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Sexualstrafrechtsreform: Eine Beweisaufnahme

Verurteilte Erwachsene in Deutschland nach Geschlecht und Straftatbestand im Jahr 2014. Quelle: Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts, Stand vom 29.4.2016

Oder: Wer am lautesten schreit, bekommt Recht?

Der Deutsche Bundestag wird am 7. Juli, über die Reform des Sexualstrafrechts entscheiden [1]. Seit Jahresbeginn wurde das Thema sexuelle Gewalt in den Medien heiß diskutiert.

Hier werden nach einem kurzen Rückblick die wesentlichen Tatsachenbehauptungen der Kampagnen hinterfragt. Es zeigt sich, dass die Zahl der sexuellen Übergriffe rückläufig und höchstwahrscheinlich sehr viel niedriger ist, als in den Medien vielfach behauptet. Auf inhaltliche Kritik wurde oft vor allem emotional reagiert. Auch die zitierten Zahlen über das Risiko von Falschbeschuldigungen sind nicht haltbar. Bekommt Recht, wer am lautesten schreit?

Die unter anderem von UN Women unter der Überschrift "Nein heißt nein" [2] geführte Kampagne für eine Gesetzesverschärfung wurde inzwischen von allen Parteien des Bundestags aufgegriffen. Am 1. Mai schrieben sich die Fraktionschefs der Regierungsparteien [3] den Slogan auf die Fahne.

Ein kurzer Rückblick

Werfen wir noch einmal einen Blick zurück: 2014 trat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen [4] in Kraft. Unter Juristinnen und Juristen war umstritten, ob das deutsche Sexualstrafrecht ihren Anforderungen genügte.

Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Bundestags unter Vorsitz der Grünen-Politikerin Renate Künast befasste [5] sich mit dem Thema. Inzwischen brachten neben der Bundesregierung auch Die Grünen und Die Linke Gesetzesentwürfe zur Änderung des Sexualstrafrechts [6] ein.

Von der Rechtsfrage zum Medienereignis

Was also mit einer Rechtsfrage zur Vereinbarkeit des Strafrechts mit der neuen Konvention begann, wurde schließlich eine breite gesellschaftliche Debatte zur Sicherheit von Frauen vor sexuellen Übergriffen. Um Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht oder jüngst die mutmaßliche Vergewaltigung des Models Gina-Lisa Lohfink nicht als Einzelfälle erscheinen zu lassen, wurden dabei von verschiedenen Interessengruppen immer wieder Zahlen zur Häufigkeit sexueller Straftaten und Belästigungen in die Diskussion gebracht.

So sprach [7] die Aktivistin Kristina Lunz im Zusammenhang mit der Kampagne von UN Women von mehreren hunderttausend Vergewaltigungen jährlich, die nicht angezeigt würden. Sie kritisierte den Status quo als ein patriarchales System, in dem Männer mehr wert seien als Frauen. Die Schriftstellerin Annika Reich kritisierte [8] zusammen mit der Strafverteidigerin Christina Clemm das Strafrecht als zu lasch.

Streitfragen

Von ihnen und anderen (siehe die Tagesschau vom 28.4.2016 [9]) wurde wiederholt angeführt, die derzeitige Situation erfordere körperlichen Widerstand von einem Opfer, damit ein sexueller Übergriff die Grenze zur Strafbarkeit überschreite.

Dagegen setzte sich bereits seit dem Februar 2015 der Richter Thomas Fischer in seiner Strafrechtskolumne [10] mehrfach kritisch mit der Gesetzesreform auseinander. Da er selbst als Sachverständiger vor den Ausschuss des Bundestags geladen worden war, schilderte er zunächst die bedenkliche Praxis der Parteien, nur diejenigen Expertinnen und Experten auszusuchen, die die eigene Meinung bestätigen. Damit wäre tatsächlich ein mögliches Gesetz nicht das Resultat einer ergebnisoffenen Debatte, sondern umgekehrt die Debatte ein Resultat der Meinung der Parteiführungen.

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

Fischer warf [11] anderen Gutachterinnen und Gutachtern sowie Frauen- und Opferverbänden aber vor allem auch vor, die bestehenden Gesetze und vor allem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - an dem er einem Strafsenat vorsitzt - immer wieder falsch darzustellen. So würden einige offenkundige Justizirrtümer zitiert, tausende anderslautende Urteile aber schlicht ignoriert.

Insbesondere setze die Strafbarkeit einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung seit rund zwanzig Jahren keinen körperlichen Widerstand des Opfers voraus. Das sei auch in einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2006 so festgestellt worden.

Von den Fragen zu den Fakten

Die juristischen Detailfragen sind für Laien oft schwer verständlich und in vielen Punkten auch eine Frage der Interpretation. Fragen zur Häufigkeit von Straftaten oder zur Praxis der Gerichte sind aber prinzipiell überprüfbar: Gerade deshalb werden ja Statistiken über Kriminalität erhoben und Gerichtsurteile veröffentlicht.

Dass die angebliche Dunkelziffer hunderttausender nicht zur Anzeige gebrachter Vergewaltigungen pro Jahr unplausibel hoch ist, habe ich vor Kurzem hier beschrieben (Vergewaltigung: Spiel mit den Zahlen [12]). Dazu passen schon nicht die Ergebnisse der repräsentativen Befragung des Bundesfrauenministeriums aus dem Jahr 2004, der zufolge 6% aller Frauen in Deutschland einmal in ihrem Leben oder häufiger vergewaltigt wurden.

Sexuelle Gewalterfahrungen stark rückläufig

Über reine Vermutungen hinaus führt jedoch eine repräsentative Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahr 2011. Dies wurde von den Kriminologen Deborah Hellmann und Christian Pfeiffer näher analysiert [13]. Zunächst einmal ergab dies mit 5,5% für sexuelle Gewalterfahrungen von Frauen insgesamt (also nicht nur Vergewaltigungen) eine deutlich niedrigere Quote als die Befragung im Auftrag des Bundesfrauenministeriums.

Dieser Unterschied lässt sich zum Teil durch den zeitlichen Abstand erklären. Die KFN-Studie zeigte nämlich auch, dass die Häufigkeit sexueller Gewalterfahrungen unter Frauen innerhalb der letzten fünf Jahre von rund 5% bei der Erhebung 1992 auf 2,5% im Jahr 2011 deutlich sank. Die höheren Zahlen des Bundesfrauenministeriums sind inzwischen bereits zehn Jahre alt.

Anzeigen und das Dunkelfeld

Wichtig ist nun, dass laut KFN-Studie 19,5% dieser Fälle zur Anzeige gebracht wurden. Fasst man jetzt die Zahlen aus dem Hellfeld, also aus der Polizeilichen Kriminalstatistik, für sexuelle Nötigungen (§§177 und 178 StGB) zusammen, dann kommt man für das Jahr 2014 bei knapp 12.000 angezeigten Fällen auf ein Dunkelfeld von rund 48.000 Fällen oder insgesamt rund 60.000 sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen in Deutschland.

Nur bezogen auf Vergewaltigungen liegt die Gesamtzahl noch einmal niedriger, nämlich bei rund 37.000. Das ergibt ein ganz anderes Bild, als die im Rahmen der Kampagne von UN Women und vielen anderen behaupteten mehreren Hunderttausend. Gemäß der KFN-Studie ist der häufigste Grund für den Verzicht auf eine Anzeige übrigens nicht, wie oft kritisiert, die Befürchtung von Frauen, dass ihnen niemand glaubt, sondern dass ihnen die Sache peinlich ist (53,6%). Je schlimmer der Vorfall, desto höher jedoch auch die Bereitschaft zur Anzeige.

Kritik auf der emotionalen Ebene

Erst vor wenigen Tagen reagierten [14] die beiden Juristinnen Theresa Richarz und Franziska Brachthäuser auf die zahlreichen Kommentare Thomas Fischers. Anstatt auf die von dem Bundesrichter seit mehr als einem Jahr erhobenen inhaltlichen Kritikpunkte einzugehen, werfen sie ihm vor allem eine Ablenkung "von den realen gesellschaftlichen Missständen durch juristische Wortklauberein" vor und greifen sie ihn auf der emotionalen Ebene an.

Auf die Bedenken, einer Ausweitung des Strafrechts könnten auch Unschuldige zum Opfer fallen, erwidern sie mit der Behauptung, nur bei 3% der angezeigten Vergewaltigungen handle es sich um Falschbeschuldigungen. Auf diese Zahl beriefen [15] sich auch Aktivistinnen, die vor Kurzem vor dem Berliner Amtsgericht für Gina-Lisa Lohfink demonstrierten.

Die Sache mit den Falschbeschuldigungen

Folgt man der Quellenangabe der beiden Juristinnen, landet man zunächst nur auf einem Blogbeitrag [16] der Juraprofessorin Ulrike Lembke. Dabei fällt gleich auf, dass Lembke zwar "blind zitierte zweistellige Zahlen … der bayerischen Polizei" als den schlichten Glauben einiger Polizistinnen und Polizisten kritisiert. Geht man den von ihr für aussagekräftig befundenen 3% nach, dann landet man jedoch - wiederum bei Zahlen von Polizei und Staatsanwaltschaft.

Schauen wir uns das Zustandekommen dieser drei Prozent also genauer an: Die Zahlen stammen aus dem 2009 veröffentlichten Bericht [17] der beiden Wissenschaftlerinnen Jo Lovett und Liz Kelly von der London Metropolitan University über die Aufklärung von Vergewaltigungsfällen in Europa. Neben makroskopischen Daten wurden in verschiedenen Ländern einige Einzelfälle detailliert untersucht.

Beispiel Deutschland

Von den hundert deutschen Fällen wurden 52 im frühen Stadium der Ermittlungen eingestellt: Darunter war ein Fall, in dem die Polizei der Meinung war, es handle sich um eine falsche Beschuldigung. In elf Fällen hat das Opfer nicht kooperiert oder die Anzeige zurückgezogen. Die Staatsanwaltschaft stellte 16 Verfahren ein, weil der Tatverdächtige nicht ermittelt werden konnte; in elf Fällen habe es unzureichende Beweise gegeben, in acht keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff; in einem weiteren habe es sich um eine falsche Beschuldigung behandelt.

Dieses Bild zeichnet sich so weiter bis zum Verfahrensende: In 23 dieser hundert Fälle kam es zu Verurteilungen (das widerspricht, am Rande, auch den häufig, unter anderem vom Bundesjustizminister, genannten 8% [18]). In einem weiteren Fall wurde im mittleren Stadium der Untersuchung das Verfahren wegen falscher Beschuldigung eingestellt. Dreimal eins, das sind die drei Prozent, die uns in der Diskussion so häufig begegnen.

Wie stellt man eine Falschbeschuldigung fest?

Diese Zahl wirft natürlich Fragen auf: Warum sind, laut Ulrike Lembke, Angaben der Polizei unglaubwürdig, wenn sie dem Standpunkt der Kampagne widersprechen, aber glaubwürdig, wenn sie (einmal durch die Polizei, zweimal durch die Staatsanwaltschaft) zum Standpunkt der Kampagne passen?

Das eigentliche Problem ist, wie man eine Falschbeschuldigung überhaupt feststellen will. Was ist mit den zurückgezogenen Fällen? Wurde das Opfer vielleicht unter Druck gesetzt? Dann wäre das natürlich katastrophal. Hat es aber vielleicht eingesehen, dass es gar keine Vergewaltigung war? Dann war die Anzeige natürlich auch eine falsche Beschuldigung. Was ist mit den Fällen, bei denen es keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff gab? Wir wissen es schlicht nicht. Davon abgesehen sind die hundert ausgewählten Fälle auch nicht repräsentativ.

Wissenschaftliches Bild widerspricht Kampagnen

Im Gegensatz zu den so zustandegekommenen 3% fasst [19] der britische Gerichtsmediziner Guy Norfolk in einer Übersichtsarbeit den Stand der Wissenschaft wie folgt zusammen: Neun Untersuchungen zu Falschbeschuldigungen bei Vergewaltigungen im Zeitraum von 1978 bis 2005 fanden eine variierende Rate zwischen 4,4% und 41%. Der Stand der Forschung ist in diesem Punkt also wesentlich differenzierter als es die Untersuchung der London Metropolitan University vermuten lässt.

Was bleibt von den Kampagnen? Während in Deutschland die Zahl der strafrechtlich relevanten sexuellen Übergriffe seit Jahren höchstwahrscheinlich fällt und die Anzeigenbereitschaft steigt, zeichnen feministische Aktivistinnen ein ganz anderes Bild der Wirklichkeit: Wenn man keine überzeugenden Daten hat, dann beruft man sich eben auf ein Dunkelfeld. Durch gebetsmühlenartige Wiederholung versucht man schließlich, die Bevölkerung und politische Entscheidungsträger hiervon zu überzeugen.

"Patriarchat" verurteilt vor allem Männer

Wie eingangs erwähnt, kritisierte Kristina Lunz im Zusammenhang mit der Kampagne von UN Women, in Deutschland herrsche ein patriarchales System, das Männer bevorzuge. Tatsächlich sind aber laut Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts 82,2% der verurteilten Erwachsenen hierzulande Männer.

Wenn man den Patriarchiatsvorwurf einen Schritt weiter denkt, dann ergibt das auch Sinn: Denn was in feministischen Diskursen häufig als Patriarchat den Männern vorgeworfen wird, war historisch gesehen meistens ein militaristischer Obrigkeitsstaat, in dem Männer mit Gewalt diszipliniert wurden, um gehorsam und hart für ihren Fürsten zu schuften und nach dessen Bedarf ins Gras zu beißen.

Deutscher Bundestag wird entscheiden

Wer, wie ich, die Diskussion der letzten Monate mitverfolgte, dürfte kaum einen Zweifel daran haben, dass die Verschärfung des Strafrechts morgen vom Deutschen Bundestag beschlossen werden wird. Die Vereinbarkeit mit europäischen Konventionen oder das Bestehen von Schutzlücken mögen juristische Interpretationsfragen sein.

Kein Zweifel besteht aber mehr daran, dass die Kampagnen für diese Verschärfung auf zahlreichen Fehlern und Falschdarstellungen beruhen. Es bleibt abzuwarten, ob sich von den rund 600 Volksvertreterinnen und -Vertretern, die nur ihrem Gewissen unterworfen sind, jemand dazu trauen wird, zu dieser fragwürdigen Form der politischen Einflussname im angeblichen Interesse von Opfern Stellung zu beziehen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3263094

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw27-ak-selbstbestimmung/433506
[2] http://www.unwomen.de/ueber-uns/neinheisstnein.html
[3] http://www.tagesschau.de/inland/sexualstrafrecht-reform-103.html
[4] http://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=0900001680462535
[5] http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/a06/anhoerungen/Archiv/istanbul-konvention/348876
[6] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw17-ak-sexualstrafrecht/419248
[7] http://wwww.zeit.de/gesellschaft/2016-03/sexuelle-gewalt-vergewaltigung-reform-sexualstrafrecht-un-women
[8] http://www.zeit.de/kultur/2016-04/sexualstrafrecht-gesetzesentwurf-kritik-geschlechterverhaeltnis-10nach8/komplettansicht
[9] http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-179029.html
[10] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/sexuelle-gewalt-sexualstrafrecht
[11] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-02/medien-strafrecht-luegenpresse-journalismus-fischer-im-recht/komplettansicht
[12] https://www.heise.de/tp/features/Vergewaltigung-Spiel-mit-den-Zahlen-3221942.html
[13] http://www.heymanns-mschrkrim.de/das-archiv/jahr-2015/heft-6/
[14] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-06/sexualstrafrecht-thomas-fischer-bundesrichter-frauenbild-vergewaltigung
[15] http://www.youtube.com/watch?v=OUYwkIgpWUQ
[16] http://verfassungsblog.de/warum-die-reform-des-sexualstrafrechts-keine-ist/
[17] http://kunskapsbanken.nck.uu.se/nckkb/nck/publik/fil/visa/197/different
[18] http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-166063.html
[19] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21663872