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Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären

Bild: Pixabay.com

Daten von einer halben Million Menschen widerlegen Dogma der Verhaltensgenetik

In den letzten Jahrzehnten scheint sich der Gedanke durchgesetzt zu haben, die sexuelle Orientierung sei angeboren, ob es sich nun um Hetero-, Bi-, Homo- oder was auch immer für eine Sexualität handelt. Man müsse im Zweifelsfalle nur seine richtige Identität entdecken. Doch woher wissen wir das eigentlich?

Bei meinen Psychologiestudierenden, die freilich nicht für die Gesamtbevölkerung repräsentativ sind, ergaben informelle Befragungen über die Jahre hinweg immer wieder dieses Bild: Die Persönlichkeit insgesamt sei im Wesentlichen nicht angeboren, sondern eher erworben. Wenn ich aber spezifisch nach der sexuellen Orientierung fragte, dann war die Antwort umgedreht, dann wurde der genetische Einfluss als etwa zwei- bis dreimal so stark angesehen wie der Umwelteinfluss.

Der Mythos vom "Schwulengen"

Die amerikanische Science, die in ihrer heutigen Ausgabe eine einschlägige Studie zum Thema veröffentlichte, hatte bei diesem Thema in der Vergangenheit eine eher unrühmliche Rolle. Sie veröffentlichte 1993 die Studie [1] von Dean Hamer und Kollegen von den US-amerikanischen National Institutes of Heath, die 40 homosexuelle Bruderpaare genetisch untersucht hatten. Die Forscher hüteten sich zwar davor, ihren vorläufigen Befund als "Schwulengen" zu bezeichnen.

Doch schon der von der Science-Redaktion mitveröffentlichte Kommentar [2] sprach bereits im Titel von "Hinweisen auf ein Homosexualitätsgen". Dass es sich dabei um ein Gen auf dem X-Chromosom handelte, befeuerte natürlich das Stereotyp, dass schwule Männer irgendwie femininer seien. Wie die Medien den Fund aufgriffen, kann man sich leicht vorstellen.

Das mediale Leben des "Schwulengens"

Systematisch hat das die Medienforscherin Kate O'Riordan von der britischen University of Sussex erforscht. In Ihrer Publikation [3] über das "Leben des Schwulengens" zeichnet sie nach, wie aus dem hypothetischen Fund eine soziale Realität wurde. Dass das genetische Ergebnis in den Folgejahren nicht repliziert werden konnte, interessierte kaum jemanden. Die Idee war und ist fest in den Köpfen verankert.

Skurrilerweise griff sogar die Schwulenbewegung selbst bereitwillig den Gedanken auf. So gab es aktivistische T-Shirts mit der Aufschrift Xq28, wie der fragliche Ort auf dem X-Chromosom hieß. Der Name tauchte auch in Songtexten auf. Die Idee, dass das Gen die sexuelle Orientierung festlegt, hatte Befreiungspotenzial, auch wenn sie wissenschaftlich gar nicht stimmte. Denn was biologisch festgelegt ist, daran können die Betroffenen ja nichts ändern. Oder?

O'Riordan selbst vermutet, dass durch das Humangenomprojekt und den Hype um die Genetik der Gedanke immer natürlicher wurde, dieses oder jenes sei eben angeboren, genetisch festgelegt. Warum also nicht auch die sexuelle Orientierung? Die Forscherin weist aber nach, dass Homosexualität dadurch immer wieder in Beziehung zu Krankheiten gesetzt wurde. So waren auch die Entdecker von Xq28 eigentlich Krebsforscher.

Außerdem sei die Frage nach der sexuellen Orientierung so aus dem gesellschaftlich-politischen in den biomedizinischen Raum verschoben worden. Soziologen nennen das "Dekontextualisierung" und "Depolitisierung". Tatsachen werden als gegeben und unveränderlich dargestellt. Darüber brauchen wir nicht mehr zu reden. Es ist eben so.

Halbe Million Versuchspersonen

Jetzt sind wir 26 Jahre weiter. Die heute erschienene Studie [4] basiert nicht wie 1993 auf den Daten von 40 Bruderpaaren, sondern von - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - sage und schreibe 492.678 Menschen. Diese stammen im Wesentlichen aus der britischen UK Biobank und von der amerikanischen Firma 23andMe, die Interessierten für bare Münze allerlei Gentests anbietet.

Bei dem heutigen Ansatz wird nicht nur ein Chromosom oder ein Gen untersucht, sondern gleich das gesamte Genom nach statistischen Zusammenhängen abgescannt. Das nennt man dann "genomweite Assoziationsstudie" (GWAS). Nicht geändert hat sich hingegen die medizinische Beheimatung der Forschung: In der langen Autorenliste haben wir es mit Psychiatern, Epidemiologen und anderen Vertretern aus den Gesundheitswissenschaften zu tun.

Man brauche immer größere Probandengruppen

Da die Verhaltensgenetik ihre vollmundigen Versprechungen der letzten Jahrzehnte nicht einlösen konnte, sang man viele Jahre lang das Klagelied von der Gruppengröße. Die menschlichen Charakterzüge und Verhaltensweisen aber auch Störungen und Erkrankungen seien nun einmal so komplex, dass man zehn- oder gar hunderttausende Versuchspersonen brauche, um die Interaktionen vieler verschiedener Gene zu untersuchen.

Das ist einerseits Wunschdenken, andererseits aber ein Offenbarungseid: Denn wären die genetischen Effekte von großer Bedeutung, dann müsste man sie auch in kleineren Gruppen finden. Das ist schlicht Mathematik. Und die Sozialwissenschaften kommen in aller Regel mit einigen hundert Versuchspersonen aus und finden damit statistisch robuste Ergebnisse; natürlich unter der Voraussetzung, dass die übrige wissenschaftliche Methodik stimmt. Dass das leider nicht immer der Fall ist und Forscher aller Disziplinen mitunter schlicht publizieren, um zu überleben (englisch: "publish or perish"), wissen wir seit Langem.

Mit der GWAS-Methode lässt sich Genetik jedenfalls im industriellen Maßstab skalieren und werden folglich immer mehr "Risikogene" gefunden. Allein für Schizophrenie gibt es derer mehr als tausend. Was das Patientinnen und Patienten bringt, weiß bisher keiner. Immerhin füllen die Funde aber die wissenschaftlichen Fachzeitschriften. And the show must go on. Dabei wissen wir bereits im Voraus, dass die so gewonnenen Ergebnisse aus prinzipiellen Gründen keine große Bedeutung haben können.

Fünf über das Genom verteilte Orte

Was nun Andrea Ganna vom Zentrum für Genmedizin am Massachusetts General Hospital in Boston und Kollegen in der heutigen Science berichten, ist, um es vorsichtig zu nennen, äußerst bescheiden. Der ganze Aufwand mit der halben Million Versuchspersonen führte nun dazu, dass man fünf über das Genom verteilte Orte gefunden hat, die etwas mit der sexuellen Orientierung zu tun haben könnten.

Nennen wir die Stars der heutigen Vorstellung ruhig mal beim Namen: rs11114975- 12q21.31 und rs10261857-7q31.2 für sowohl Frauen als Männer. Bei Männern fanden sich noch zusätzlich rs28371400-15q21.3 und rs34730029-11q12.1. Und bei den Frauen rs13135637-4p14. Alles klar, oder? Daten von Trans- oder Intersexuellen wurden aus der Analyse übrigens ausgeschlossen. Warum, das verraten die Forscher nicht. Vielleicht waren die Ergebnisse dann nicht mehr statistisch signifikant?

Es tut mir leid, meine Leser wieder einmal mit dem Thema "Effektgrößen" langweilen zu müssen. Um zu verstehen, was die Studie aussagt, kommen wir nicht darum herum. Vorher müssen wir aber erst noch wissen, wie sexuelle Orientierung hier überhaupt gemessen - in Fachsprache: operationalisiert - wurde.

Gleichgeschlechtlicher Sex

Der kleinste gemeinsame Nenner für alle Daten war die Angabe, ob eine Person schon einmal Geschlechtsverkehr mit einer anderen Person vom selben Geschlecht hatte. Also mindestens einmal. Daran ist nichts falsch und die Forscher kommunizieren das auch sehr deutlich.

Bei sexueller Orientierung kann man nun einmal mindestens die drei folgenden Ebenen unterscheiden: (1) mit wem jemand, salopp gesagt, ins Bett geht; (2) zu welchem Geschlecht sich jemand (primär) hingezogen fühlt; und (3) ob jemand seine sexuelle Vorliebe als Teil seiner Identität ausdrückt und, wenn ja, wie.

Homosexualität als Identität

Bei (3) denke ich zum Beispiel an die jährliche Amsterdamer Gay Pride. Ich ging einmal auf so eine Parade und sah auf den bunt geschmückten Booten die dem Kölner Karneval in nichts nachstehen unzählige Muskelmänner (aber auch Frauen) in Badehöschen ihre Körper und Community zelebrieren.

Das ist persönlich zwar nicht so mein Geschmack. Ich finde es aber gut, dass es das gibt. Nach all der Unterdrückung möchten lesbische, schwule, bisexuelle und wie auch immer orientierte Menschen mit allem Stolz zeigen, dass sie auch da sind, dass sie viele sind und dass sie sich in der Gesellschaft ihren Raum nehmen.

Der wichtige Punkt für unser Thema ist nun: Nicht jeder, der sich zu Menschen vom gleichen Geschlecht angezogen fühlt und/oder mit ihnen ins Bett geht, muss das als wesentlichen Teil seiner Identität ansehen. Es handelt sich psychologisch und kulturell also um verschiedene Dinge. Ich könnte beispielsweise Männer sexuell anziehend finden, doch trotzdem die Identität, wie sie manche Schwule in der Öffentlichkeit ausleben, als "nicht mein Fall" ansehen.

Nützlicher Geschlechtsvekehr

Es ist aber auch vorstellbar, dass jemand, der Menschen eines bestimmten Geschlechts nicht sexuell anziehend findet, trotzdem mit solchen Menschen Geschlechtsverkehr hat. Wie wir seit Jahrzehnten aus der klinischen Psychologie wissen, kann Sexualität genauso wie Arbeit, Essen, Genussmittel- oder Drogenkonsum, Spielen, Sport und vieles andere mehr eine Bewältigungsstrategie dafür sein, wie wir durchs Leben kommen (Buchtipp: "Andere Wege gehen: Lebensmuster verstehen und verändern" von Jacob, van Genderen und Seebauer). Oder aber jemand hat in der Umgebung schlicht keine Menschen vom anderen Geschlecht, will aber trotzdem gerne sexuellen Kontakt, denken wir an die Armee, Gefängnisse oder Klostergemeinschaften.

Folgerichtig sprechen die Autoren der neuen Studie dann auch nicht von Homo- oder Bisexualität. Es wird interessant sein zu beobachten, ob die Medien, die darüber berichten, sich daran halten werden. In der Publikation ist lediglich von "heterosexuell" gegenüber "nicht-heterosexuell" in die Rede.

Letzteres wirkt allerdings etwas gekünstelt, wo es um Personen geht, die vielleicht nur einen einzigen gleichgeschlechtlichen Kontakt in ihrem Leben gehabt haben. Dürfte man sich etwa auch nie wieder Vegetarier nennen, nur weil man einmal Fleisch auf dem Teller hatte? Irgendwie müssen die Forscher das untersuchte Phänomen aber benennen.

Zu den Effektgrößen

Mit diesem Vorwissen können wir uns jetzt etwas genauer mit den Daten beschäftigen. Nun ist es so, dass für den zuvor genannten Genort rs347…, der nur bei den Männern statistisch signifikant mit dem Sexualverhalten in Zusammenhang stand, nicht-heterosexuelles Verhalten um 0,4 Prozent häufiger vorkam, wenn ein bestimmtes Genmerkmal vorlag.

Oder formulieren wir es anders: Diejenigen, die hier den Genotyp TT (also zweimal die Base Thymin) haben, hatten in 3,6 Prozent der Fälle angegeben, mindestens einen nicht-heterosexuellen Kontakt gehabt zu haben. Beim Genotyp GT (Guanin/Thymin) waren es 4,0 Prozent.

Mit meiner Forscherintuition gehe ich nun davon aus, dass die Autoren hier eher ihre besseren Funde hervorheben, die Unterschiede für die anderen vier Orte also wahrscheinlich eher kleiner sind. Solche kleinen Effekte werden eben statistisch signifikant, wenn die untersuchte Gruppe groß genug ist. Das ist Mathematik.

Keine individuelle Vorhersage

Die Wissenschaftler berichten zwar, dass sie bei Kombination aller Merkmale acht bis 25 Prozent der Unterschiede im Sexualverhalten erklären können. Das ist aber erstens eine Schätzung, zweitens eine große Spannweite, drittens selbst im Optimalfall nicht die Welt und viertens, das wissen oder verstehen leider auch viele Mediziner nicht, kein Maß für die Stärke der genetischen Determination, da diese Schätzung selbst von der konkreten Umwelt abhängt, in der die Daten erhoben wurden.

Seriöserweise räumen die Forscher dann auch ein, aufgrund ihrer Ergebnisse niemals vom Genom auf das Sexualverhalten einer Einzelperson schließen zu können. Doch auch die Erklärung des Mechanismus, mit dem die Genorte in Verbindung stehen, ist eher holprig. Dafür heben die Autoren die beiden Funde hervor, die nur bei den Männern statistisch signifikant waren.

Erklärung der genetischen Funde

Konkret sei rs283… in früheren Studien mit typisch-männlichem Haarausfall in Zusammenhang gebracht worden und befinde es sich in der Nähe des Gens TCF12, das bei der Geschlechtsentwicklung eine Rolle spiele. Womöglich beeinflusst dieser Genabschnitt also irgendetwas bei den Sexualhormonen. Der andere Kandidat, rs347…, hat vielleicht etwas mit dem Riechen zu tun. Harte Erklärungen hören sich anders an.

Interessanter sind andere Daten aus der Studie, die dem genetischen Einfluss auf das Sexualverhalten widersprechen: So waren die Probanden tendenziell älter, in der großen britischen Datenbank 40 bis 70 Jahre alt, während der Altersdurchschnitt bei den Teilnehmern von 23andMe 51,3 Jahre betrug.

Schaut man nun auf die Geburtsjahrgänge, dann sieht man, das bei den um 1940 geborenen unter 0,5 Prozent (Frauen) oder rund 2 Prozent (Männer) als nicht-heterosexuell im oben genannten Sinne galten. Bei den um 1970 geborenen waren es aber schon über 6 beziehungsweise 7 Prozent.

Sozialer Einfluss viel größer

Das heißt konkret: Wo ein bestimmter Genotyp die Wahrscheinlichkeit für nicht-heterosexuelles Verhalten gerade einmal um den Faktor 1,1 erhöht, nämlich von den erwähnten 3,6 auf 4,0 Prozent, erhöht das Geburtsjahr das Verhalten um den Faktor 3,5 (Männer) bis 12 (Frauen). Wann jemand geboren ist, bestimmt also in dieser Untersuchung das gemessene Sexualverhalten um ein Vielfaches mehr als die gefundenen genetischen Unterschiede.

Da wir mit ziemlicher Sicherheit ausschließen können, dass sich die Gene innerhalb von nur dreißig Jahren so gravierend geändert haben, unterstreicht das die Rolle von Umwelteffekten. Dazu kommt, dass sich genetische Einflüsse im Laufe des Lebens desto stärker auswirken, je älter man wird. Wenn also die 70-Jährigen das Verhalten seltener angeben als die 40-Jährigen, dann spricht auch das gegen eine genetische Festlegung.

Offenheit für Erfahrungen

Zum Verständnis der gefundenen Genabschnitte dürften auch von den Forschern berichtete Zusammenhänge mit früheren Studien mehr beitragen als die genannten Spekulationen über Haarausfall oder das Riechen. So gibt es nämlich statistische Verbindungen zu allgemeinem Risikoverhalten, Rauchen (nur bei den Frauen signifikant), Cannabiskonsum, Einsamkeit (denken wir an das zurück, was ich über Bewältigungsstrategien schrieb), Offenheit für neue Erfahrungen (wieder nur bei den Frauen signifikant) und vor allem der Anzahl der Sexpartner.

Anstatt dass die Gene das Sexualverhalten oder gar die sexuelle Orientierung direkt bestimmen, scheinen sie vielmehr im Zusammenhang mit Neugier und sexuellem Verlangen zu stehen, unabhängig vom Geschlecht des Partners. Oder anders gesagt: Wer sowieso mit mehr Menschen ins Bett geht und mehr ausprobiert, wer offener ist oder sich einsamer fühlt, der versucht es auch eher einmal mit jemandem vom eigenen Geschlecht.

Bescheidener Beitrag der Genetik

Vor diesem Hintergrund ist es doch recht bescheiden, was uns das Beste der modernen Verhaltensgenetik anno 2019 übers menschliche Sexualverhalten erklären kann - und das schon bei so einem trivialen Merkmal wie dem, ob jemand mindestens einmal im Leben gleichgeschlechtlichen Verkehr hatte. An die wesentlich komplexeren psychosozialen Phänomene wie die sexuelle Orientierung oder die sexuelle Identität ist dabei noch gar nicht gedacht.

Jeder mag selbst bewerten, ob solche nichtssagenden Erkenntnisse die Milliarden rechtfertigen, die dieser Forschungszweig Jahr für Jahr verschlingt. Dabei ist noch nicht einmal an den Unsinn mit "depressiven" Fischen, "magersüchtigen" Mäusen oder "schizophrenen" Ratten gedacht, an denen sich Abertausende in der molekularbiologischen Psychiatrie abarbeiten (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral [5]).

Risiko der Stigmatisierung

Und was soll das überhaupt, dass Psychiater sich - wieder beziehungsweise immer noch - mit gesundem Sexualverhalten beschäftigen? Die Autoren der Studie geben sich zwar Mühe, stigmatisierende oder diskriminierende Beschreibungen zu vermeiden. Es bleibt aber doch so ein "Geschmäckle", wenn Psychiater und andere Mediziner solche Studien veröffentlichen, wie auch die Medienforscherin O'Riordan aufzeigte.

Dazu die Soziologieprofessorin Melinda Mills von der Oxford Universität, die in Science einen begleitenden Kommentar [6] veröffentlichte:

Es gibt die Neigung, Sexualität auf einen genetischen Determinismus zu reduzieren oder jemandem diese Reduktion übel zu nehmen. Es könnte Bürgerrechte verbessern oder das Stigma verringern, die gleichgeschlechtliche Orientierung den Genen zuzuschreiben. Im Gegensatz dazu gibt es Befürchtungen, dass dies ein Werkzeug für eine Intervention oder 'Heilung' liefert. Die gleichgeschlechtliche Orientierung wurde früher als krankhaft oder verboten angesehen und ist noch heute in über 70 Ländern kriminalisiert, in manchen droht sogar die Todesstrafe.

Melinda Mills, 2019, S. 870; dt. Übers. S. Schleim

Toleranz von Konservativen

Dass der genetische Ansatz die Stigmatisierung reduziert, wird seit vielen Jahren von Biologischen Psychiatern gepredigt, ist heute aber empirisch widerlegt. Dass der Andere sogar genetisch anders ist, scheint die soziale Distanz nämlich zu vergrößern, auch wenn man demjenigen dann weniger Schuld für seinen Zustand gibt.

Interessant sind in diesem Sinne auch Funde [7] aus der Homosexualitätsforschung, die zeigen, dass konservative Menschen Homosexuellen gegenüber toleranter sind, wenn das Phänomen als biologisch beschrieben wird. Das scheint aber damit zusammenzuhängen, dass diese Gruppe Homosexualität als weniger "ansteckend" auffasst, wenn sie genetisch bedingt ist. Ob es der Toleranz also wirklich hilft, die Mär vom "Schwulengen" zu verbreiten, wenn dabei doch mitschwingt, dass Homosexualität irgendwie unnormal ist, halte ich für fraglich.

Bye, bye, Verhaltensgenetik!

Aus wissenschaftlicher Sicht finde ich, dass die Studie von Andrea Ganna und Kollegen den verhaltensgenetischen Ansatz ein für alle Mal widerlegt: Verhalten lässt sich nicht genetisch erklären, sondern bestimmte Gene erhöhen bloß minimal die Wahrscheinlichkeit dafür. Mit einem Bruchteil der Investitionen könnte man mit sozialwissenschaftlichen Studien viel mehr und viel bessere Erklärungen des Sexualverhaltens erzielen; und das schreibe ich als jemand, der solche Studien gar nicht selbst ausführen würde.

Wie viele Menschen auch einmal gleichgeschlechtliche Kontakte ausprobieren, hängt viel stärker mit der Offenheit der Gesellschaft zusammen als mit irgendwelchen Genen. Man könnte sich vorstellen, dass solche "Experimente" aktiv unterdrückt werden, dass eine Gesellschaft ihnen neutral gegenüber steht oder dass sie sogar aktiv gefördert werden. Im letzteren Fall würden manche Menschen feststellen, dass das nicht so ihr Ding ist, andere würden es als nette Abwechslung kennenlernen und wieder andere als ihre große Vorliebe (Menschliche Sexualität - was wissen wir wirklich? [8]).

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Langer Weg zur offenen Gesellschaft

Vorläufige Funde deuten darauf hin, dass gleichgeschlechtliche Kontakte heute - zumindest unter Frauen - an manchen US-amerikanischen Colleges als "chic" gelten. Dazu dürfte die Medien- und Filmindustrie ihren Teil beitragen. So ist etwa unvergesslich, wie Madonna bei den MTV Video Music Awards 2003 vor laufender Kamera Britney Spears und Christina Aguilera Zungenküsse gab.

Trotzdem gibt es auch heute noch Jugendliche, die lieber behaupten, transsexuell zu sein, als sich und vor anderen eine gleichgeschlechtliche Vorliebe einzugestehen. Deshalb werden auch nicht jedem gleich Hormonblocker verschrieben, der in der Pubertät meint, im falschen Körper zu sein. Doch darüber ein anderes Mal mehr.

Unsere Gesellschaft scheint noch einen langen Weg vor sich zu haben, wenn es um die freie Entfaltung der Sexualität geht. Heutzutage lassen sich sogar vermehrt gegenläufige Trends feststellen, was etwa Verbote von Nacktheit oder die Kriminalisierung sexueller Kontakte angeht. Nur so viel steht schon fest: Die Verhaltensgenetik wird den Menschen nicht befreien; sie gehört endlich in die Mottenkiste der Wissenschaftsgeschichte.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" [10] des Autors.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4511034

Links in diesem Artikel:
[1] https://science.sciencemag.org/content/261/5119/321.long
[2] https://science.sciencemag.org/content/261/5119/291.long
[3] https://doi.org/10.1080/00224499.2012.663420
[4] https://science.sciencemag.org/content/365/6456/eaat7693.abstract
[5] https://www.heise.de/tp/features/ADHS-und-die-Suche-nach-dem-Heiligen-Gral-3792622.html
[6] https://science.sciencemag.org/content/365/6456/869
[7] https://doi.org/10.1080/00918369.2013.806175
[8] https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/menschliche-sexualitaet-was-wissen-wir-wirklich/
[9] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[10] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/