Schutzpflicht des Staates: Blankoscheck für Grundrechtsentzug?

Seite 2: Zivilrechtliche Klima-Klagen scheitern – in Deutschland

Das Erstreiten und die Feststellung jener Schutzpflicht des Staates spielt auch eine zentrale Rolle bei den sogenannten Klima-Urteilen, denen internationale Medienberichte historischen Rang zusprechen, zuletzt etwa im Fall eines Urteils im US-Bundesstaat Montana.

In Deutschland können vergleichbare Ansprüche derweil zivilrechtlich noch nicht vor Gericht geltend gemacht werden, wo es darum geht, private CO2-Emittenten für ihre Klimabelastung zur Verantwortung zu ziehen. Bekannte Fälle sind die Klagen der Deutschen Umwelthilfe und Greenpeace gegen die Verbrenner-Produktion von BMW, VW und Mercedes-Benz.

Beispielhaft zu nennen ist die Reaktion des Landgerichts Stuttgart im Fall Mercedes-Benz. Das Gericht bestätigt zwar prinzipiell eine mögliche Schädigung der Klägerin durch politische Klimaschutzmaßnahmen ("CO2-Budgets"), weist die Klage jedoch ab. Als Grund führt Stuttgart die nur "mittelbaren Auswirkungen" auf das Persönlichkeitsrecht sowie die Ungewissheit angesichts einer möglichen (globalen) Verringerung von CO2-Emissionen an.

Vor allem aber beruft sich das Gericht auf seine Rolle als Teil der rechtsprechenden Gewalt, die der Kompetenz des Gesetzgebers zur konkreten Definition von Maßnahmen nicht vorgreifen kann. Also auf die Gewaltenteilung.

Was der Staat darf: Das beliebte Beispiel Straßenverkehr

Der Kasseler Jurist Jens Christian Keuthen hat sich 2015 der Schutzpflicht des Staates und ihren Grenzen in Bezug auf den Straßenverkehr gewidmet – einem Bereich der Rechtsprechung, der während der Corona-Krise oftmals als Beispiel für vermeintlich gleichgeartete Grundrechtseinschränkungen herangezogen wurde.

Namentlich geht es um die "abschnittsbezogenen Geschwindigkeitsüberwachungen". Keuthen schreibt:

Auch wenn die Grundrechte zwischen Privatpersonen ausdrücklich keine Pflichten festlegen, so begrenzen sie doch ihre jeweiligen Handlungsspielräume. Im Grundsatz gilt: Die grundrechtliche Freiheit des einen beschränkt die des anderen, wobei die Freiheit für jeden in gleichem Maße besteht.

Jens Christian Keuthen: Die abschnittsbezogene Geschwindigkeitsüberwachung und ihre verfassungsrechtliche Bewertung

Die staatliche Schutzpflicht dürfe deshalb nicht dem Anspruch folgen, eine "absolute Sicherheit" zu gewährleisten, wo diese den "Freiheitsrechten Dritter" entgegensteht. Eingreifen dürfe der Staat folglich nur dann, wenn es für den "Rechtsgüterschutz" zwingend erforderlich sei. Im Falle des Straßenverkehrs orientiere er sich letztlich daran, was die Mehrheit zu akzeptieren bereit ist:

Auch wenn gesellschaftliche Anschauungen dem Wandel unterliegen, so ist der Straßenverkehr derzeit trotz seines erheblichen Gefahrenpotentials gesellschaftlich im Grundsatz akzeptiert und unterliegt weniger strengen Maßstäben als etwa die Kernenergie. Für den Staat folgt daraus, dass er nicht sämtliche Risiken bis auf ein geringstmögliches Restrisiko reduzieren muss. Er ist aber verpflichtet, die aus dem allgemein akzeptierten Straßenverkehr resultierenden Gefahren für die Verkehrsteilnehmer und Dritte auf ein Mindestmaß zu begrenzen.

Jens Christian Keuthen

Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs verweist Keuthen unter anderem auf den "verfassungsrechtlichen Rang des betroffenen Schutzgutes":

"Art und Umfang der zu ergreifenden Schutzmaßnahmen (…) bestimmen sich insbesondere nach der Sicherheitsempfindlichkeit und dem verfassungsrechtlichen Rang des betroffenen Schutzgutes sowie der Art, Reichweite, Intensität und Wahrscheinlichkeit des drohenden oder sich bereits konkretisierten Übergriffs.

Jens Christian Keuthen

Was bedeutet das nun im Fall der Klima-Schutzpflicht, die sich auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit beruft – ein Recht, das laut BVerfG einen "Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung" darstellt?