zurück zum Artikel

Selber schuld: Arm, kränker und früher Tod

Sozioökonomische Bedingungen stehen hinter Unterschieden in der Lebenserwartung von bis zu 10 Jahren, die Bundesregierung sieht Chancengleichheit lediglich durch Prävention

Es ist seit langem bekannt, dass ärmere Menschen schneller sterben, also eine kürzere Lebenserwartung haben. Wer das Glück hat, Eltern aus einer reicheren Schicht zu haben und entsprechend in "besseren" Wohngegenden aufzuwachsen, lebt länger. Der Unterschied kann 10 Jahre und mehr betragen. Verwunderlich ist, dass deswegen die Menschen, deren Lebenserwartung aufgrund der sozioökonomischen Schicht, der sie angehören, deutlich kürzer ist, nicht mehr aufbegehren. Schließlich ist dies Folge einer ungerechten Vermögensverteilung, die nicht Gott gegeben ist, sondern nur durch Ideologien und Interessen aufrechterhalten wird.

Die Linksfraktion hat die Bundesregierung gefragt, worauf sie die "signifikant niedrigeren Lebenserwartungswerte gerade für Männer in struktur- und einkommensschwachen Regionen" zurückführt. Die Antwort der Bundesregierung [1] kam von der CDU-Abgeordneten Ingrid Fischbach, Staatssekretärin beim Gesundheitsministerium. Sie ist aufschlussreich für die Politik, wie die Bundesregierung mit der weiter aufklaffenden Ungleichheit in Deutschland umgehen will.

Die Linksfraktion beruft sich in Ihrer Anfrage auf den Bericht "Gesundheit in Deutschland" [2] vom Robert Koch Institut und der Statistikbehörde Statis, der als Gesundheitsberichterstattung des Bunds gilt. Gesundheitsminister Hermann Gröhe sieht vor allem "erfreuliche Entwicklungen", die belegt würden: "So zeigt ein Vergleich mit den beiden Vorgängerberichten aus den Jahren 1998 und 2006, dass es kaum noch Unterschiede in der Gesundheit, dem Gesundheitsverhalten und der Gesundheitsversorgung zwischen den alten und neuen Ländern gibt. Heute - 25 Jahre nach der Wiedervereinigung - ist die Lebenserwartung in unserem Land nahezu gleich hoch."

Dass die Lebenserwartung in Deutschland gleich hoch ist, stimmt nicht. Zwar sind die Unterschiede zwischen Ost und West deutlich geringer geworden, aber Gröhe setzt sich über eine wesentliche Aussage des Berichts hinweg, nämlich dass auch in Deutschland "Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken sozial ungleich verteilt" sind: "Für eine Vielzahl chronischer Krankheiten gilt: Je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher ist das Erkrankungsrisiko." Das höhere Krankheitsrisiko etwa für Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes, aber auch für psychische Krankheiten wie Depression und der allgemein schlechtere Gesundheitszustand sind nicht nur eine Beeinträchtigung der Lebensqualität gegenüber den Menschen aus den wohlhabenderen Schichten, wer das Pech hat, in eine ärmere sozioökonomische Schicht hineingeboren zu sein, wird noch einmal bestraft, weil er auch früher stirbt.

Die Unterschiede in der Lebenserwartung sind erheblich, wobei nach dem Bericht "bereits im Kindes- und Jugendalter die gesundheitliche Entwicklung mit der sozialen Herkunft assoziiert" ist. Zumindest werden die Kinder hier selbst unverschuldet "Entwicklungsrisiken" ausgesetzt, worunter "ungesunde Ernährung, Übergewicht oder Verhaltensauffälligkeiten" gerechnet werden, von denen Kinder aus höheren sozioökonomischen Schichten eher verschont werden. Kinder und Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus bewegen sich weniger, sind weniger sportlich aktiv und verbringen mehr Zeit mit der Nutzung elektronische Medien.

Arme leben bis zu 10 Jahre kürzer, weil sie arm sind

Das alles schlägt sich in einer deutlich niedrigeren Lebenserwartung nieder: "Es zeigt sich, dass die Unterschiede in der mittleren Lebenserwartung bei Geburt zwischen der höchsten und der niedrigsten Einkommensgruppe 8,4 Jahre bei Frauen und 10,8 Jahre bei Männern betragen." Bei einem Einkommen unter 60 Prozent bezogen auf den Median des Netto-Äquivalenzeinkommens lebt eine Frau 76,9 Jahre und ein Mann 70,1 Jahre. Bei einem Einkommen von 150 Prozent und mehr beträgt die Lebenserwartung bei Frauen 85,3 Jahre und bei Männern 80,9 Jahre.

Fast 11 Jahre also lebt ein Mann, der zufällig in die höchste Einkommensgruppe hineingeboren wurde, durchschnittlich länger als ein Mann, der schon Pech hatte, weil er in der niedrigsten Einkommensgruppe zur Welt kam und dessen Uhr schon mit Geburt schneller abläuft. Noch drastischer sind die Unterschiede für die gesunde Lebenserwartung. Frauen der höchsten Einkommensgruppe leben in gutem oder sehr gutem Gesundheitszustand 13,3 Jahre, Männer 14,3 Jahre länger als diejenigen aus der niedrigsten Einkommensgruppe.

Aufgrund von Studien hätten die Unterschiede in der Lebenserwartung etwa in den USA oder Norwegen zugenommen. In Deutschland sei das schwer zu überprüfen, weil die "Datenlage" nur "eingeschränkt" sei, während Gröhe das "hohe Niveau unserer Gesundheitsberichterstattung" anpreist. Schön, vielmehr beschönigend wird im Gesundheitsbericht vermerkt, die vorliegenden Daten würden dafür sprechen, "dass sich die entsprechenden Differenzen in Deutschland in den letzten Jahren nicht verringert haben".

"Zum Teil", so der Bericht, seien die Unterschiede in der Lebenserwartung und bei den Gesundheitsrisiken "auf Unterschiede im Gesundheitsverhalten und der damit verbundenen Risikofaktoren zurückführen". Teilweise wären also, so die Behauptung, die Risiken reduzierbar, wenn die Menschen sich anders verhalten würden, also letztlich für ihr Gesundheitsverhalten selbst verantwortlich gemacht werden. Zum anderen Teil schweigt man offenbar lieber, was eben auch offizielle Strategie der Bundesregierung ist.

Fischbach räumt in ihrer Antwort auf die Frage der Linksfraktion zwar vorsichtig ein, dass es "verschiedene Befunde" gebe, "die darauf hindeuten, dass regionale Unterschiede in der Lebenserwartung und Sterblichkeit mit der regionalen sozioökonomischen Lage assoziiert sind". Immerhin muss sie auch zugestehen, dass "günstigere sozioökonomische Bedingungen in der Wohnregion mit einer höheren Lebenserwartung einhergehen". Aber für Fischbach spielen dann doch die sozioökonomischen Bedingungen keine Rolle mehr, alles Entscheidende spielt sich auf der individuellen Ebene ab, wo es dann letztlich um Selbstverantwortung und eigene Schuld geht. Die Unterschiede, so schreibt sie nun apodiktisch, "lassen sich auf eine Vielzahl von individuellen Einfluss- und Risikofaktoren, wie Bildung, Gesundheitsverhalten (Rauchen, Ernährung, Bewegung) sowie Arbeit- und weitere Lebensbedingungen zurückführen."

Gefragt, welchen Handlungsbedarf die Bundesregierung aus den Erkenntnissen des Berichts zieht, heißt es, dass "zahlreiche Maßnahmen … auf eine Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit" zielen würden. Dazu zählt keine Veränderung der sozioökonomischen Bedingungen im Hinblick auf eine größere Einkommensgleichheit und damit auf eine größere gesundheitliche Chancengleichheit, sondern nur die Gesundheitsversorgung über die Krankenversicherung (die immer weiter eingeschränkt wird), Präventions- und Gesundheitsfördermaßnahmen "zur Verminderung sozial bedingter und geschlechtsbezogener Ungleichheiten". Mit dem Präventionsgesetz (dazu siehe: Mehr Vorbeugung = mehr Gesundheit? [3]) stünden so dieses Jahr 500 Millionen Euro für Prävention und Gesundheitsförderung in jedem Lebensalter zur Verfügung. Zudem habe man Gesundheitsziele [4] als einen "Leitfaden zur gesundheitlichen Chancengleichheit" formuliert.

Sabine Zimmermann, stellvertretende Vorsitzende und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, kritisiert [5]: "Armut wie schlechte Gesundheit werden von Generation an Generation weitergegeben. Um das zu ändern, braucht es mehr als Programme zur Gesundheitsprävention. Nötig ist die umfassende Bekämpfung von Armut und gesundheitsschädlichen Lebensverhältnissen, also höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gerade für Geringverdiener, mehr soziale und Jobsicherheit, Umweltschutz gerade in den Innenstädten und, und, und. Die aktuellen Untersuchungen zeigen, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich wirklich existentielle Bedeutung hat."

Die Antwort der Bundesregierung macht allerdings deutlich, dass man nicht an einer wirklichen Veränderung der gesundheitlichen Chancengleichheit interessiert ist. Gefördert werden Maßnahmen, die alles so lassen, wie es ist, aber letztlich dazu dienen, den von Geburt an Schlechtergestellten die Schuld zuschreiben zu können, nicht das Verhalten verändert und präventiv gehandelt, also gesündigt zu haben und dafür dann mit Krankheiten und kürzerem Leben bestraft zu werden. Man könnte auch sagen, bei der Präventionspolitik handelt es sich um eine Begünstigung der Wohlhabenden durch eine offenbar als alternativlos akzeptierte gesellschaftliche Tendenz, die finanz- und sozialpolitisch nicht gesteuert werden soll.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3379460

Links in diesem Artikel:
[1] http://dokumente.linksfraktion.de/inhalt/160311-ant-sterblichkeit.pdf
[2] https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesInDtld/gesundheit_in_deutschland_2015.pdf?__blob=publicationFile
[3] https://www.heise.de/tp/features/Mehr-Vorbeugung-mehr-Gesundheit-3369127.html
[4] http://gesundheitsziele.de/
[5] http://linksfraktion.de/nachrichten/zimmermann/