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Schweizer Parlando

Schweiz gerne verwechselt. Screenshot: Tom Appleton

In der Schweiz hätte ich wahrscheinlich auch für die staatlichen Rundfunkgebühren plädiert - in Deutschland wäre ich mir da nicht so sicher

Das einzige Mal, als ich mich in Deutschland um einen Radio-Job bewarb (Deutsche Welle, Köln, Abteilung englischsprachige Programme), fragte man mich, ob ich nicht zufällig FDP-Mitglied sei? Den Regeln des Radio-Proporzes zufolge fehle dort nämlich gerade ein Mensch mit einer derartigen Parteizugehörigkeit. Für einen solchen Menschen sei dort noch eine Stelle frei.

Es war 1988, und ich war überrascht, dass man in Deutschland immer noch "PG" [Nazi-Jargon, "Parteigenosse"] sein musste, um beim Staatsfunk mitmachen zu dürfen. Das Wort "Wendehals" war mir damals noch unbekannt. Ich hätte natürlich, wie mir heute jeder ohne Nachzudenken bestätigt, "Moment" sagen, aus dem Büro direkt in die nächste FDP-Zentrale rennen, und dann eine Stunde später mit meinem Mitgliedsausweis wiederkommen sollen. "Alles wär so klar" gewesen, wie es im Schweizerischen "Eisbär"-Song so schön heißt.

Beim ORF, dem österreichischen Staatsfunk, war es nochmal anders. "Wir haben schon genug bundesdeutsche Stimmen da", hieß es. Ob ich nicht meine Texte auf Österreichisch bringen könnte? Ich sagte: "Ich bin gerade eben erst aus Neuseeland hierher gekommen." Ich war "noch nie" in Wien gewesen. Aber witzigerweise hatte ich irgendwann einmal ein Dutzend Schallplatten von Helmut Qualtinger, dem berühmten Wiener Tierstimmenimitator, besessen, gehört, und auswändig gelernt.

Ich konnte daher leicht einen "Österreicher" mimen, und sogar verstehen - und ich arbeitete nachher tatsächlich zwei Jahre lang für den ORF. In dieser Hinsicht ging es mir also besser mit Österreich als es mit der Schweiz gegangen wäre. Ich konnte nämlich auch perfekt schweizerisches Schriftdeutsch sprechen — also Hochdeutsch mit Schweizer Akzent -,d as hatte ich mir von dem Komiker Emil komplett und sehr "echt" abkopiert. Das Problem war nur: Ich verstand umgekehrt kein Wort Schwyzerdütsch. Wenn mir jemand auf Schweizerisch geantwortet hätte, wäre ich, wie der Ochse vorm Tor, blöd da gestanden.

Hazel oder Esel?

Erst unlängst ging es mir wieder so. Der gegenwärtige Schweizer Humor-Export ist eine junge Hübschheit namens Hazel Brugger. Sie tritt in Deutschland auf mit Hochdeutsch — NRW-Deutsch, ohne Schweizer Echo — gibt sich aber als Schweizerin zu erkennen. Die gleichen Sachen hört man bei YouTube komplett in Schwyzerdütsch. Die bundesdeutschen Varianten dienen hier quasi als Untertitel für linguistisch veranlagte Leute wie mich, die versuchen wollen, den Schweizerischen Text mitzusprechen. So erfahren wir auch, dass ihr Vorname in der Schweiz gern als "Esel" missverstanden wird. Ha ha.

Emil, heute ein immer noch aktiver Senior, war einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Komiker seiner Generation. Hazel Brugger — nicht, dass ich die bayerischen Standup-Queens Monika Gruber und Lisa Fitz herabwürdigen wollte —, aber Hazel, scheint mir, hat gute Chancen, einmal eine deutsche Reinkarnation des Amerikaners Bill Hicks zu werden. Jetzt erlebt man sie noch ganz am Anfang ihrer Karriere, beim "growing up in public".

Dabei sind die Schweizer international gar nicht mal sonderlich bekannt für ihren Humor. Der übliche amerikanische Witz über die Schweiz lautet, "500 Jahre Frieden, und was haben sie hervorgebracht? Schweizer Käse und die Kuckucksuhr." Den besseren Witz über den Schweizer Käse hatte natürlich Charles Bukowski drauf: "You women have more holes than Swiss cheese."

In den meisten anderen Ländern der Erde verwechselt man das Schweizerland gern mit Schweden. Oder mit Noch-ganz-woanders.

Verwechslungen aller Art

Kurioserweise wissen die Schweizer selber oft nicht, wofür sie eigentlich in der übrigen Welt bekannt sind. Und Verwirrungen sind sowieso immer angesagt. Der bekannteste Schweizer Krimi-Autor, Friedrich Glauser, Verfasser der Wachtmeister-Studer-Romane, war z.B. ein gebürtiger Wiener. Deutsche Leser verstehen seine Romane leichter in englischer Übersetzung. Der zweitbeste Schweizer Krimi-Autor ist besser bekannt als Dramatiker: Friedrich Dürrenmatt.

Der bekannteste Roman, der je in der Schweiz geschrieben wurde, entstammt der Feder einer jungen Engländerin: Mary Shelley. Sie schrieb ihn am Ufer des Genfer Sees, hochschwanger, und keine 20 Jahre alt. Es ist der Roman "Frankenstein", der seither, seit seinem Erscheinen vor genau 200 Jahren, niemals, und zu keiner Zeit, ungedruckt blieb. Das Buch ist ein Bestseller und Longseller zugleich, im wahrsten Sinne des Wortes.

Ob Mary Shelley auch an der Übersetzung des erfolgreichsten Kinderbuchs aller Zeiten mitgearbeitet hat, bedürfte, nach meinem Dafürhalten, einer modernen Computer-Analyse. Ihr Vater, William Godwin, betrieb jedenfalls einen Verlag, in dem er auch Jugendliteratur herausbrachte. Dort veröffentlichte er 1814 eine Robinsonade, d.h. die Geschichte einer Familie, die auf einer Insel gestrandet war, verfasst von einem Schweizer Autor, dem Berner Pfarrer Johann David Wyss.

"Der Schweizerische Robinson" erschien unter dem Titel "The Swiss Family Robinson", in der Übersetzung von Mary Jane Godwin, der zweiten Frau von Mary Shelleys Vater. Von Mary Shelley selber waren aber schon Texte erschienen, als das Kind erst 10 Jahre alt war, also die beiden Marys könnten sehr wohl in dem engen Familienbetrieb gleichzeitig oder nebeneinander / nacheinander an den gleichen Texten geschrieben und gearbeitet haben.

Relevant ist, dass "Swiss Family Robinson" auf Englisch in mehr als 200, wenn nicht 300, verschiedenen Bearbeitungen, Erweiterungen, Übersetzungen usw erschienen ist. Der ursprüngliche "Schweizer Robinson" ist in der Schweiz heute praktisch unbekannt, und daneben auch noch tödlich langweilig. Aber auf eine Rückübersetzung der modernsten englischen Fassung scheint niemand Wert gelegt zu haben. Man kann sagen, die Schweiz schottet sich gerne gegen jede Einmischung von außen immer wieder hermetisch ab.

Ebenfalls superbeliebt in Amerika waren die "Heidi"-Romane der Johanna Spyri. So beliebt, dass die Amerikaner es nicht ertragen konnten, als die Quelle der Romane versiegte. Der "Original-Übersetzer" setzte die Reihe daraufhin fort — aber in der Schweiz selber war man an den amerikanischen Folgebänden natürlich nicht mehr weiter interessiert. Der bekannteste literarische Held der Schweiz in den USA ist seinerseits Wilhelm Tell. Der Gag, das jemand einen Apfel auf dem Kopf balanciert, und jemand anderer versucht, ihn irgendwie mit einer Schusswaffe zu entfernen, ist sozusagen universal-amerikanisch, sei es, dass Charly Chaplin — in "Der Zirkus" — den Apfel durch eine Banane ersetzt, oder dass der Autor William Burroughs bei einem Nachvollzug der Tell-Szene ganz real seine eigene Ehefrau erschießt.

Ein weltbekannter Schweizer

Der heute weltweit bekannteste — oder überhaupt einzig bekannte — Schweizer ist der Hobby-Archäologe Erich von Däniken. Däniken war ein Hotelier, dem beim Betrachten von Fotos lateinamerikanischer und ägyptischer Pyramiden die Erkenntnis zuwuchs, dass Außerirdische zwischen den Kontinenten umhergereist sein, und die frühmenschlichen Kulturen angefacht haben mussten. Im Sommer 1968 erschien sein Erstling "Waren die Götter Astronauten?" in der Weltwoche als Vorabdruck.

Die Ideen waren nicht neu, aber einzig von Däniken schaffte es, Millionenauflagen und Weltruhm damit zu erlangen. Heute, 50 Jahre später, scheint man in der Schweiz den großen Phantasten der Archäologie eher schamhaft zu verschweigen, dabei gehört er absolut in die gleiche Klasse wie ein Thor Heyerdahl oder Heinrich Schliemann.

Heyerdahls "Kon Tiki"-Reise resultierte in einem der größten Bestseller aller Zeiten, Schliemanns "Entdeckung Trojas" stimulierte die moderne Archäologie, die es ohne ihn womöglich gar nicht erst gegeben hätte. Von Däniken warf Fragen auf, die —genau so, wie die Theorie der Kontinentalverschiebung eines Alfred Wegeners bedurfte — erst durch ihn in den Fokus echter Wissenschaft gerieten. Vor allem aber popularisierte er den ganzen Wissensbereich Archäologie in einer Weise, wie es nicht einmal dem Bestseller-Autor C. W. Ceram mit seinem "Götter, Gräber und Gelehrte" gelungen war.

Ein Klein-Amerika

Letztlich ist die Schweiz aber so etwas wie ein Baby-USA im Herzen Europas. Nicht nur haben die Schweizer den Calvinismus erfunden — dessen Grundthese lautet, dass Geldverdienen hinnieden auf Erden letztlich ein Plätzchen droben im Himmel erkauft. Am verdienten Geld erkennt der Erdenmensch sein ultimatives Schicksal. Die amerikanische Kurzformel dafür lautet: "Manifest destiny." Dieser "manifeste Unsinn" manifestiert sich sogar noch bis in die Philosphie eines Comic-Strips wie "Calvin und Hobbes".

Der pure Merkantilismus, der sich hier offenbart, bildet zugleich die Grundlage der schweizerischen Demokratie, und des schweizerischen Waffenrechts, alles Dinge, die man in den USA 1:1 übernommen hat. Dass den Frauen kein Wahlrecht zustand, verstand sich in einer derart altgvatterischen Gesellschaft von selbst. Das Wahlrecht für Frauen bedurfte in den USA eines mehr als 200jährigen Kampfes, erreicht wurde es zuletzt im Jahr 1920. Für schwarze US-Wähler beiderlei Geschlechts erst 1965 vollständig. In der Schweiz durften Frauen endlich auch ab 1971 politisch wählen und gewählt werden. In Kuwait und Saudi-Arabien dauerte es dann immer noch ein paar Jahrzehnte länger. Vergleich: Frauenwahlrecht Neuseeland, 1893, in Deutschland 1918.

Zivilisation "an sich"

Die Schweiz signalisierte immer eine "Zivilisation" im kleinen Rahmen. Als dem afghanischen König Amanullah das Dach über dem Kopf herunterpurzelte, floh er mit einem Teil seiner Familie und seines Hofstaats nach Zürich, um geruhsame 30 Jahre lang seinem Ende entgegenzudämmern. Auch der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer verbrachte jedes Jahr einen Urlaub in der Schweiz, weil er vermeinte, dort eine dem Jiddischen ähnliche Sprache zu vernehmen.

In der Tat galten viele Länder Lateinamerikas als "die Schweiz" des Südkontinents, Venezuela, Brasilien, Argentinien, sogar Chile und Uruguay, bis sie eines nach dem anderen vom Großen Bruder im Norden in den Orkus gejagt wurden. Heute ist die Schweiz wohl noch am ehesten das Ideal eines friedlichen Afghanistans. Es leben verschiedene Völker und Sprachen unter einem Dach, jeder Mann hat zuhause ein Gewehr, und im Keller einen Bunker, und, wie gesagt, die Frauen tragen keine Burka. Sollten die USA einmal versuchen, die Schweiz anzugreifen, würden sie aber sehr schnell erfahren, was eine Harke ist.

Das gemütliche Nestlein

International berühmt und berüchtigt ist zum Beispiel der Schweizer Großkonzern mit dem diminutivierten Namen Nestlein. Sein bekanntestes Produkt ist der Pulverkaffee Nescafé. Der französifizierte accent aigu nach oben rechts abstehend über dem Schluss-E von Nestlé, suggeriert Weltoffenheit und internationales Flair, wo "Neschtle" wahrscheinlich nur engstirnige Beschränktheit und frömmlerisches Hinterwäldlertum nahelegen würde.

Der kleine Riese mit dem Vogelnestlogo würde sich im heimischen Vevey am Genfer See wohl nicht trauen, den Leuten das Trinkwasser unter dem Hintern wegzuziehen. Auch in Flint, Michigan, würde vielleicht Mike Moore endlich einmal aus seiner Lethargie erwachen. Aber in der kleinen 2.000-Seelen-Gemeinde Osceola in Michigan traut sich Nestlé was [1].

Staatsfunk ja oder nein?

Ich kenne es aus Neuseeland, wenn der Staatsfunk am Tropf hängt und allmählich eingeht. Ganze Insektenschwärme von dusseligen Kommerzsendern verpesten die Luft, religiöse Idiotensender schwirren nicht nur am Wochenende umher - und das gilt sowohl für Rundfunk wie TV. Ohne ein staatlich gefördertes Maori-TV, das sogar Shakespeare-Stücke auf Maori bringt, gäbe es keinerlei qualitätsvolle Unterhaltung. Die Nachrichtensendungen orientieren sich am Gefasel der Kommerzsender.

Über lange Jahre in NRW erlebte ich den besten deutschen Staatssender, den Westdeutschen Rundfunk, als unsympathisches Autoritärradio — das im Deutschlandfunk und in Deutscher Welle genau so bis in den Südpazifik funkt. Der beste Sender in Deutschland war BFBS — die britische BBC-Light-Ausgabe für die britischen Besatzungstruppen.

TV erlebte ich erst sehr spät am Kabel, und wieder war BBC der einzige Sender, auf dem man Fußball sehen konnte — ohne Idiotenkommentare. Arte und Phönix gingen so halbwegs, und das ZDF brachte nach Mitternacht Krimis aus aller Welt, nicht nur aus Amerika. Bravo. Alle Kommerz-, Einkaufs- und Porno-Sender waren dagegen zum Vergessen - und den ORF, für den ich Zwangsgebühren entrichten musste, schenkte ich mir komplett. Einzig die Online News auf orf.at wären quasi ein Zeitungs-Abo wert.

Fazit: In einem Land wie der Schweiz muss man einfach ein zuverlässiges Staatsmedium haben, vielleicht sogar eine demokratische Boulevardzeitung, vom Staat mit Zeitungsförderung versehen. Das Gleiche würde ich mir auch in Rest-Europa wünschen, aber die Schweiz hat jedenfalls die richtige Wahl getroffen, die Gebührenpflicht für staatliche Medien beizubehalten. Ein demokratisches Land schuldet sich einen demokratischen Staat, und demokratische Medien.


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