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Schweden: Initiativen gegen die Gangkriminalität

Taekwondotrainer Marwan Mansor mit seinem Sohn Mussa. Bild: Jens Mattern

Bandenkriege in den Vorstädten sind ein Hauptthema im Wahlkampf

Die ständigen Schießereien in den Vorstädten der großen und auch kleineren Städte und die dahinterstehenden Bandenkriege sind Thema Nummer eins für die Wahl im kommenden September.Dieser Form von Kriminalität und der damit verbundenen "Segregation", dem abgesonderten Leben der Migranten in Brennpunktvierteln, hat die sozialdemokratische Regierungschefin Magdalena Andersson den Kampf angesagt [1].

Für Schlagzeilen sorgt immer wieder Linköping. [2] Eine Kommune – so wird die Verwaltungseinheit in Schweden genannt – mit über 100.000 Einwohnern, einer renommierten technischen Universität und guten Jobs in der technischen Branche.

Skäggetorp, ein Stadtteil von Linköping. Bild: Jens Mattern

Gleichzeitig liefern sich kriminelle Gangs in den drei Brennpunkten Skäggetorp, Berga und Ryd blutige Auseinandersetzungen. Zwölf Schießereien und fünf Tote sind die Bilanz des letzten Jahres.

Auch im Januar dieses Jahres starb ein Mann im Kugelhagel. Er hatte zweimal die Seiten gewechselt – vor zehn Jahren wirkte er als Sozialarbeiter, um kriminelle Jugendliche auf den rechten Weg zu bringen, kam aber selbst vom Weg ab und stieg bei den "Bandidos" ein und in deren Hierarchie auf, vor einem Jahr nahm er dann an einem Aussteigerprogramm teil und kehrte der kriminellen Existenz den Rücken.

Die bürgerlich regierte Kommune will nun mit einem umfangreichen Programm gegen die Gewalt halten. Mehr Kameras, mehr Kontrollen, mehr Aufklärung an den Schulen, mehr Dialog mit den Bürgern, mehr Sozialarbeiter in den schlechten Vierteln, Gelder für das Aussteigerprogramm – umgerechnet knapp acht Millionen Euro [3] sollen in diesem Jahr investiert werden.

Private Initiativen: Kampfsport als Hilfe?

Es gibt jedoch auch private Initiativen, die die Situation in den Vorstädten verbessern wollen, wo bereits Kinder im Alter von acht Jahren als Drogenkuriere angeworben werden. Eine davon ist der Club Aktivitetshuset Taekwondo [4], der mit vollmundigen Plakaten in dem heruntergekommenen Einkaufszentrum von Skäggetorp wirbt: "Trainiere mit den Besten, trainiere mit einem olympischen Goldmedaillengewinner."

Der gebürtige Libyer Marwan Mansoor, Träger des vierten schwarzen Gürtels in der koreanischen Kampfkunst, ist der Leiter des Clubs. Die Plakate versprechen nicht zu viel, es gibt internationale Erfolge seiner Schüler, sein zwölfjähriger Sohn Mussa, der beim Lokaltermin dabei ist, ist schwedischer Meister [5] in seiner Altersklasse.

Der Endvierziger, der 2006 nach Schweden emigrierte, empfängt in einer Grundschule in Skäggetorp, einem typischen Flachbau, wo er gewöhnlich in Taekwondo unterrichtet. Vor acht Jahren begann er mit der Trainingsofferte in Skäggetorp, wo hauptsächlich Migranten wohnen, in einer Schule liegt der Ausländeranteil heute bei 98 Prozent.

Die Kinder müssen etwas tun. Wir können das auch nicht so klassisch aufziehen mit Anwesenheitspflicht wie in anderen Vereinen; manchmal kommen sie, manchmal nicht.

Marwan Mansoor

Taekwondo sei ein "taffer" Sport. Manchmal wäre das Training auch hart, aber das könne nicht kontinuierlich so betrieben werden, es wird auch mit Spiel und Spaß abgewechselt.

Eine wichtige Entscheidung war es, das Training kostenlos anzubieten, da viele Eltern von Sozialhilfe leben. Die Kommune bezahle nichts, vielmehr zahlt der Verein die Miete für die Nutzung der Sporthallen, auch in einem weiteren Viertel wird das Training angeboten. Die Kommune unterstützte nur einzelne besondere Veranstaltungen.

Manche Eltern würden finanziell etwas beisteuern. Wichtig sei die familiäre Verbindung und das Einbeziehen der Eltern, darum werden auch Feiern und Grillfeste abgehalten.

Seit Beginn gebe es Kritiker, die dem Verein vorwerfen, die Kinder über den Kampfsport für die Gewalt auszubilden. Die Familie habe die Verantwortung für die Erziehung der Kinder, so die Entgegnung des Kampfsportlers.

Die Kinder können ihre Energie bei uns herauslassen, aber eben mit Regeln. Es geht darum, Wettkämpfe zu gewinnen, nicht sich auf der Straße zu schlagen. Sie bekommen ein stärkeres Selbstbewusstsein durch den Sport.

Marwan Mansoor

Die "Netzwerke" (Selbstbezeichnung der kriminellen Banden) nutzten die Kinder für ihre schlechten Absichten. "Wir helfen mit dem Training, mit der Begeisterung für den Sport, dass sie nicht diesen Weg einschlagen", so Mansoor, der als Dolmetscher für Arabisch sein Geld verdient.

"Mamas" versuchen es mit Kunst und Kultur

Weit sichtbarer in der Stadt und in den Medien ist die Initiative "Mamas der Welt [6]", der finnischstämmige Künstlerin Sira Jokinen Lisse. Jokinen Lisse, zugeschaltet via Skype, hält Kunst und Kultur für ein wichtiges Mittel gegen die Segregation.

Begonnen hat die Initiative als Kunstprojekt in der Mittelstadt Motala 2016, ihrem Wohnort. Die Finnin brachte Mütter verschiedener Kulturen zusammen, die sich oft nicht durch Sprache ausdrücken konnten, jedoch mittels verschiedener Kunsttechniken, die sie teils aus ihrem Heimatland kannten. Der Fokus ihrer Arbeite liege neben drei weiteren Städten auf dem Viertel Skäggetorp.

Der kulturelle Aspekt käme bei dem Gespräch um die Segregation zu kurz, so die ehemalige Kommunalrätin, die für die Sozialdemokraten tätig war. Sie glaubt, dass die Art und Weise, wie die Kommune in Linköping agiere, nicht funktioniere. Gegenüber dieser hat sie einige Vorbehalte.

Es gebe viele Abteilungen in den Behörden und somit ein Problem mit der Zuständigkeit. Den Politikern fehle hingegen die Kapazitäten, die Entscheidungskompetenz. Die Beamten übernähmen die Rolle, die die Politiker übernehmen sollen.

"Papierkonstruktionen"

Die Beamten hätten im Gegensatz zu den Lokalpolitikern kaum Kontakt zu den Mitbürgern, sie bauten "Papierkonstruktionen". Man entscheide und beschließe mit unzureichenden Kenntnissen.

Zudem betrachte die Kommune mit ihren Sozialdiensten die Arbeit der "Mamas der Welt" als Konkurrenz. Die Sprachkenntnisse der Migranten werden als Schwäche angesehen, es gebe eine postkoloniale Attitüde ihnen gegenüber.

Auch wüsste die Kommune nicht mit den nun offensiveren Auftritt der 300 Mama-Mitglieder umzugehen, denn lange seien die Mütter in Skäggetorp ruhig gewesen. Dies hat seine Gründe.

"Viele kommen von patriarchalischen Diktaturen mit Misstrauen gegenüber Obrigkeiten", so die Aktivistin mit den blonden Rastazöpfen. Die Frauen lebten lange in Schweden in einer Parallelgesellschaft, ohne zu wissen, wie das Land oder eine Demokratie funktioniere.

Dadurch haben sie nicht den Glauben, dass man etwas verändern kann.

Sira Jokinen Lisse

Es gebe viele Familien, die Skäggetorp noch nie verlassen hätten. Als Reaktion auf die fehlenden Perspektiven gebe es teils eine Hinwendung zu den Traditionen des Herkunftslandes, wozu auch der Islam gehöre. In Linköping gibt es jedoch bislang keine offizielle Moschee.

Unterschiede der Generationen

Dabei hätten die Mütter eine zentrale Rolle bei der Beeinflussung der Kinder. Allerdings könnten diese, sehr viele sind alleinerziehend, oft die schwedische Sprache nicht, teils wären es Analphabeten. Vor allem diejenigen, die in der Bürgerkriegszeit in Somalia aufgewachsen wären.

Die Kinder verfügen jedoch eher über die Kenntnisse der schwedischen Sprache und auch des Systems.

Somit gibt eine veränderte Machtbalance im Verhältnis Mutter Kinder. Sie übernehmen die Rolle der Erwachsenen.

Sira Jokinen Lisse

Dadurch geraten die Mütter unter Druck, gerade weil Schweden ein Fürsorgestaat ist, der rasch in die Familie eingreift, wenn dort etwas schieflaufe.

"Wenn Du mir das neue Mobiltelefon nicht kaufst, melde ich Dich beim Sozialdienst oder bei der Polizei an", so lauten klassische Erpressungssätze. Die Kinder könnten dann behaupten, geschlagen worden zu sein.

Die Jugendlichen, welche aus den Gangs aussteigen wollten, würden oft nicht von der Polizei ernst genommen. Deren Familien müsse man dabei helfen, aus Skäggetorp wegzuziehen. Es fehlt an Wissen voneinander auf beiden Seiten.

Nachdem sich die Situation in Skäggetorp 2021 deutlich verschlechterte, gingen die "Mamas der Welt" auf die Straße, auch die Politiker hörten nun zu. Die Vereinigung hat drei Hauptforderungen, um die Sicherheit in Skäggetorp zu verbessern.

Zum einen müsste den Frauen geholfen werden, Arbeit zu finden. Die meisten lebten von der Sozialhilfe. Dann sollten die Kinder bessere Verhältnisse in den Schulen vorfinden, nur 36 Prozent der Schüler in Skäggetorp mit seinen über 10.000 Einwohnern würden mit den Anforderungen zurechtkommen. Die Kommunikation zwischen Eltern und Schüler sollte verbessert werden, auch brauchten die Kinder mehr Freizeitangebote.

Für die langen Sommerferien sollten zudem Ferienjobs für die Kinder geschaffen, die Mütter in die Sicherheitsrundgänge einbezogen werden.

Das Millionenprogramm

Die Siedlung Skäggetorp war ein Bauprojekt des sogenannten "Millionenprogramms [7]" der schwedischen Regierungen. Von 1965 bis 1975 sollten eine Million neue Wohnungen gebaut werden, um eine Lösung für die Wohnungsknappheit zu finden.

Viele dieser Siedlungen entwickelten sich zu sozialen Brennpunkten, aufgrund der monotonen Baukultur wichen die Besserverdienenden aus, es blieben die sozial Schwachen. Viele Migranten können sich allein dort eine Wohnung leisten. Das "Millionenprogramm" wird allgemein als eine der Ursachen der Segregation in Schweden gesehen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6457344

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.dn.se/sverige/partiledarna-mots-for-debatt/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Link%C3%B6ping
[3] https://www.linkoping.se/nyheter/nyheter-arkiv/kraftfulla-satsningar-for-okad-trygghet
[4] https://www.facebook.com/Aktivtkd/?ref=page_internal
[5] https://www.facebook.com/Aktivtkd/photos/3102922469995062
[6] https://www.varldensmammor.se/
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Millionenprogrammder