Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären
- Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären
- Halbe Million Versuchspersonen
- Homosexualität als Identität
- Erklärung der genetischen Funde
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Daten von einer halben Million Menschen widerlegen Dogma der Verhaltensgenetik
In den letzten Jahrzehnten scheint sich der Gedanke durchgesetzt zu haben, die sexuelle Orientierung sei angeboren, ob es sich nun um Hetero-, Bi-, Homo- oder was auch immer für eine Sexualität handelt. Man müsse im Zweifelsfalle nur seine richtige Identität entdecken. Doch woher wissen wir das eigentlich?
Bei meinen Psychologiestudierenden, die freilich nicht für die Gesamtbevölkerung repräsentativ sind, ergaben informelle Befragungen über die Jahre hinweg immer wieder dieses Bild: Die Persönlichkeit insgesamt sei im Wesentlichen nicht angeboren, sondern eher erworben. Wenn ich aber spezifisch nach der sexuellen Orientierung fragte, dann war die Antwort umgedreht, dann wurde der genetische Einfluss als etwa zwei- bis dreimal so stark angesehen wie der Umwelteinfluss.
Der Mythos vom "Schwulengen"
Die amerikanische Science, die in ihrer heutigen Ausgabe eine einschlägige Studie zum Thema veröffentlichte, hatte bei diesem Thema in der Vergangenheit eine eher unrühmliche Rolle. Sie veröffentlichte 1993 die Studie von Dean Hamer und Kollegen von den US-amerikanischen National Institutes of Heath, die 40 homosexuelle Bruderpaare genetisch untersucht hatten. Die Forscher hüteten sich zwar davor, ihren vorläufigen Befund als "Schwulengen" zu bezeichnen.
Doch schon der von der Science-Redaktion mitveröffentlichte Kommentar sprach bereits im Titel von "Hinweisen auf ein Homosexualitätsgen". Dass es sich dabei um ein Gen auf dem X-Chromosom handelte, befeuerte natürlich das Stereotyp, dass schwule Männer irgendwie femininer seien. Wie die Medien den Fund aufgriffen, kann man sich leicht vorstellen.
Das mediale Leben des "Schwulengens"
Systematisch hat das die Medienforscherin Kate O'Riordan von der britischen University of Sussex erforscht. In Ihrer Publikation über das "Leben des Schwulengens" zeichnet sie nach, wie aus dem hypothetischen Fund eine soziale Realität wurde. Dass das genetische Ergebnis in den Folgejahren nicht repliziert werden konnte, interessierte kaum jemanden. Die Idee war und ist fest in den Köpfen verankert.
Skurrilerweise griff sogar die Schwulenbewegung selbst bereitwillig den Gedanken auf. So gab es aktivistische T-Shirts mit der Aufschrift Xq28, wie der fragliche Ort auf dem X-Chromosom hieß. Der Name tauchte auch in Songtexten auf. Die Idee, dass das Gen die sexuelle Orientierung festlegt, hatte Befreiungspotenzial, auch wenn sie wissenschaftlich gar nicht stimmte. Denn was biologisch festgelegt ist, daran können die Betroffenen ja nichts ändern. Oder?
O'Riordan selbst vermutet, dass durch das Humangenomprojekt und den Hype um die Genetik der Gedanke immer natürlicher wurde, dieses oder jenes sei eben angeboren, genetisch festgelegt. Warum also nicht auch die sexuelle Orientierung? Die Forscherin weist aber nach, dass Homosexualität dadurch immer wieder in Beziehung zu Krankheiten gesetzt wurde. So waren auch die Entdecker von Xq28 eigentlich Krebsforscher.
Außerdem sei die Frage nach der sexuellen Orientierung so aus dem gesellschaftlich-politischen in den biomedizinischen Raum verschoben worden. Soziologen nennen das "Dekontextualisierung" und "Depolitisierung". Tatsachen werden als gegeben und unveränderlich dargestellt. Darüber brauchen wir nicht mehr zu reden. Es ist eben so.