Selenskyj in Davos: Auf dem Weg ins Nirgendwo

Der ukrainische Präsident Selenskyj mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Davos. Bild: Ukraine-Präsidentschaft / Public Domain

Seine Rede wurde gefeiert. Doch die Zukunft für die Ukraine ist düster. Warum eine Kompromisslösung mit Russland jetzt vernünftig wäre. Kommentar.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach dieses Mal nicht per Videoschalte zu den Mächtigen und Einflussreichen, die sich beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos versammelt haben. Er reiste persönlich an, um den Vertreter:innen des Westens ins Auge zu schauen.

Er ermahnte sie, bei der Unterstützung des Lands im Krieg gegen Russland nicht nachzulassen. "Wir können ihn zu Land, zu See und in der Luft schlagen", sagte Selenskyj mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und er fuhr fort:

Nach 2014 gab es Versuche, den Krieg im Donbass einzufrieren. Aber Putin ist ein Raubtier, das sich nicht mit Eingefrorenem zufrieden gibt.

Der ukrainische Präsident hat sicherlich recht: Russland ist weiter der Aggressor und bricht Völkerrecht. Doch die Lage ist komplex, wenn es darum geht, einen Ausweg aus dem Sterben und Unrecht zu finden.

Das Dilemma

Denn der Krieg wurde von den USA und seinen Verbündeten provoziert. Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wird keine russische Regierung jemals akzeptieren – das ist den USA auch seit Langem klar. Genau das erzeugt das Dilemma.

Denn einerseits forciert die ukrainische Regierung unter Selenskyj weiter die Aufnahme, sprich sogar faktisch von einer Nato-Teilhabe, während die Nato und die USA erklären, dass nur eine Mitgliedschaft in dem Militärbündnis eine dauerhafte Sicherheit für die Ukraine bedeuten kann.

Andererseits ist diese Position das beste Rezept für einen endlosen Krieg. Vor allem vor dem aktuellen Hintergrund. Die Offensive der Ukraine ist gescheitert, die Zeit läuft gegen Kiew (und für Russland) und die USA, Hauptsponsor für die militärische Aufrüstung, fallen zunehmend aus.

Eine Unterstützung durch Washington auf dem Niveau der letzten fast zwei Jahre ist zugleich sehr unwahrscheinlich. Ob die EU diese Lücke füllen kann – und will – steht in den Sternen.

50 Milliarden von der EU

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zwar angekündigt, die 50 Milliarden Euro Ukraine-Hilfe für die nächsten vier Jahre auch ohne Zustimmung Ungarns zu genehmigen. Aber das löst nicht die diversen Probleme.

Eines davon ist die Tatsache, dass russische Luft- und Raketenangriffe mit großer Reichweite zunehmend die Kapazitäten der ukrainischen Luftabwehr überfordern. Und der Westen ist einfach nicht in der Lage, weiterhin Patriot-Raketen oder andere moderne Luftabwehrsysteme bereitzustellen.

Und selbst wenn die militärische und humanitäre Hilfe in großer Dimension über viele Jahre bereitgestellt werden könnte, würde sich die Lage für die Ukraine weiter verschlechtern. Wie George Beebe und Anatol Lieven auf Responsible Statecraft in den USA erklären:

Es besteht kaum eine realistische Chance, dass der Westen in der Lage ist, Russland zu übertrumpfen und das Land zu zwingen, einen Frieden zu ukrainischen Bedingungen zu akzeptieren. Die Kontroversen im US-Kongress über die Hilfe für die Ukraine spiegeln diese Realitäten wider und werden wahrscheinlich nicht abebben.

Warum es schlecht um die Ukraine steht

Denn die Ukraine befindet sich zunehmend auf dem Schlachtfeld und ökonomisch auf der Verliererstraße. Ihr gehen die Soldaten aus, auf die man verzweifelt mit immer rigideren Rekrutierungsmaßnahmen reagiert, während Russlands Bevölkerung viermal und die Wirtschaftsleistung gar 14-mal so groß ist wie die der Ukraine.

Die russische Armee ist darüber hinaus, wie Militärexperten betonen, besser geführt und taktisch geschickter als zu Beginn des Krieges. Die westlichen Sanktionen scheinen zudem nicht geeignet zu sein, die russische Wirtschaft, die sich immer mehr auf den Krieg einstellt, lahmlegen zu können.

In der Ukraine von einer wirtschaftlichen Erholung unter Kriegsbedingungen auszugehen, um derart die strengen Auflagen einer angestrebten EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, ist außerdem reines Wunschdenken.

In Davos verwies Selenskyj auf seinen 10-Punkte-Friedensplan. Darin wird u.a. der Rückzug der russischen Truppen, Reparationen, ein Tribunal gegen die Kriegsverbrecher und die Sicherung der ukrainischen Souveränität in den Grenzen vor 2014 gefordert. Das ist an sich richtig und legitim.

Wäre Putin bereit für Gespräche?

Aber man muss ehrlich sein: Das bedeutet Krieg über viele Jahre ohne jegliche Perspektive auf Beruhigung, mit enormer finanzieller und militärischer Unterstützung von den USA und den EU-Staaten. Ohne Garantie, dass am Ende alles gut wird.

Denn ohne Verhandlungen mit Russland, die Selenskyj kategorisch ausschließt, ohne Kompromiss beim Thema Neutralität, Krim und einem wie auch immer gearteten Autonomiestatus für den Donbass, wird weiter in der Ukraine gekämpft, gestorben und die Wirtschaft zerstört werden.

Russland hat zwar den ukrainischen Friedensplan zurückgewiesen, aber Putin hat immer wieder betont, dass er zu Gesprächen bereit sei.

Ob er es ernst meint, kann man nicht wissen, ohne es vorher probiert zu haben. Und Russland könnte durchaus an einem Ende des Krieges interessiert sein.

Man muss Russland etwas anbieten

So impliziert Moskaus Isolierung durch den Krieg im Zuge westlicher Sanktionen und diplomatischer Eiszeit durchaus auch Gefahren für das Land. Man macht sich zum Beispiel immer abhängiger von einer Kriegswirtschaft und von China. Auch der innenpolitische Druck könnte in einem fortlaufenden Zermürbungskrieg größer werden.

Wie Beebe und Lieven warnen, könnte eine Verschlechterung der Lage für die Ukraine auf dem Schlachtfeld die Position Kiews bei zukünftigen Verhandlungen zudem deutlich schwächen gegenüber der Gegenwart.

In Davos erhielt Selenskyj für seine Rede stehende Ovationen. Doch was dort niemand zur Sprache bringen will, ist der Elefant im Raum: die Neutralität der Ukraine. Ohne sie, ohne eine klare Absage an eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, wird Russland weiter Krieg führen. Ob wir das nun wollen oder nicht.

Und, so schwer es auch für die Ukraine sein wird, man muss Russland etwas anbieten und die Frage der von russischen Truppen gehaltenen Territorien (Krim, Donbass, etwa 20 Prozent der Ukraine) in die Zukunft verschieben – und ja damit "einfrieren", bis zum Beispiel unter der Schirmherrschaft der UN eine Verhandlungslösung gefunden werden kann.

Denn die Alternative würde nicht nur weiter Krieg und Zerstörung bedeuten, sondern könnte auch noch zusätzliche Landverluste und Instabilitäten für die Ukraine in der Zukunft bereithalten.