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Sinn Fèin-Wahlsieg bringt die irische Politik in Bewegung

Cliffs of Moher. Bild: JoachimKohlerBremen/CC BY-SA 4.0

Moderner, weiblicher, sozialer: Der Wahlsieg der linken Republikaner lässt nicht nur die Diskussion um eine irische Wiedervereinigung aufflammen. Er zeigt vor allem einen grundsätzlichen Wandel in der irischen Gesellschaft an

Bei den Wahlen gewann Sinn Fèin überraschend mit 24,5 Prozent bei den Erststimmen. Allerdings fiel der Vorsprung denkbar knapp aus. Von einer Mehrheit der Sitze sind alle Parteien weit entfernt, wie die gestrige Abstimmung zur Wahl des Premiers bestätigte, die keine Mehrheit erbrachte [1]. Nun kommt es auf die Koalitionsverhandlungen an.

Der irische Premierminister Leo Varadkar, dessen Partei Fine Gael bei der Wahl eine schwere Niederlage einsteckte, hat ein Rücktrittsschreiben eingereicht [2], will aber zunächst als geschäftsführender Regierungschef weitermachen, bis ein Nachfolger gewählt wird [3].

Die Verhandlungen zur Regierungsbildung sind kompliziert, wie Mary Lou McDonald, Vorsitzende und Spitzenkandidatin der Sinn Fèin, gestern erfahren musste [4]. Sie erhielt zwar die meisten Stimmen, aber zur nötigen Mehrheit von 80 Stimmen fehlte ihr mit erreichten 45 Stimmen doch einiges. Allerdings haben die linken Republikaner gute Chancen in die Regierung einzutreten. Ihr überraschender Wahlsieg wirbelt die angelsächsische Politik gehörig durcheinander.

Historische Dimension

Schon die historische Dimension ließ viele Beobachter von einem "Erdbeben" und einer "Revolution" sprechen. Genau 100 Jahre, nachdem die irische Insel im Jahr 1920 geteilt wurde, könnte nun die Partei an die Regierung kommen, die wie keine andere mit dem bewaffneten Konflikt mit Großbritannien identifiziert wird. Mit Sinn Fèin würde erstmals dieselbe Partei sowohl den Süden als auch den Norden regieren.

Ebenso bemerkenswert, wie der Wahlsieg der linken Republikaner überhaupt, ist die Tatsache, dass Sinn Fèin inzwischen in beiden Landesteilen von Frauen geführt wird, die zudem nicht aus der historischen Führung der republikanischen Bewegung stammen. In Nordirland übernahm Michelle O’Neill bereits 2017 die Führung der Fraktion vom Veteranen Martin McGuinness. Mary Lou McDonald, die nun quer durch internationale Medien gefeiert wird, löste den historischen Vorsitzenden der Partei, Gerry Adams, im Februar 2018 ab.

"Ich denke, es wird Zeit, dass Irland von einer Frau und von Sinn Fèin regiert wird", verkündete Mary Lou McDonald ihren Anspruch auf das Amt des Premierministers, als sich der knappe Wahlsieg bestätigte. Zu Beginn der Auszählung hatte sich ein erdrutschartiger Sieg für ihre Partei abgezeichnet. Von den erfolgreichsten 25 Mandaten konnten Sinn Fèin-Kandidaten immerhin 20 auf sich verbuchen.

Dass die Linkspartei nicht deutlich mehr Sitze errang, lag nur daran, dass sie nicht ausreichend Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt hatte. Das irische Wahlsystem, bei dem die Wähler zusätzlich zur Erststimme weitere Präferenzen angeben können, sorgte allerdings für einen heftigen Linksruck. Viele Wähler gaben kleineren linken Parteien eine Präferenz, da nicht ausreichend Sinn Fèin-Kandidaten zur Verfügung standen.

So profitierten etwa die Grüne Partei, die Sozialdemokraten und auch die sozialistische "Solidarity" massiv vom Sinn Fèin-Durchmarsch [5]. Mit dieser Zweitstimmenpräferenz wollten Zehntausende Wählerinnen und Wähler offensichtlich sicherstellen, dass ihre Stimmen nicht den beiden ewigen Regierungsparteien Irlands zufallen, der wirtschaftsliberalen Fine Gael oder der konservativen Fianna Fáil.

Allerdings erreichten Sinn Fèin und die kleineren Linksparteien zusammen noch keine parlamentarische Mehrheit. Die politisch spektakulären 66 Sitze, welche die Linken gemeinsam stellen, liegen deutlich unter den notwendigen 81 Mandaten im 160-köpfigen Parlament. Trotzdem kündigte Mary Lou McDonald zunächst an, mit den kleinen Linksparteien über eine Koalition zu verhandeln. Sie wolle versuchen, eine Regierung ohne Fine Gael und Fianna Fáil zu bilden, welche den Süden des Landes abwechselnd seit 1926 regieren.

Mögliche Regierungskoalitionen

Bei diesen Sondierungen setzte die Wahlsiegerin zunächst auf eine Gruppe von 21 unabhängigen Abgeordneten. Am vergangenen Freitag musste Mary Lou McDonald jedoch einräumen, dass Sinn Fèin nicht in der Lage ist, mit den verschiedenen linken Parteien und Strömungen eine Regierung zu bilden. Dies liegt nicht ausschließlich an knappen Ergebnissen, wie Sinn Féin-Aktivist Ruairí Creaney berichtet [6], sondern auch daran, dass die verschiedenen linken Strömungen einander teilweise ein "rotes Tuch" sind.

Damit haben sich die Möglichkeiten, dass Sinn Féin an die Regierung kommt, jedoch keineswegs erschöpft. Am vergangenen Sonntag lud der Vorsitzende der Grünen Partei, Eammon Ryan, die linken Republikaner, Sozialdemokraten und die beiden ehemals größten Parteien zu Gesprächen ein [7]. Dank des allgemeinen Linksrucks hat die Grüne Partei die Zahl ihrer Sitze von vorher 2 auf 12 vervielfacht.

Ausgerechnet der als konservativ geltenden Fianna Fáil, welche in den vergangenen Jahren die Minderheitsregierung von Fine Gael duldete, könnte nun entscheidende Bedeutung zukommen. Historisch besteht zwischen Sinn Féin und Fianna Fáil eine engere Beziehung. Bis in die 1970er Jahre wählten Republikaner im Süden Irlands vorwiegend Fianna Fáil, weil es die Partei war, die im Bürgerkrieg den Anglo-Irischen-Vertrag abgelehnt hatte, der 1921 die Teilung der Insel zementierte.

Damals hatten sich in Fianna Fáil um den späteren Dauerpremier Éamon de Valera die radikaleren Republikaner versammelt, bis heute ist die Basis der Partei nicht nur konservativ und ländlich, sondern vor allem auch republikanisch eingestellt.

Sofort, als sich am Sonntag nach den Wahlen deren deutlicher Sieg abzeichnete, ertönten aus der Parteiführung zahlreiche Stimmen, die forderten, eine Koalition mit Sinn Féin einzugehen. Parteichef Micheál Martin hat seine Meinung in den vergangenen zehn Tagen mindestens drei Mal geändert. Vor den Wahlen hatten sowohl Micheál Martin als auch Premier Leo Varadkar kategorisch jede Zusammenarbeit mit der "IRA-Partei" ausgeschlossen.

Am Sonntag nach der Wahl sagte er unter dem Druck seiner Basis, er sei Demokrat und werde mit allen demokratisch gewählten Parteien verhandeln, sprich: auch mit Sinn Féin. Kurz nachdem Mary Lou McDonald die Sondierungen mit den anderen linken Parteien für gescheitert erklärte, sprang er zurück auf seine ursprüngliche Position.

Es ist sicher keine haltlose Unterstellung, dieses Verhalten als Verhandlungstaktik zu interpretieren. Fianna Fáil will zurück an die Regierung, wobei alle Seiten eine "Große Koalition" mit dem historischen Konkurrenten Fine Gael ausschließen. Mit gemeinsam 87 Sitzen verfügen Sinn Féin, die Grüne Partei und Fianna Fáil nicht nur über eine bequeme Mehrheit im Parlament. Innerhalb einer solchen Koalition bestünde zudem eine dominante linke Mehrheit aus Sinn Féin und der Grünen Partei.

Das Abstimmungsverhalten der Grünen im Parlament gestern zur Wahl des Premiers bestätigt allerdings Skeptiker: Die Grünen stimmten gegen McDonald [8]. Für Überlegungen einer Zusammenarbeit spricht aber, dass die Grüne Partei und Fianna Fáil schon einmal gemeinsam regiert haben.

Von 2007 bis 2011 bildeten sie eine Koalition. Eammon Ryan, damals Minister für Kommunikation, Energie und natürliche Ressourcen, ist inzwischen Vorsitzender der Grünen. Als er nun zu neuen Gesprächen einlud, stellte er voran, es gehe darum, gemeinsam Lösungen für die Wohnungsnot, die Gesundheitsversorgung und die Klimakrise zu suchen. Es gebe "breite Übereinstimmung zwischen einer Vielzahl von Parteien", dass diese Probleme angegangen werden.

Soziale Wende der irischen Politik

Tatsächlich erwiesen sich die sozialen Spannungen in der Republik Irland als das wahlentscheidende Thema, und nicht, wie Premier Leo Varadkar wohl angenommen hatte, der Brexit, die Beziehungen zur EU oder die Grenze mit Nordirland. Im Vordergrund standen, nicht zuletzt durch eine konsequente Kampagne von Mary Lou McDonald und Sinn Féin, die sozialen Probleme der Iren. Schon im Dezember drehte sich die öffentliche Debatte um teuren Wohnraum und Obdachlosigkeit. Im Januar erreichten das skandalös schlechte Gesundheitssystem und die prekären Renten die Titelseiten.

Die Fine Gael-Regierung hatte das zukünftige Renteneintrittsalter von 65 auf 68 Jahre angehoben. Sinn Féin forderte, das Rentenalter wieder auf 65 Jahre abzusenken und führte eine breite Kampagne für soziale Rechte. "Den Arbeitnehmern und Familien eine Pause gönnen", überschrieb die Partei ihr "Manifest für Veränderung", das einen detaillierten Plan mit Sofortmaßnahmen enthält [9].

Um den dringenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum zu decken, plant die Partei zusätzlich 6,5 Milliarden Euro bereitzustellen. Mit dieser Summe sollen 100.000 Wohnungen auf öffentlichem Grund und Boden gebaut werden. Die Mieten will Sinn Féin grundsätzlich senken und für drei Jahre einfrieren. Innerhalb der ersten Legislatur soll ein Referendum stattfinden, um ein "Recht auf Wohnung" in der Verfassung zu verankern.

Die Partei strebt eine Reihe von Maßnahmen an, um die Grundstücks- und Immobilienpreise zu drücken. So sollen "Landhortung" und Spekulation durch eine höhere Steuer auf freie Grundstücke eingeschränkt werden.

Der umfangreichste Teil des "Manifestes für Veränderung" beschäftigt sich mit der Gesundheitspolitik. Das öffentliche System, die "Health Service Executive" (HSE), ist eines der teuersten und schlechtesten Systeme weltweit, obwohl es erst im Jahr 2004 unter der Regierung von Fianna Fáil modernisiert worden war. Für Krankenhäuser und Kliniken gilt aktuell ein Verbot, neues Personal anzustellen. Im Dezember 2019 warteten 10.000 Patienten auf ein Krankenhausbett.

Mit ihrem Sofortprogramm will Sinn Féin die mysteriösen Kostenlöcher stopfen, die durch teures "Outsourcing" und Leihpersonal von privaten Dienstleistern entstehen. Zu den Sofortmaßnahmen gehört, den Einstellungsstopp aufzuheben und 2.500 Krankenschwestern und Hebammen sowie weitere 1.000 Ärzte anzustellen. Die Kapazitäten an Betten sollen massiv ausgebaut, und ein Programm zur häuslichen Versorgung älterer Menschen aufgestockt werden.

Mit solchen sehr konkreten Vorstellungen gelang es Mary Lou McDonald und Sinn Féin den Wahlkampf thematisch voll zu dominieren. "Es besteht kein Zweifel, dass das Sinn Féin-Manifest das meist diskutierte Dokument dieses Wahlkampfes war", bilanzierte [10] die Irish Times unmittelbar vor der Stimmabgabe. Dabei fehlte es natürlich nicht an den üblichen Hinweisen, dass solcherlei linke Träumereien gar nicht zu finanzieren seien.

Klassenkampf in der Steueroase

Die irische Wirtschaft konnte in den vergangenen Jahren erneut auf traumhafte Wachstumsraten verweisen. Sie erklären sich allerdings weniger aus autochthoner wirtschaftlicher Tätigkeit, als vielmehr daraus, dass etwa 500 multinationale Unternehmen in Dublin oder Cork ihre Europazentrale angemeldet haben. Dort können eine Handvoll Mitarbeiter milliardenschwere Gewinne versteuern.

Dass diese angeblichen Unternehmen kaum mehr als Briefkastenfirmen sind und die Gewinne überall in Europa erwirtschaftet wurden, taucht in den optimistischen Zahlen des Bruttoinlandsproduktes nicht auf.

Zahlten in Irland gemeldete Unternehmen noch 1995 etwa 40 Prozent ihrer Gewinne an Steuern, war es mit 12,5 Prozent im Jahr 2003 einer der niedrigsten Steuersätze in der EU. Um die Konkurrenz um die niedrigsten Steuern für Unternehmen noch weiter zu treiben, treffen die irischen Finanzämter geheime bilaterale Abmachungen mit Firmen wie Apple, Facebook und Google. Tatsächlich veranlagen beinahe sämtliche multinationalen Firmen, die in der EU aktiv sind, ihre Milliardengewinne in der Republik Irland, bisher allerdings zu den niedrigsten nur denkbaren Steuersätzen.

Dieses Geschäftsmodell neigt sich jedoch schon deshalb dem Ende entgegen, weil die EU-Kommission dabei ist, europaweite Mindestsätze für die Unternehmenssteuer durchzusetzen und die Steuerschlupflöcher der internationalen Konzerne zu schließen. Sinn Féin tritt in einem Moment an die Schwelle zur Regierung, an dem die linke Partei nicht einmal selbst eine Erhöhung der Steuern für Unternehmen verkünden muss.

Egal, wer Irland in Zukunft regiert: Setzt die EU-Kommission ihre Vorhaben um, werden im irischen Staatshaushalt ausreichend Mittel vorhanden sein, um die krassen sozialen Ungleichheiten zu beseitigen, mit denen die irische Gesellschaft bis heute lebt. Allerdings ist dies keinesfalls ein Selbstläufer.

Immerhin haben Fine Gael und Fianna Fáil in den vergangenen Jahrzehnten ausreichend bewiesen, wie Steuergelder auch ohne jeden gesellschaftlichen Nutzen einfach verschwinden können. Insofern haben die linken Republikaner tatsächlich ein "Momentum" auf ihrer Seite, wie es in Anlehnung an die Bewegung von Labour-Führer Jeremy Corbyn in Großbritannien heißt.

In ihrem Programm kündigt Sinn Féin bereits eine Steuerreform an, welche die Bürger deutlich entlastet, während das Steuerdumping für Unternehmen immerhin eingeschränkt wird. So will die Partei stärker mit der EU und der OECD-Initiative "Base Erosion Profit Shifting" zusammenarbeiten. Zunächst müsse größere Transparenz hergestellt werden, wo multinationale Unternehmen ihre Gewinne erzielen und ihre Steuern zahlen.

Als ein Pilotprojekt könnte sich der Einspruch der Fine Gael-Regierung im Konflikt zwischen EU-Kommission und Apple erweisen. Im Wahlkampf hatte Premierminister Leo Varadkar dem Apple-Chef Tim Cook eine Auszeichnung überreicht, welche die 40-jährige Partnerschaft zwischen Irland und dem populären Computerhersteller feiern sollte. Der Steuersatz, den der Konzern auf seine Gewinne zu zahlen hatte, betrug im Jahr 2003 lediglich 1 Prozent, bis 2014 sank diese Quote auf 0,005 Prozent, so eine Untersuchung der EU-Kommission.

EU-Kommissarin Magrethe Vestager verurteilte Apple schon vor drei Jahren zu einer Nachzahlung von 13 Milliarden Euro. Die Fine Gael-Regierung legte allerdings Einspruch ein und will die Zahlung bis heute nicht entgegennehmen. Das Geld befindet sich auf einem Treuhandkonto, bis der Rechtsstreit geklärt ist. "Wir werden diesen Einspruch beenden", kündigte Sinn Féin an, und will das Geld einsetzen, um öffentliche Dienstleistungen und Infrastrukturen zu verbessern.

Diese Summe gibt eine ungefähre Vorstellung, was vonseiten der etwa 500 dort gemeldeten multinationalen Konzerne auf den irischen Staatshaushalt zukommen könnte. Gleichzeitig herrscht in der angelsächsischen Wirtschaftspresse weitgehend Konsens [11], dass die Firmen nicht einfach die Insel verlassen können.

Die englische Sprache, die räumliche Nähe zu den USA und die geringe Zeitverschiebung sind nur einige Faktoren, welche die Konzerne auch in Zukunft in Dublin halten werden. Zumal Irland nach dem Austritt Großbritanniens eine noch stärkere Bedeutung als angelsächsischer Zugang zum EU-Markt bekommt.

Aktuell berichtet etwa die irische Presse, dass Apple seine Abrechnungen in Irland künftig transparenter gestalten wird. Der Konzern ändert die Rechtsform seiner irischen Töchter von "unlimited" in "limited" (Private Company Limited by Shares). Der vorherige Status ermöglichte es, die Geschäftszahlen geheim zu halten. Als nunmehrige "Aktiengesellschaften" müssen die Apple-Töchter zukünftig ihre Zahlen offenlegen, was Apples "irische Steuer-Gymnastik" vorläufig beendet [12].

Wiedervereinigung auf dem Programm

Auf dem Kontinent und in Großbritannien wird der überraschende Sieg von Sinn Féin bisher eher mit Blick auf eine mögliche irische Wiedervereinigung diskutiert. Wahlsiegerin Mary Lou McDonald erklärte direkt nach dem Wahlgang, ein Referendum über die Einheit Irlands sei in den nächsten drei Jahren realistisch. "Ich denke, wir müssen es vorbereiten und London muss es vorbereiten." Sie verwies auf den Brexit, der sich in dieser Frage als Game Changer erwiesen habe.

Tatsächlich hatte sich bei Umfragen um den Brexit in Nordirland erstmals eine Mehrheit dafür ausgesprochen, eine Volksabstimmung über die britische Grenze auf der Insel durchzuführen. Neben demographischen Gründen, dass also die irisch-katholische Bevölkerung nach wie vor schneller wächst als die unionistisch-protestantische, waren dafür auch die Vorteile ausschlaggebend, die viele Menschen in der EU-Mitgliedschaft sehen, obwohl sie traditionell eher aus dem unionistischen Milieu stammen.

"Ich behaupte, dass meinen Interessen am besten in einem vereinten Irland gedient ist, aber, kritisch betrachtet, in einem wohlhabenden vereinten Irland mit einem starken Fokus auf die europäische Dimension", beschrieb [13] etwa Johnny King aus Belfast seinen Seitenwechsel, stellvertretend für eine "wachsende Zahl von Menschen mit unionistischem Hintergrund, die in Bezug auf die nationale Frage eine erhebliche Verschiebung erfahren haben".

Laut Karfreitagsabkommen [14], mit dem die IRA im Jahr 1998 offiziell den bewaffneten Kampf einstellte, kann der Sonderbeauftragte für Nordirland im britischen Außenministerium ein Referendum über den Status Nordirlands einberufen, "wenn es ihm zu irgendeinem Zeitpunkt wahrscheinlich erscheint, dass eine Mehrheit der Abstimmenden den Wunsch äußern würde, dass Nordirland nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehört und Teil eines Vereinigten Irlands wird."

Dass inzwischen eine knappe Mehrheit in Nordirland sich dafür auszusprechen scheint, überhaupt eine Abstimmung zu diesem Thema durchzuführen, muss natürlich nicht bedeuten, dass diese Mehrheit auch für eine Wiedervereinigung stimmen würde. Laut einer aktuellen Umfrage will der Belfast Telegraph [15] herausgefunden haben, dass nur ein Drittel der Wählerinnen und Wähler in Nordirland eine Wiedervereinigung unterstützt.

Allerdings zeigten die Daten auch, dass die Zustimmung in den letzten Jahren stieg. Während die demographische Entwicklung den irischen Republikanern langsam aber sicher in die Hände spielt, ist der zukünftige wirtschaftliche Status von Nordirland weitgehend unklar. Die bisherige Rahmenvereinbarung zwischen EU und dem britischen Königreich sieht vor, dass zahlreiche Merkmale beider Wirtschaftsräume in Nordirland gleichzeitig gelten. So soll in Nordirland sowohl der britische Mehrwertsteuersatz von 20 Prozent als auch der irische von 23 Prozent gelten.

Die genaue Ausgestaltung hängt jedoch von den diesjährigen Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien ab. Auch wenn bei den Wahlen in der Republik sicher soziale Themen den Ausschlag gaben, dürfte es doch kaum einen irisch stämmigen Menschen geben, der sich nicht über die Vorstellung freut, dass Boris Johnson zukünftig mit einer Sinn Féin-Premierministerin über Nordirland verhandeln muss.

Sobald Sinn Féin auch in der Republik Irland an die Regierung kommt, können Mary Lou McDonald und Michelle O’Neill alle Mittel einsetzen, um auch Unentschiedene davon zu überzeugen, dass ein "wohlhabendes vereintes Irland mit einem starken Fokus auf die europäische Dimension" eine gute Wahl ist.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.thejournal.ie/fine-gael-fianna-fail-government-talks-5016123-Feb2020/
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/irland-ruecktritt-regierungschef-101.html
[3] https://www.irishtimes.com/news/politics/varadkar-remains-in-caretaker-capacity-after-d%C3%A1il-fails-to-elect-new-taoiseach-1.4179940
[4] https://www.thejournal.ie/mary-lou-mcdonald-taoiseach-most-votes-5015185-Feb2020/
[5] https://www.thejournal.ie/sinn-fein-left-surplus-5001343-Feb2020/
[6] https://jacobinmag.com/2020/02/sinn-feins-ireland-elections-mary-lou-mcdonald
[7] https://www.thejournal.ie/green-party-government-formation-talks-5009104-Feb2020/
[8] https://www.thejournal.ie/mary-lou-mcdonald-taoiseach-most-votes-5015185-Feb2020/
[9] https://www.sinnfein.ie/files/2020/SF_GE2020_Manifesto.pdf
[10] https://www.irishtimes.com/news/ireland/irish-news/election-2020-is-sinn-f%C3%A9in-s-housing-policy-credible-1.4163859
[11] https://www.irishtimes.com/business/economy/tax-shifts-won-t-drive-multinationals-out-of-ireland-moody-s-1.4175462
[12] https://www.irishtimes.com/business/technology/apple-ireland-s-move-to-limited-status-will-peel-the-covers-off-its-opaque-finances-1.4165677
[13] http://www.irishnews.com/news/northernirelandnews/2020/02/19/news/a-former-unionist-who-is-now-a-member-of-the-sdlp-tells-of-his-aspiration-for-a-united-ireland-1846000/
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/United_Ireland#Good_Friday_Agreement
[15] https://www.nytimes.com/reuters/2020/02/18/world/europe/18reuters-britain-nireland-poll.html