Selenskyj-Berater: "Ihr werdet um die Ukraine weinen und Konzerte geben"

Gedenkminute für die Ukraine in London, 24.02.2023. Bild: Number 10, CC BY-NC-ND 2.0

Ukraine am Abgrund: Kampf um Souveränität fraglich. Britischer Ukraine-Korrespondent mit ernüchterndem Bericht aus Kiew. Hier seine Einschätzung.

Kurz vor dem zweiten Jahrestag des Beginns des Angriffskrieges der russischen Armee gegen die Ukraine werde es für Kiew "immer schwieriger, seine Souveränität auf dem Schlachtfeld durchzusetzen", schreibt der Korrespondent der britischen Tageszeitung Times, Marc Bennetts. Die Hoffnung auf einen schnellen Sieg schwinde. Es gehe nur noch darum, weitere Gebietsverluste zu verhindern.

Von Kapitulation ist nicht die Rede, aber Präsident Selenskyj, seine militärischen Befehlshaber und die Bewohner der zerbombten Dörfer stehen vor der beunruhigenden Ungewissheit, wie viele Jahre Krieg die Ukraine noch ertragen muss, bis Russland von ihrem Territorium vertrieben und die Bombardierung ihrer Städte beendet ist.

Marc Bennetts

Experten wie Oberst Roman Kostenko warnten vor der Illusion eines militärischen Sieges. "Im Moment ist ein Sieg auf dem Schlachtfeld sehr unwahrscheinlich. Dieser Krieg kann Jahre dauern. Russland hat die Ressourcen dafür und sein Volk wird ihn durchhalten", sagte Kostenko der Times.

Die Stimmung in der Ukraine sei eher von "grimmiger Akzeptanz als von Defätismus" geprägt. Eine Kapitulation stehe nicht zur Debatte, aber die Hoffnung auf einen schnellen Sieg, die es im vergangenen Jahr noch gegeben habe, sei kaum noch vorhanden.

Moskau hat die Rüstungsproduktion hochgefahren, die Fabriken arbeiten rund um die Uhr. Dem Kreml ist es auch gelungen, seine Streitkräfte durch Mobilisierung und eine militärische Rekrutierungskampagne aufzustocken, obwohl er massive Verluste erlitten hat, die auf 90 Prozent der Größe der Armee geschätzt werden, die letztes Jahr in die Ukraine einmarschiert ist.

Ukrainische Generäle berichteten diese Woche von einer russischen Offensive im Osten. Die ukrainischen Truppen müssten die Militäroperationen wegen Artilleriemangels reduzieren.

Das Ausmaß der ukrainischen Verluste wird geheim gehalten, aber es wird nicht mehr versucht zu verbergen, dass die Opferzahl enorm ist. "Ich gebe den Neuen nicht einmal mehr eigene Kampfnamen. Die meisten halten ohnehin nicht lange durch", sagt ein ukrainischer Soldat in der Region Charkiw, der namentlich nicht genannt wurde.

Mychajlo Podoljak, einer der wichtigsten Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, beklagte gegenüber der Times, der Westen habe Kiew nicht rechtzeitig die nötige militärische Unterstützung gewährt. Er warnte vor einer "Demütigung" der USA, sollte der Kreml in der Ukraine siegen. "Putin hat das Blut der Demokratie gekostet, nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit. Solange sie nicht zerstört ist, wird er weitermachen", zitiert die britische Zeitung Podoljak.

Der Präsidentenberater zeigte sich enttäuscht darüber, dass sich die Bewilligung neuer Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar in Washington wegen Einwänden der Republikanischen Partei verzögert.

Sarkasmus aus Kiew

Auch die Zukunft der Militärhilfe der Europäischen Union steht infrage, nachdem Ungarn sein Veto gegen ein 50-Milliarden-Euro-Paket eingelegt hat. Podoljak reagierte mit Sarkasmus:

Das ganze Land wird vor ihren Augen zerrissen werden, wenn keine Lösung erreicht wird – und ihr werdet alle weinen und sagen: "Die Ukrainer tun mir so leid, die jetzt keinen eigenen Staat haben, weil sie in Scharen massakriert wurden. Lasst uns ein Konzert für sie veranstalten." Das ist ein normaler Ansatz, wenn Sie das mögen, sind wir nicht dagegen. Sehr humanitär.

Noch glaube der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow, dass Washington Kiew nicht im Stich lassen werde, schreibt Bennets.

Was bringen westliche Waffen?

Kostenko, der als Kommandeur in der Region Cherson kämpft, bezweifelt jedoch, dass westliche Waffen Putins Truppen aus ihren stark befestigten Verteidigungslinien vertreiben können.

Auch die bisher nur in Aussicht gestellten Lieferungen älterer F-16-Kampfflugzeuge aus dem Westen würden der Ukraine keine Überlegenheit bringen, so der Frontkommandeur.

Kostenko betont, dass die ukrainische Militärkampagne in diesem Jahr unter den gegebenen Umständen erfolgreich gewesen sei. Das realistische Ziel Kiews für das kommende Jahr müsse aber sein, weitere Gebietsverluste zu vermeiden. Zudem gelte es, so viele Angriffe wie möglich gegen russische Truppen am Boden und auf See zu führen. Von einer Lufthoheit sprach er nicht mehr.

Wir können es uns nicht leisten, symmetrisch mit den Russen zu kämpfen, wie die Russen anzugreifen, wie die Russen Leute zu verlieren oder wie die Russen Leute zu rekrutieren. Wir müssen Wege finden, wie wir zehnmal weniger Menschen verlieren als sie. Nur dann haben wir eine Chance, denn rein rechnerisch gehen uns die Leute schneller aus als ihnen.

Oberst Roman Kostenko

Selenskyj und eine halbe Million Soldaten

Selenskyj hatte kürzlich auf seiner Jahrespressekonferenz bekannt gegeben, dass die ukrainische Armee die Mobilisierung von weiteren 500.000 Zivilisten beantragt habe, um den russischen Offensiven weiter standhalten zu können.

Zu Beginn der russischen Invasion im vergangenen Jahr hätten sich noch lange Schlangen vor den Rekrutierungsbüros der Streitkräfte gebildet, weil sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer für den Militärdienst gemeldet hätten, heißt es in einem Bericht der Times aus Kiew.

Jetzt seien viele dieser Freiwilligen getötet, verletzt oder erschöpft und die Ukraine habe Schwierigkeiten, sie zu ersetzen. "Die Mobilisierung ist eine sehr große Herausforderung", sagt der ukrainische Politologe Wolodymyr Fesenko. "Viele Ukrainer sind patriotisch, aber gleichzeitig haben sie Angst um ihre Verwandten, um ihre Kinder und wollen nicht, dass sie kämpfen." , berichtet Bennett:

In Kiew erlebt man einen surrealen Alltag, der geprägt ist von Weihnachtsmärkten, belebten Cafés und Verkehrsstaus, aber auch von Luftschutzsirenen in der Nacht. Nach Monaten relativer Ruhe hat Russland seine Bombenangriffe wieder intensiviert. Vergangene Woche schreckte die Stadt um drei Uhr morgens auf, als die Kiewer Luftabwehr zehn russische ballistische Raketen abfeuerte. Die Trümmer einer dieser Raketen schlugen in einem Wohnhaus ein und verletzten mehr als 50 Menschen. Am Donnerstagabend schlugen erneut russische Kampfdrohnen in Wohnhäuser ein, lösten Brände aus und verletzten zwei Menschen.

Bennetts weist auch auf Berichte über Meinungsverschiedenheiten zwischen Präsident Selenskyj und General Walerij Saluschnyj, dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, hin. Obwohl Saluschnyj laut aktuellen Meinungsumfragen beliebter sei als der Präsident, zeige er keine politischen Ambitionen.

"Es gibt keinen direkten Bruch, aber es gibt Spannungen", wird Fesenko zitiert. "Aber man ist sich bewusst, dass man sich im Moment keinen Konflikt leisten kann, sondern im Interesse des Landes zusammenarbeiten muss."

Der Ukraine-Korrespondent der Times diskutiert trotz der militärisch scheinbar ausweglosen Lage die Optionen im Kampf gegen Russland. Trotz der scheinbaren Überlegenheit Putins hätten sich die Ereignisse oft als unvorhersehbarer erwiesen als zunächst angenommen, schreibt er.

Verweis auf Puschkin

Einige Vertreter der Ukraine äußerten in Gesprächen die Hoffnung, dass die politische Instabilität in Moskau - ausgelöst durch die hohen militärischen Verluste des Landes - ein wahrscheinlicheres Ende des Krieges bedeuten würde. Alexander Puschkin, der russische Dichter des 19. Jahrhunderts, drückte es so aus: "Gott bewahre uns vor einem russischen Aufstand, sinnlos und unbarmherzig".

Swiatoslaw Jurasch, mit 27 Jahren jüngster Abgeordneter der Ukraine und derzeit Gefreiter in der Armee, sagt: "Das Erste, was man lernt, wenn man die russische Geschichte studiert, ist, dass Instabilität in Russland nicht unmöglich ist. Moskau kann eingenommen werden, aber nicht von unseren Streitkräften, sondern von den Russen selbst. Es gibt genügend Präzedenzfälle, in denen die Russen ihre Regierung gewechselt oder gestürzt haben."

Marc Bennetts berichtet seit 2015 für die Times und Sunday Times über Russland und die ehemalige Sowjetunion, einschließlich der Ukraine. Er hat aus ganz Russland geschrieben, von Tschetschenien bis ins tiefste Sibirien.

Er ist Autor von zwei Büchern: I'm Going to Ruin Their Lives über Putins hartes Vorgehen gegen die Opposition, und Football Dynamo, über die russische Fußballkultur. Zurzeit schreibt er neben seiner Korrespondententätigkeit an einem Thriller, der in der Polarnacht im hohen Norden Russlands spielt.

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