Sind die USA jetzt unser Feind? – Transatlantiker im Schockzustand

Medien: Deutsche Außenpolitik-Experten sind alarmiert. Die Abwendung der USA von Europa und ein Deal mit Russland: Was bedeutet das für unsere Sicherheit? Analyse.
Donald Trump ist nicht Joe Biden. Das ist nicht wie der Rückzug aus Afghanistan.
Kenneth Weinstein, Außenpolitik-Experte
Wenn es im aktuellen Bundestagswahlkampf um Zukunftsfragen ginge, wie die deutsche Bildungsmisere, wie die globale Klimakrise oder wie die Energieversorgung der Zukunft, wäre das vermutlich schön.
Es könnte aber sein, dass es ein noch wichtigeres Thema gibt, das tatsächlich alle anderen in den Schatten stellt, beziehungsweise mitprägt: die Frage nach dem transatlantischen Verhältnis. Wird in diesen Tagen die Ordnung der Nachkriegszeit endgültig Geschichte?
Wenn das zutrifft, wäre die Politik einmal mehr die beste Schule und Lehrmeisterin der Gesellschaften des erodierenden Westens.
Die Debatte um die transatlantische Krise, um den Charakter der Verhandlungen zwischen den USA und Russland, um die zunehmend unvorhersehbare Außenpolitik der USA und vor allem um die Unfähigkeit Europas, zu handeln und zu einer eigenständigen internationalen Rolle als geopolitischer Akteur zu finden, bestimmte viele Beiträge deutscher Medien in den letzten Tagen.
Fundamentaler Bruch der Nachkriegsgeschichte?
Den Anfang machte der Politologe Albrecht von Lucke. Im Interview auf ntv formulierte er die Kernfrage: "Was ist, wenn die Amerikaner uns als Feind begegnen, nicht als Freund?" Dieses Thema bestimme zu Recht den deutschen Wahlkampf, so der Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Wir alle müssten uns "mit einem fundamentalen Bruch der Nachkriegsgeschichte vertraut machen", sagte Lucke:
Wir müssen uns auf die Tatsache einstellen, dass die Amerikaner nicht mehr bereit sind, ein freundlich gesonnener Staat in Europa zu sein, der die Interessen der freien demokratischen Welt auch in Europa vertritt.
Albrecht von Lucke
Ein Deal mit Putin zeichne sich bereits jetzt ab. Für den werden in Luckes Perspektive zuallererst die Europäer aufkommen müssen, die Ukraine und die Staaten der EU.
"Sind wir bereit, diesen Waffenstillstand dann gegebenenfalls auch mit Truppen zu unterstützen?"
Diese Entscheidung treffe "ins Mark der Europäischen Union": Welchen Preis will, welchen Preis kann Europa zahlen, um auch ohne Unterstützung der Vereinigten Staaten die demokratische Friedensordnung zu sichern?
Das ist erregt formuliert, aber nicht panisch gemeint.
"Offene Kapitulation, die gefordert wird"
Anders schon die Politologin und einschlägig bekannte Atlantikerin Claudia Major bei Maischberger (ca. 51min):
Es geht eher darum, dass die beiden Großmächte die Welt entscheiden. (...) Ich sehe überhaupt keinen Druck auf Russland. Das ist eine offene Kapitulation, die gefordert wird, ein russischer Siegfrieden.
Sie fürchtet eine komplett disruptive, konzeptlose US-Politik – und macht damit möglicherweise den gleichen Fehler, den allzu viele Europäer bereits in der ersten Amtszeit von Trump gemacht haben.
Weil ihnen dieser Präsident politisch wie ästhetisch nicht zusagt, unterschätzen sie ihn, möchten ihn nur als Clown und infantilen Pokerspieler sehen, und nicht als jemanden, der auf eine komplett andere Weise Politik macht, ja: Politik in mancher Hinsicht neu erfindet.
Selbstverständlich ist die Trumpsche Politik keine moralisierende, "wertegeleitete", völkerrechtsbasierte Außenpolitik mehr. Deswegen ist sie aber noch lange nicht konzeptlos. Ihre große Sorge sei, so Major, dass "wir in ein Kriegsende reinrennen in dem genau der zukünftige Krieg angelegt ist".
"Die ersten Schritte sind darauf angelegt, Putin einzubinden"
Es war der übliche, fatalistisch grundierte Pessimismus des gegenwärtigen Europas: Liegt nicht in einem schlechten Kriegsende bereits der Keim für den nächsten Krieg? Mag sein.
Aber dies kann natürlich immer passieren. Es wäre aber genauso gut der Fall gewesen, wenn das von Major immer gern vertretene Ziel eines "Sieges der Ukraine" eingetreten wäre. Russland würde auf Revanche sinnen.
Der US-Außenpolitik-Berater Kenneth Weinstein versuchte dagegen in der gleichen Sendung zu beruhigen und die positiven Seiten der neuen Entwicklungen zu sehen. "Donald Trump ist nicht Joe Biden", so Weinstein:
Das ist nicht wie der Rückzug aus Afghanistan, wo die Leute aus den Flugzeugen fallen, das ist eine sehr komplizierte Aufgabe und die wird nicht funktionieren, wenn Putin nicht gewillt ist, zu verhandeln. Das heißt, die ersten Schritte sind darauf angelegt, Putin einzubinden.
Der große Bruder in Washington
Die jetzigen Gespräche zwischen Russland und den USA müssen die Europäer aus zweierlei Gründen schmerzen: Zum einen geschieht hier genau das, was viele Kritiker der europäischen Ukrainepolitik, etwa der Politikwissenschaftler Johannes Varwick bereits vor drei Jahren, schon vor Beginn des militärischen Konflikts zwischen der Ukraine und Russland, eingefordert haben.
Die Europäer hatten also mehr als genug Zeit und Möglichkeiten, um Gespräche mit Putin aufzunehmen. Wer nach Katar fliegen kann, um dort schmutziges Gas von Diktatoren zu kaufen, kann auch in Riad im Schatten der saudischen Monarchie mit den Russen verhandeln.
Und wenn hierauf geantwortet wird, dass Russland nicht verhandlungsbereit gewesen sei, dann ist dies zumindest voreilig, dann hätte man es doch einmal auf eine Probe ankommen lassen können.
Wenn diese dann wie die Verhandlungsvorschläge der USA noch mit rhetorischen Zugeständnissen auf Pressekonferenzen unterfüttert worden wären, hätte eine gute Chance bestanden, um das Heft des Handelns selbst in der Hand zu halten und nicht etwa vom großen Bruder in Washington vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.
Neogaullistische Atommacht Europa?
Auch ausgerechnet die FAZ, lange Zeit eine der größten publizistischen Vorposten der Transatlantiker vollzieht gerade die Abkehr von den USA, eine eurogaullistische Wende. FAZ-Herausgeber Berthold Kohler, zuständig für das Politikressort, plädiert heute für eine entschiedene sicherheitspolitische Abwendung von den USA:
Trump glaubt nicht daran, dass er Verbündete braucht. Für ihn ist die Welt ein unregulierter Immobilienmarkt, auf dem, das verbindet ihn mit dem von ihm offenbar bewunderten Putin, nur das Recht des Stärkeren gilt. Die "regelbasierte Ordnung" ist für Trump eine Erfindung der Schwachen, die angeblich Amerika ausnutzten, bis er auf der Bühne erschien, um es endlich wieder groß zu machen.
Berthold Kohler
(...)
Was bedeutet dieser Epochenbruch für Europa, für Deutschland? Das ist schon tausendmal festgestellt worden, ohne dass daraus die ebenfalls schon tausendmal genannten Konsequenzen entschieden genug gezogen worden wären. Wenn die Europäer sich Putins Willen nicht unterwerfen wollen muss Europa sehr schnell die sicherheitspolitische Integration vertiefen und zu einer Militärmacht werden, die den Kreml wenigstens halbwegs so gut vor Aggressionen gegen das europäische Nato-Gebiet abschreckt wie bisher die amerikanische Drohung, im Ernstfall einzugreifen.
(...)
Will Europa nicht erpressbar werden, braucht es eine glaubwürdige nukleare Abschreckung. Das mehrfache Angebot Macrons, darüber zu sprechen, welche Rolle die "Force de frappe" dabei spielen könnte, griff Berlin nicht auf. Deutschland werde sich beim Atomschirm weiter auf Amerika verlassen können, sagte Bundeskanzler Scholz, wenn man ihn danach fragte.
Die FAZ hielt einen europäischen Atomschirm meist für falsch, jetzt wird die Ausweitung der "force de frappe" gefordert – die Zeitenwende ist da.
Daddy sagt bye bye
Ist das wirklich nötig? Trump möchte den Krieg beenden und Putin an den Verhandlungstisch bringen. Er möchte außerdem die Lasten verteilen. Das liegt im US-amerikanischen Interesse ebenso, wie es moralisch gesehen nur recht und billig ist.
Wir erleben eine Rückkehr in Großmachtpolitik aus dem 19. Jahrhundert. Die beiden Großen entscheiden über die Kleinen. Das ist eigentlich das, was Putin seit Beginn des Krieges wollte. Aber es trifft auch sachlich zu: Die Ukraine ist Verfügungsmasse, sie ist wie Glacis zwischen den beiden großen Blöcken.
Allerdings gilt dies nicht nur für die Perspektive Russlands, sondern auch für die aus den USA, denn ganz offen hat Donald Trump in den letzten Wochen die geoökonomischen Interessen der USA benannt: Seltene Erden, Titan, Lithium. Es geht und ging in der Ukraine nie in erster Linie um das Völkerrecht, sondern um Interessen.
Darum die Nachfrage: Warum lassen sich denn die Europäer nicht mit seltenen Erden bezahlen? Warum lässt sich die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt sich von den USA erklären, was seine zukünftige geopolitische Rolle sein soll?
Die Mächte der Zukunft
Auch in Politikeräußerungen dieser Tage ist erkennbar viel Panik und Erschütterung zu spüren. Niemand reflektiert, dass die USA und Russland im 20. Jahrhundert schon immer Weltmächte gewesen sind, und dass Europa sich, wie kluge Beobachter früh erkannt haben, sich bereits spätestens seit dem Friedensschluss von 1945 vor 80 Jahren in einem Bedeutungsabstieg befindet.
Bekanntlich prognostizierte schon der französische Politologe Alexis de Tocqueville um 1830, dass Amerika und Russland die Mächte der Zukunft seien.
Niemand reflektiert auch, dass auch Großmächte Verbündete, Vasallenstaaten und Satrapen brauchen, dass sie nicht allein stehen können.
Niemand aber denkt darüber nach, dass selbst ein "Deal" zwischen den großen Mächten Monate bis zu einem Verhandlungsergebnis brauchen dürfte, und danach einmal umgesetzt werden müsste. Die Europäer haben also noch etwas Zeit. Sie sollten sie allerdings nutzen.