"Selenskyj ist für den Krieg genauso verantwortlich. Er wollte den Krieg!"
Lulas Mai in Brasilien: Nadelstiche gegen Biden, den amerikanischen Krieg in der Ukraine und gegen das allzu schlichte Narrativ
Allmählich formiert sich Lateinamerika in der Ukraine-Frage: Und es formiert sich sehr klar gegen die USA und den US-Stellvertreterkrieg in der Ukraine. Gegen die allzu einfache Lesart vom "russischen Angriff" und dem "Verteidigungskampf des freien Westens".
In vorderster Reihe steht der brasilianische Präsidentschaftskandidat Luiz Inacio Lula da Silva. Der 76-jährige Lula, der bereits von 2003 bis 2010 Präsident Brasiliens war.
"Auch die USA und die EU sind schuldig"
In scharfen Worten kritisiert Lula jetzt in einem umfangreichen Interview im Time-Magazin zum Start seiner Wahlkampfkampagne die Politik des Westens in der Ukraine-Krise:
Wir Politiker ernten, was wir säen. Wenn ich Brüderlichkeit, Solidarität und Harmonie säe, werde ich Gutes ernten. Wenn ich Zwietracht säe, ernte ich Zwietracht. Putin hätte nicht in die Ukraine einmarschieren dürfen. Aber es ist nicht nur Putin, der schuldig ist.
Auch die USA und die EU sind schuldig. Was war der Grund für den Einmarsch in die Ukraine? Die Nato? Dann hätten die USA und Europa sagen müssen: 'Die Ukraine wird der Nato nicht beitreten.' Damit wäre das Problem gelöst gewesen.
Lula
Auch der mögliche Beitritt der Ukraine zur EU hätte von den Europäern deutlich und unzweideutig verworfen werden müssen. Stattdessen, so Lula, haben auch die Europäer die Konfrontation noch gefördert. Die europäische Diplomatie habe versagt. Man habe zu wenig Gesprächsbereitschaft gezeigt und statt mit Putin und den Russen nur mit der Ukraine gesprochen.
Man sei ungeduldig gewesen, habe sich nur zu kurzen Treffen verabredet, aber nicht zu längeren Verhandlungsrunden "über 10, 15, 20 Tage". Dialog funktioniere nur, wenn er ernst genommen werde, so Lula. "Bürokratie kann Politik nicht ersetzen."
"Selenskyjs Verhalten ist ein bisschen seltsam. Es scheint, dass er Teil des Spektakels ist"
Geradezu ein rotes Tuch ist für Lula offensichtlich der ukrainische Präsident, sein öffentliches Auftreten und die würdelose Art und Weise wie er von den westlichen Regierungen hofiert wird.
Ich sitze manchmal da und sehe, wie der ukrainische Präsident im Fernsehen spricht, applaudiert und von allen Parlamentariern mit stehenden Ovationen bedacht wird. Dieser Mann ist für den Krieg genauso verantwortlich wie Putin. Denn in diesem Krieg gibt es nicht nur einen Schuldigen. ... der ukrainische Präsident hätte sagen können: 'Kommt schon, lasst uns für eine Weile aufhören, über diese Nato-Sache und den Beitritt zur EU zu reden. Lasst uns erst noch ein bisschen diskutieren.' ...
Ich kenne den Präsidenten der Ukraine nicht. Aber sein Verhalten ist ein bisschen seltsam. Es scheint, als ob er Teil des Spektakels ist. Er ist morgens, mittags und abends im Fernsehen zu sehen. Er ist im britischen Parlament, im deutschen Parlament, im französischen Parlament, im italienischen Parlament, als ob er eine politische Kampagne führen würde. Er sollte am Verhandlungstisch sitzen.
Lula
"Er wollte den Krieg!"
Stattdessen habe Selenskyj aber den Krieg gewollt. Und zurzeit versuche niemand, Frieden zu schaffen. Stattdessen schüren man Hass gegen Putin. "Ihr ermutigt diesen Kerl [Selensky], und dann denkt er, er sei das Sahnehäubchen auf eurem Kuchen." Stattdessen sollte man endlich ernsthafte Gespräche führen: "OK, du warst ein netter Komiker. Aber lass uns keinen Krieg führen, damit du im Fernsehen auftauchst."
Auch für US-Präsident Joe Biden hat Lula Kritik übrig. Er sei inaktiv, Biden hätte ein Flugzeug nach Moskau nehmen können, um mit Putin zu sprechen und den Krieg zu vermeiden. "Das ist die Art von Haltung, die man von einem Führer erwartet", sagte Lula und erinnerte damit nachdrücklich an einige blinde Flecken des Westens.
Damit liegt er auf einer Linie mit anderen Politikern des lateinamerikanischen Kontinents. Auch Brasiliens Ex-Außenminister Celso Amorim kommentierte vor Wochen gegenüber dem Spiegel die von Washington angeführten europäischen Strafmaßnahmen gegen Russland kritisch.
"Ich glaube nicht an den Mechanismus von Sanktionen, sie verschlimmern nur die Situation. Diese Politik (...) führt nur zu Isolation. Wie wollen Sie den größten Flächenstaat der Welt isolieren? Das ist ein Schuss, der nach hinten losgeht", sagte Amorim dort.
Sanktionen seien ein Instrument der Einmischung, die keine Konflikte lösen, sondern Regierungen nur in den Autoritarismus treiben. Konflikte löse man nur durch Dialog.
Bei allem Bedauern über den Ukraine-Konflikt sei er "gegen eine endlose Ausdehnung der Nato". Die Nato sei nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bollwerk gegen den Kommunismus gewesen.
Später ging es ihr darum, die Welt nicht nur zu kontrollieren, sondern sie nach den Maßstäben und Vorstellungen eines bestimmten Landes zu verändern. Das rechtfertigt nicht das Vorgehen Russlands, aber man kann den Westen auch nicht von Verantwortung für die gegenwärtige Krise freisprechen.
Celso Amorim
Lula ist noch nicht gewählt. Anders sieht es mit dem ebenfalls Linken Gabriel Boric aus, der sich als "libertärer Sozialist" beschreibt, und gerade als chilenischer Präsident vereidigt wurde. Zwar hatte Boric noch vor seiner Vereidigung sofort den russischen Einmarsch in die Ukraine verurteilt.
Er kritisiert auch die Menschenrechtsverletzungen in den drei linken Diktaturen Lateinamerikas: Kuba, Nicaragua und Venezuela. Zu seiner Amtseinführung hat er Schriftsteller eingeladen, die von Nicaraguas Despoten Daniel Ortega ins Exil gezwungen wurden.
Doch haben seine Äußerungen auch taktische Gründe: Der neue Präsident signalisiert dadurch den Amerikanern, dass sie in ihm einen potenziellen Ansprechpartner haben, und er erkauft sich etwas Zeit gegenüber dem Imperium im Norden, das in Chile für zahlreiche illegale Eingriffe in die inneren Angelegenheiten des Landes verantwortlich war, insbesondere für den Putsch gegen Salvador Allende im Jahr 1973, der maßgeblich von der damaligen Regierung und der CIA initiiert wurde.
Wer solche Erfahrungen mit der Macht Amerikas hat, verhält sich hier gegenüber vorsichtig und provoziert Konflikte nur da, wo sie unvermeidlich sind.
Der Papst: "Das Bellen der Nato"
Zu diesen Stellungnahmen politischer Führer muss man auch die Kommentare rechnen, die in dieser Woche der argentinische Papst Franziskus öffentlich geäußert hat: Wie in jedem Konflikt gebe es auch im Ukraine-Krieg "internationale Interessen".
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sei von außen geschaffen. Für die Eskalation des Ukraine-Konflikts habe womöglich "das Bellen der Nato an Russlands Türe" gesorgt, mutmaßte Franziskus.
Er wolle zwar nicht so weit gehen, zu sagen, dass die Nato-Präsenz in den Nachbarländern Russlands den Kreml "provoziert" habe. Die Invasion sei dadurch aber "vielleicht erleichtert" worden.
Es hat immer regionale Kriege gegeben, viele. Denken wir etwa an Ruanda vor 25 Jahren, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber denken wir auch an Myanmar, oder weitere... Weil sie aber weit weg sind, sehen wir sie nicht, sondern nur den Krieg in der Ukraine, der nahe ist und uns handeln lässt.
Regionale Kriege fehlen nicht, es gibt ihrer so viele, dass ich oft von einem dritten Weltkrieg in Stücken gesprochen habe, der überall ein bisschen ist, verteilt.
Papst Franziskus
Er könne nicht beurteilen, ob Waffenlieferungen in die Ukraine nun richtig seien oder nicht, fügte der Papst diplomatisch hinzu.
"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken von Rüdiger Suchsland. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft"