet sind. (…) Nicht nur das Abi ist keine Hürde für minderbegabte Minderleister, sondern auch die Hochschulen sind häufig keine Hürde mehr."
Ein Segen, dass sich wenigstens die MINT-Fächer "altbewährt" dem Ansturm der "Minderleister" entgegenstemmen – aber wie lange noch? Interessant, was auch hier alles für selbstverständlich genommen wird. Die Heranbildung und Befähigung von möglichst vielen jungen Menschen zu wissenschaftlichen Leistungen wäre schon deshalb "grober Unfug", weil sie in der vorhandenen Produktionsweise gar nicht gebraucht werden.
Dass trotzdem 50 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur streben – und so wohl oder übel dazu beitragen, dass sich dessen Niveau entsprechend verändert –, spricht ebenfalls nicht gegen das System, sondern gegen die "Minderbegabten".
Die bemängelten Bildungsdefizite haben aus dieser Sicht auch nur insofern mit der Schule zu tun, als diese "keine Hürden" mehr errichte. Dabei wollen die Bildungswilligen der Sache nach doch offensichtlich den Arbeits- und Lebensverhältnissen ausweichen, die die beliebte Marktwirtschaft in großer Zahl und zum Leidwesen der Betroffenen im Angebot hat.
Etwas freihändig argumentiert "Grober_Unfug" bei den "maximal zehn Prozent" der "intellektuell zum richtigen Studium Geeigneten" – wo die Bildungspolitik inzwischen eine Studienanfänger-Quote von mehr als der Hälfte eines Geburts-Jahrgangs verzeichnet und 60 Prozent davon bis zum Abschluss begleitet.
Das Warum dieses staatlichen Umgangs mit dem "Humankapital" in einem "rohstoffarmen Land" braucht wieder nicht zu interessieren. Solche Zahlen dürften vielmehr weiteren Anlass geben, die misslichen Folgen der kapitalistischen Konkurrenz und ihrer Krisen aus einem angeblichen Fehlverhalten des menschlichen Inventars zu deduzieren, das sich die Hände nicht schmutzig machen und nur noch für Mindestlohn arbeiten will.
Von da aus ist der Schritt schnell gemacht zu einem Vorwurf an die verantwortlichen Politiker, die dies alles aus Gründen, die nicht analysiert, sondern als verwerfliche gedeutet werden, zulassen, und damit die Nation vergeigen.
"Bildungstrend 2021"
Zum Thema passt auch dies: Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hat gerade, nach 2011 und 2016, seine dritte Studie "Bildungstrend 2021" vorgestellt, die bei den Abgängern der Grundschule schlechtere Ergebnisse gegenüber den Vorjahren anzeigt.
Je nach Bundesland erreichen in Deutsch und Mathematik zwischen 13 und 35 Prozent der Schüler – im Bundesdurchschnitt jeder Fünfte – nicht die bildungsbehördlich vorgegebenen Mindeststandards. Dem kann man zweierlei entnehmen: Erstens produziert das Schulsystem, hier Abteilung Primarbildung, einen hohen Anteil an Schülern, denen die Voraussetzungen zu einer weiterführenden Bildung abgehen, und kann mit ihrem eigenen Werk offensichtlich leben.
Zweitens ist die Bildungspolitik in periodischen Abständen darüber nicht amüsiert und fordert, künftig alles genauso, nur viel besser zu machen. Das verweist darauf, dass die Klage über die Bildungsdefizite der Jugend wenig konkrete, dringliche Anlässe hat und mehr ein Jammern auf abstrakterem Niveau darstellt.
Den Inhalt dazu liefern dann Unternehmer, die für ihre kostenbewussten Lohnzahlungen gern noch rentablere Arbeitsqualität hätten, oder Wirtschaftsexperten und Politiker, die ihre internationalen Konkurrenzerfolge am liebsten garantiert sehen möchten. Oder eben die zitierten Kritiker im Telepolis-Forum, die allerhand Miseren heraufziehen sehen, weil "woke" Pädagogen und "linke" Politiker die natürlichen "Begabungen" fehlbehandeln.
Was ist Intelligenz?
So zu denken, zeugt nach Ansicht des Autors allerdings nicht vom Fehlen der Intelligenz, sondern von Fehlern bei ihrem Gebrauch. "Mathematiker" und "Grober_Unfug" sind schnell dabei, ihren Zeitgenossen dieselbe abzusprechen, und zeigen nebenbei, dass sie die entsprechende Lektion der Schule gelernt haben.
Dass die Intelligenz einen angeborenen und einen erworbenen Anteil hat, gilt als festes Allgemeinwissen, das zugleich eingesteht, gar nicht genau fassen zu können, was diese Geistestätigkeit eigentlich darstellt.
Auf jeden Fall sei sie das, was der Intelligenztest misst und was die Begabung enthüllt, sagen Experten. Sie liefern damit aber nur den Schein einer Erklärung, indem sie diverse Leistungen des Denkens gleich doppelt aufmarschieren lassen: einmal als Erscheinung und noch einmal als deren tiefen Grund, der aber gar nicht unterschieden von ihr bestimmt wird.
Der Autor hält es da lieber mit dem Philosophen Hegel, der meint, "die wahrhafte Intelligenz (nenne) man mit Recht auch Erkenntnisvermögen; nur dass der Ausdruck Vermögen die schiefe Bedeutung einer bloßen Möglichkeit hat" (§445 Enzyklopädie), und damit ausdrückt, dass die Verstandestätigkeit jedermanns Sache ist. Hegel hätte sich dagegen verwahrt, das Wort "intelligent" synonym zu "klug" oder antonym zu "dumm" zu verwenden und beides auf einer Glockenkurve abzubilden.
Intelligenz schützt also auch nicht vor grobem Unverstand. In den besprochenen Fällen besteht der darin, sich geistig in Verhältnissen zu bewegen, deren Beschaffenheit man nicht in den dafür maßgeblichen Gründen ermittelt, sondern gemäß vorhandener Menschenbilder deutet.
Dazu lernt man einiges anhand der Lehrplänen in der Schule. Im Leben gewinnen die unterrichteten Weltsichten dann ihre Plausibilität als gute Gründe der Anpassung, zu der die Konkurrenzgesellschaft ohnehin nötigt.
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