Schwimmen: Immer weniger Grundschüler können es
Vom Schwinden einer Kulturtechnik
In Europa einzigartig war die Begeisterung für das Schwimmen im England des 19.Jahrhunderts, schreibt Charles Sprawson in seiner Kulturgeschichte des Schwimmens. Der Wassersport war Kult, dem kriegerische und heroische Eigenschaften nachgesagt wurden. Heroen wie der Kanalschwimmer Matthew Webb, "ein Mann von herkulischer Gestalt", der den Ärmelkanal durchschwamm, tourten als Stars durch die USA, Massen kamen zu Veranstaltungen, in denen er Ausdauerkraft und Wagemut bewies. Es hat sich einiges geändert. Diese Woche kam aus den Nachrichtenkanälen die Meldung, wonach nur mehr gut die Hälfte der britischen Grundschüler eine 25 Meter-Bahn ohne Hilfe durchschwimmen können.
Auch in Frankreich, wo man zur Zeit immerhin die weltschnellsten Kraulsprinter stellt, gab es im Sommer ganz ähnliche Nachrichten: Fast die Hälfte der 10-Jährigen können nicht schwimmen, berichtete etwa die katholisch orientierte Zeitung La Croix.
Ähnlich lautende Meldungen waren auch in anderen Medien zu lesen - auch in Deutschland: "Fast 40 Prozent der Achtjährigen in Deutschland können nicht schwimmen", erschrak der Stern bereits 2008 und im Sommer 2014 gab sich der Ehrenpräsident der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) alarmiert:
Am Ende der vierten Klasse erreichen laut Wilkens derzeit bundesweit gerade 50 Prozent der Schüler das Freischwimmerabzeichen. Ende der achtziger Jahre - damals allerdings noch in der alten Bundesrepublik - seien es noch mehr als 90 Prozent gewesen.
Sehr viel früher, im England des 17. Jahrhunderts, war Brustschwimmen in der obersten Klasse eine achtbare Beschäftigung mit wissenschaftlichem Anspruch. Man fing sich einen Frosch, hielt ihn in einem Trog oder einer Wanne, stellte einen Tisch daneben und nahm Anschauungsunterricht:
Sir Nicholas knotete einen Frosch mit einem Bindfaden um die Lenden fest und hält ihn in eine Wasserschüssel. Das andere Ende des Bindfadens hält er mit den Zähnen fest, während er bäuchlings auf einem Tisch liegt und immer dann ausschlägt, wenn der Frosch es tut. Sein Schwimmmeister steht daneben, um ihn zu sagen, wann er es falsch oder richtig macht.
Bemerkenswert ist Sir Nikolas für seinen Anspruch an die Schwimmfähigkeiten. Auf die Frage nach der praktischen Umsetzung, ob er das erworbene Wissen je im Wasser ausprobiert habe, gab er zur Antwort: "Nein, aber an Land schwimme ich ganz vorzüglich. Ich gebe mich mit dem spekulativen Teil des Schwimmens zufrieden und kümmere mich nicht um die Praxis. Ich führe selten etwas aus, das ist nicht mein Stil."
Für 99 Prozent der Eltern und Lehrer des 21. Jahrhundert ist das wahrscheinlich nicht der geltende Maßstab; woran sich Schulen und Erzieher, wahrscheinlich nicht nur in Europa, halten, ist der Grundsatz, dass Kinder bis zum Ende der Grundschule schwimmen können. Bis in die 1980er Jahre war in Deutschland der Freischwimmer, 15 Minuten ohne Hilfe schwimmen, der gebräuchliche Nachweis dafür.
Seither sind andere Abzeichen im Gebrauch: das "Seepferdchen", welches verlangt, 25 Meter, eine Kurzbahn, ohne Hilfe zu schwimmen, einen Sprung ins Wasser und das Heraustauchen eines Gegenstands aus geringer Tiefe. Diejenigen, denen tatsächlich Schwimmen beigebracht wurde, brauchen nicht viel Übung, um das bronzene oder silberne Schwimmabzeichen zu machen, die mehrere Bahnen verlangen. Man erkennt deutlich, dass diese Schwimmabzeichen auf Schwimmbäder ausgerichtet sind, während beim Freischwimmer noch das Schwimmen oder längere Überwasserhalten, Überleben in Gewässern im Hintergrund steht.
Die Krux am Schwinden der "Kulturtechnik Schwimmen", wenn man das so nennen mag, ist, wie sich aus den anfangs erwähnten SOS-Meldungen herauslesen lässt, mit dem Angebot von Schwimmbädern verbunden. In den "goldenen" siebziger Jahren hielten die Gemeinden in Deutschland - und wahrscheinlich auch in Frankreich und in Großbritannien - sich einiges zugute, ein Schwimmbad zu eröffnen, meist 25 Meter lang, gefliest, mit dunkelblauen Balken am Boden jeder Bahn, man war sportlich orientiert.
Kassennot oder ist Schwimmen unattraktiv geworden?
Seit einiger Zeit sind die Kassen der Kommunen klamm und die aufgewendeten Energiekosten und der Unterhalt strapazieren das Budget. Viele Bäder mussten schließen, eine Beobachtung, die in keiner Meldung über die Schwimmfähigkeiten des Nachwuchses unerwähnt bleibt; manche wurden, mit der Hoffnung auf der Höhe der Zeit zu sein und mehr Gäste anzulocken, in Stahlwannen mit Funmöglichkeiten, "Erlebnisbäder", umgebaut, die Sprungtürme verschwanden wie alte Stalin- oder Lenindenkmäler; Sport war nicht mehr die Hauptsache, auf die Schwimmbäder ihr Überleben setzten.
In einer von der DLRG in Auftrag gegebenen Umfrage kam heraus, dass 20 Prozent aller deutschen Grundschulen keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Schwimmbädern haben und dass es zu wenig qualifizierte Lehrkräfte gibt.
Seepferdchen-Alarm - Immer mehr unsichere Schwimmer
Aber es dürften noch andere Gründe mithineinspielen, warum weniger Kinder gut schwimmen können: Eltern nehmen sich weniger Zeit oder haben sie nicht, mit den Kindern schwimmen zu gehen. Schwimmen ist keine sehr attraktive Freizeitbeschäftigung mehr und möglicherweise spielt auch die Angst der Eltern eine Rolle, Kinder einem gefährlichen Element auszusetzen.
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