Sense-less Cyber SM im Datenraum

pop~FEATURE - Stahl Stenslie

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Der Kommunikationsdesigner und Datenkünstler Stahl Stenslie, Norweger mit Basis in Köln, ist auf Bodyinterfaces wie Datenanzüge, die Sinnesrezeptoren enthalten und haptische Stimuli ausführen, spezialisiert. Seine Systeme schaffen elektronisch-menschliche Hybridwelten. Im Gegesatz zur alten Idee der Maschinen als Prothese zur Verlängerung der Sinne des Menschen funktionieren seine Installationen als erweiterte Maschinen-Gefühlsorgane, der Mensch wird Teil eines größeren postorganischen Cyberorganismus.

Anmerkung

Querverweis!: Unter dem Titel Body Surf and Meat Sports hat Stahl Stenslie einen eigenen Textbeitrag für Telepolis verfaßt.

Stahl Stenslie hat in Zusammenarbeit mit Spezialisten (Knut Mork, Marius Watz) in der kreativen Konfiguration von Hard- und Software bislang einmalige Projekte und Entwicklungen geschaffen, die sich mit Verbindungen zwischen erotischen Körpererfahrungen und Datenübertragungen in Echtzeit-Netzwerken beschäftigen.

The body of the future is the schizoid body. It is the moody, liquid expression of multiple ME's. When slipping into the electronic body of cyberspace, one is dressing in the cloth of possibilities, mutating into alternate personalities

Stahl Stenslie
Körperdatenbank zu CyberSM

Dabei ist eine stetige Weiterentwicklung dieser erotischen Tele-experimente von den frühen Arbeiten Inter_skin (1993) und CyberSM (1993-94) hin zu den neueren Projekten "sense:less" und "solve et coagule" zu beobachten.

Für die Netzwerkarbeit CyberSM wurde eine Körperbank zusammengestellt und gespeichert. Diese funktioniert in Verbindung mit einem Datenanzug mit eingebauten Sensoren, die durch einen jeweiligen Partner im Datenraum aktiviert werden können.

Diese Bilddatenbank ermöglicht die Konstruktion eines virtuellen Körpers zur Veranschaulichung von Prozessen an Körperteilen, die dem jeweiligen Partner zugefügt werden können. Durch die Auswahl des Geschlechts, des Aussehens und sogar der Beschaffenheit der Genitalien kann sich der jeweilige Benutzer einen virtuellen Sex-Partner entsprechend eigener Vorstellungen schaffen.

CyberSM beruht auf einer visuellen Repräsentation zur ferngesteuerten Kontrolle eines virtuellen Körpers.

Inter_Skin

[klickbar www.khm.uni-koeln.de/~mem_brane/Stahl/I_Skin/is.html]

Inter_Skin ist ein erotischer Kommunikationslink, der besondere Anforderungen an die taktile Datenübersetzung stellt. Es überträgt Körpererfahrung, indem es autoerotische Körperberührungen einem anderen Menschen 1: 1 oder einer ausgewählten Übersetzung auf andere Körperzonen entsprechend übermittelt. Es ist ein Kommunikationssystem das durch einen dritten Cyberorganismus im Netz existiert. Die Verwendung des Körpers als Schalt- und Kommunikationsfläche ist eine femininere Annäherung an das Schnittstellenproblem elektronischer Kommunikation.

Interskin benutzt den Körper selbst als Schnittstelle zur Kommunikation zwischen den Benutzern durch den Einsatz eines intelligenten Berührungs-Datenanzuges. Die Anzüge werden zu einer Zwischenhaut, um Reize, Informationen und Stimuli zu übertragen und auszutauschen.
Die Konzepte dieser Installationen repräsentieren neue Lösungsansätze für Kommunikation, ihre Schnittstellen und die Art der Datenübersetzung- übertragung und -codierung. Sie lenken den Blick und die Gedanken von der objektorientierten (über den Monitor) zur subjektorientierten Kommunikation (über den Körper). Inter_skin ähnelt in einer frühen Version sehr stark den Sim-Stims (for simulated stimulations) aus William Gibsons Roman "Neuromancer".

Inter_Skin ist ein sensorischer Kommunikationslink, der die Konzepte von Erotik um den Aspekt elektronischer Kommunikation erweitert - und umgekehrt. Die Arbeit wurde beim Elektronik-Festival ISEAŽ94 erstmalig unter dem vieldeutigen deutschen Arbeitstitel "Zwischenhaut" der Öffentlichkeit vorgestellt.

Sense-less

Sense-less Gesamtansicht

Bislang funktionieren Interaktions-Maschinen meist als Körperprothesen oder sind bestenfalls andersförmige (bzw. andersmaterialige), nicht genau definierbare, flüssige Rezeptionsorgane. In den Übergängen von den realen zu virtuellen Datenwelten Stenslies entwickeln sich nun eigene postorganische Wesen aus einer neuen Maschinen/Mensch-Symbiose.

Sense-Less Installationsansicht

Die Installation senseless wurde bei ElectraŽ96 in Oslo, einer Technokunstausstellung mit angeschlossenem Symposion, präsentiert. Es ermöglicht eine neue Erfahrung von Technologie in einer für Menschen fremden Realität.

VR-Technologie und ein spezieller Datenanzug ermöglichen dem Benutzer das Navigieren durch ein multisensorisches Environment. Die Grenzen der Umgebung basieren auf einem dramatischen Raum, der vielmehr durch Text und Dialog als durch dramatische Bühneninszenierung entsteht. Der Flug der Benutzer durch die Installation ist eine Erforschung mehrerer künstlicher Persönlichkeiten.

Die Betrachter außerhalb der Installation können die Reise des Benutzers innerhalb der Installation mitverfolgen. Sie wird auf die Außenhaut von sense:less projeziert. Das Publikum kann mitverfolgen, was der Benutzer über VR-Brillen wahrnimmt. Die Installation im Ausstellungsraum besteht aus einem fünf Meter hohem, ei-ähnlichem Gebilde aus Plastik und Stahl. Der Benutzer steht innerhalb einer halbtransparenten Plastikhülle, einem halb-opaquen Membran, die von kühler Luft durchströmt und einem Metallplateau mit rundumgebenden Armen aus Stahl gehalten und geschützt wird. Innerhalb des Einpersonen-Behältnisses erhält ein Strom von Frischer Luft die Erektion des Gebildes.

Die Welt von sense-less

Computer mit individueller Software als funktionierende "Reality-engines" produzieren die Bilder der virtuellen Welt von sense:less. Das Lautsprechersystem überträgt alle Laute, die der Installations-Benutzer hört, in den die Installation umgebenden Raum.

Ein Wesen aus sense-less

Innerhalb der Installation trägt der User einen leichtgewichtigen Datenanzug und stereoskopische VR-Brillen. Der Anzug kann 16 verschiedene Intensitäten von Stimuli ausführen, die als Vibration oder Wärmeempfindung wahrgenommen werden. Der Stimulus ist davon abhängig, welche Kreatur von sense:less man gerade berührt. So können die Charaktere, die in dieser virtuellen Welt leben, den User berühren. Die Intensität hängt von der Persönlichkeit des sense:less Wesens und den Aktionen des Benutzers ab.

Fünf Kreaturen mit menschlichen Stimmen und 3-Dimensinalen virtuellen Körpern bevölkern sense:less. Sie basieren auf realen Persönlichkeiten und tatsächlichen Erfahrungen. Jede hat eine Geschichte zu erzählen.

Netzstruktur

Die virtuelle Welt von sense:less ist eine Netzwerkstruktur in konstanter Veränderung. Sie basiert auf der Echtzeit-Datenübertragung von einem WWW-Server. Indem sie das grafische System beeinflussen, werden User des Internets zu Punkten der Installation. Mitglieder der Internetgemeinde sind virtuell präsente Teilnehmer der Installation. Die Form der virtuellen Umgebung ändert sich mit dem menschlichen Verhalten, das die Hypertextstruktur des WWW Servers verändert.

Solve et Coagula

Intelligenzerfindung durch Installationen

Ansicht (Modell) von solve et coagula

Solve et Coagula beschreibt das Prinzip eines transhumanen Cyberorganismus, der auf den Erfahrungen in einem Maschinenkörper beruht und Emotionen einer neuen Transspezies simuliert. Die geistige und körperliche Erfahrungswelt vermischt und materialisiert sich in der neuen Maschinenkörpererfahrung des Cyberorganismus.

Das neue Projekt solve et coagula ist durch diese Vermischungsstrategien eine Weiterentwicklung der Erfahrungsinterfaces. Es visualisiert durch emotionale Annäherung gewalttätige Zusammenhänge und ermöglicht gültige Erfahrungen durch Medientechniken basierend auf gegenseitigem Vertrauen der Teilnehmer. Körperlich spürbare Erfahrungen holen das Virtuelle in die Wirklichkeit. Die faktische Inszenierung der Installation und der Aufbau einer fatalen Situation haben etwas Gewaltätigges an sich. Freak Mutants - wie Stahl sie nennt - genießen die Erfahrung, nicht entkommen zu können, ausgeliefert zu sein, in einer Welt eingeschlossen zu sein und das Programm nicht abschalten zu können.

Das neue Projekte in Zusammenarbeit mit Knut Mork als Grafikdesigner verändert sich mit den empfangenen, in das System eingespeisten Reizen, basierend auf einer eigenen 3D Applikation.Im Vergleich zum Projekt sense:less, das im Laufe eines Jahres hauptsächlich über Datenaustausch via Internet entwickelt wurde, entsteht hier eine konkrete Projektrealisierung in persönlicher Zusammenarbeit in Oslo. Stahl erklärt, daß in solve et coagula spürbar wird, daß die Umsetzung menschlicher Phänomene und assozitiven Denkens leichter vor Ort anhand von Entwürfen funktioniert.

Der alchemistische Begriff solve et coagula (vgl. Koagulation, der Übergang von flüssigem Blut in Gestocktes) ist eine Metapher für die Frage danach, wie Computerintelligenz zu definieren ist. Nachdem es sich dabei um keine menschliche Intelligenz handelt, müßte sie auch unabhängig von menschlichen Ma_stäben definiert werden. Durch den symbiotischen Kontext des Datennetzwerks nimmt diese Arbeit eine Position zur unabhängigen nicht menschlichen Intelligenzentwicklung ein. Ohne Intelligenz ist die Lebensdefinition der Netzwerke selbst begrenzt. Wenn nun tatsächlich Lebensformen mit Intelligenz entstehen, was passiert dann?

Solve et coagula ist das bislang komplexeste Interface Stahl Stenslies mit aufwendigen taktilen Reizfaktoren, sensorischen Effektoren, Datensensoren, die komplexe Stimulationen an mehr als 100 Punkten des Körpers ermöglichen. Der Datenanzug wird wie ein tatsächlicher Körper fühlen, interpretiert Berührungen und reagiert.

Die Körperbanksysteme und Inter_skin haben mit Druck gearbeitet, solve et coagula wird den Mehrwert nicht bewußter Wahrnehmung integrieren, Blutdruck, Temperatur, Spracherkennung Herzfrequenz, Bewegung, EEG als Steuerungsfaktoren verwenden.

Das Projekt zielt auf einen Cyberorganismus, der im Netz lebt, als Netzwerkorganismus konzipiert ist und einen eigenen gefühlsmäßigen Charakter hat. Der Teilnehmer befindet sich innerhalb des Organismus und geht mit ihm eine parasitäre Verbindung ein. Die Systeminitiatoren nehmen eine Vaterposition ein. Der Mensch erlebt die Welt durch den Organismus und kann ihn für Erfahrungen im Netz verwenden. Dunkle unbekannte Gefühle werden durch die symbiotische Verbindung von Mensch und technologischem Wirt aufgedeckt.

Solve et cagula ist eine radikale und extreme Weiterentwicklung der fünf synthetischen Persönlichkeiten von sense:less, deren Entitäten im Cyberspace gefangen waren. Die matrizenähnliche Intelligenz und Gefühlsleben , die in sense:less noch durch Zufallsfaktoren bestimmt waren und den Benutzer taktil für den Kommunikationsaustausch stimulierten, waren über die Schnittstelle zum Realkörper durch den Datenanzug lokalisierbar. Der Benutzer von solve et coagula muß innerhalb einer synthetischen Kreatur mit multiplen Persönlichkeitskonzepten leben. Eine flüssige Persönlichkeit verfestigt sich währendessen.

Es geht darum, eine neue Erlebnisdimension zu erschließen und durch neue Kommunikationsarten künstliche Intelligenz nach alternativen Konzepten zu entwickeln. Für solve et coagula wird eine komplexe Persönlichkeit gebaut, die sich im Netz weiterentwickelt. Verschiedene Phasen der Entwicklung fluktuieren durch eine verschachtelte Persönlichkeitskonstruktion.

Das Interface zur Welt ist durch die geplante Installation gegeben, die bereits im Entstehen ist. Die Netzbenutzer sind wesentliche Faktoren der Installation. In der physischen Schnittstelle der Installation ist der User im Datenanzug in den Organimus versenkt. Der Mensch wird als Wahrnehmungsorgan für die Datenkreatur funktionalisiert. Das Projekt wird einen eigenen Server haben, der Kommunikation mit Netizens über eine grafische Oberfläche möglich macht. Drei Terminals befinden sich auf den Armen der Metallrippen der Installation, über die auch Zuschauer den emotionalen Zustand der Kreatur beeinflussen können.