Sexualstrafrechtsreform: Eine Beweisaufnahme

Verurteilte Erwachsene in Deutschland nach Geschlecht und Straftatbestand im Jahr 2014. Quelle: Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts, Stand vom 29.4.2016

Oder: Wer am lautesten schreit, bekommt Recht?

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Der Deutsche Bundestag wird am 7. Juli, über die Reform des Sexualstrafrechts entscheiden. Seit Jahresbeginn wurde das Thema sexuelle Gewalt in den Medien heiß diskutiert.

Hier werden nach einem kurzen Rückblick die wesentlichen Tatsachenbehauptungen der Kampagnen hinterfragt. Es zeigt sich, dass die Zahl der sexuellen Übergriffe rückläufig und höchstwahrscheinlich sehr viel niedriger ist, als in den Medien vielfach behauptet. Auf inhaltliche Kritik wurde oft vor allem emotional reagiert. Auch die zitierten Zahlen über das Risiko von Falschbeschuldigungen sind nicht haltbar. Bekommt Recht, wer am lautesten schreit?

Die unter anderem von UN Women unter der Überschrift "Nein heißt nein" geführte Kampagne für eine Gesetzesverschärfung wurde inzwischen von allen Parteien des Bundestags aufgegriffen. Am 1. Mai schrieben sich die Fraktionschefs der Regierungsparteien den Slogan auf die Fahne.

Ein kurzer Rückblick

Werfen wir noch einmal einen Blick zurück: 2014 trat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Unter Juristinnen und Juristen war umstritten, ob das deutsche Sexualstrafrecht ihren Anforderungen genügte.

Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Bundestags unter Vorsitz der Grünen-Politikerin Renate Künast befasste sich mit dem Thema. Inzwischen brachten neben der Bundesregierung auch Die Grünen und Die Linke Gesetzesentwürfe zur Änderung des Sexualstrafrechts ein.

Von der Rechtsfrage zum Medienereignis

Was also mit einer Rechtsfrage zur Vereinbarkeit des Strafrechts mit der neuen Konvention begann, wurde schließlich eine breite gesellschaftliche Debatte zur Sicherheit von Frauen vor sexuellen Übergriffen. Um Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht oder jüngst die mutmaßliche Vergewaltigung des Models Gina-Lisa Lohfink nicht als Einzelfälle erscheinen zu lassen, wurden dabei von verschiedenen Interessengruppen immer wieder Zahlen zur Häufigkeit sexueller Straftaten und Belästigungen in die Diskussion gebracht.

So sprach die Aktivistin Kristina Lunz im Zusammenhang mit der Kampagne von UN Women von mehreren hunderttausend Vergewaltigungen jährlich, die nicht angezeigt würden. Sie kritisierte den Status quo als ein patriarchales System, in dem Männer mehr wert seien als Frauen. Die Schriftstellerin Annika Reich kritisierte zusammen mit der Strafverteidigerin Christina Clemm das Strafrecht als zu lasch.

Streitfragen

Von ihnen und anderen (siehe die Tagesschau vom 28.4.2016) wurde wiederholt angeführt, die derzeitige Situation erfordere körperlichen Widerstand von einem Opfer, damit ein sexueller Übergriff die Grenze zur Strafbarkeit überschreite.

Dagegen setzte sich bereits seit dem Februar 2015 der Richter Thomas Fischer in seiner Strafrechtskolumne mehrfach kritisch mit der Gesetzesreform auseinander. Da er selbst als Sachverständiger vor den Ausschuss des Bundestags geladen worden war, schilderte er zunächst die bedenkliche Praxis der Parteien, nur diejenigen Expertinnen und Experten auszusuchen, die die eigene Meinung bestätigen. Damit wäre tatsächlich ein mögliches Gesetz nicht das Resultat einer ergebnisoffenen Debatte, sondern umgekehrt die Debatte ein Resultat der Meinung der Parteiführungen.

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

Fischer warf anderen Gutachterinnen und Gutachtern sowie Frauen- und Opferverbänden aber vor allem auch vor, die bestehenden Gesetze und vor allem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - an dem er einem Strafsenat vorsitzt - immer wieder falsch darzustellen. So würden einige offenkundige Justizirrtümer zitiert, tausende anderslautende Urteile aber schlicht ignoriert.

Insbesondere setze die Strafbarkeit einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung seit rund zwanzig Jahren keinen körperlichen Widerstand des Opfers voraus. Das sei auch in einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2006 so festgestellt worden.