Sinn Fèin-Wahlsieg bringt die irische Politik in Bewegung
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Moderner, weiblicher, sozialer: Der Wahlsieg der linken Republikaner lässt nicht nur die Diskussion um eine irische Wiedervereinigung aufflammen. Er zeigt vor allem einen grundsätzlichen Wandel in der irischen Gesellschaft an
Bei den Wahlen gewann Sinn Fèin überraschend mit 24,5 Prozent bei den Erststimmen. Allerdings fiel der Vorsprung denkbar knapp aus. Von einer Mehrheit der Sitze sind alle Parteien weit entfernt, wie die gestrige Abstimmung zur Wahl des Premiers bestätigte, die keine Mehrheit erbrachte. Nun kommt es auf die Koalitionsverhandlungen an.
Der irische Premierminister Leo Varadkar, dessen Partei Fine Gael bei der Wahl eine schwere Niederlage einsteckte, hat ein Rücktrittsschreiben eingereicht, will aber zunächst als geschäftsführender Regierungschef weitermachen, bis ein Nachfolger gewählt wird.
Die Verhandlungen zur Regierungsbildung sind kompliziert, wie Mary Lou McDonald, Vorsitzende und Spitzenkandidatin der Sinn Fèin, gestern erfahren musste. Sie erhielt zwar die meisten Stimmen, aber zur nötigen Mehrheit von 80 Stimmen fehlte ihr mit erreichten 45 Stimmen doch einiges. Allerdings haben die linken Republikaner gute Chancen in die Regierung einzutreten. Ihr überraschender Wahlsieg wirbelt die angelsächsische Politik gehörig durcheinander.
Historische Dimension
Schon die historische Dimension ließ viele Beobachter von einem "Erdbeben" und einer "Revolution" sprechen. Genau 100 Jahre, nachdem die irische Insel im Jahr 1920 geteilt wurde, könnte nun die Partei an die Regierung kommen, die wie keine andere mit dem bewaffneten Konflikt mit Großbritannien identifiziert wird. Mit Sinn Fèin würde erstmals dieselbe Partei sowohl den Süden als auch den Norden regieren.
Ebenso bemerkenswert, wie der Wahlsieg der linken Republikaner überhaupt, ist die Tatsache, dass Sinn Fèin inzwischen in beiden Landesteilen von Frauen geführt wird, die zudem nicht aus der historischen Führung der republikanischen Bewegung stammen. In Nordirland übernahm Michelle O’Neill bereits 2017 die Führung der Fraktion vom Veteranen Martin McGuinness. Mary Lou McDonald, die nun quer durch internationale Medien gefeiert wird, löste den historischen Vorsitzenden der Partei, Gerry Adams, im Februar 2018 ab.
"Ich denke, es wird Zeit, dass Irland von einer Frau und von Sinn Fèin regiert wird", verkündete Mary Lou McDonald ihren Anspruch auf das Amt des Premierministers, als sich der knappe Wahlsieg bestätigte. Zu Beginn der Auszählung hatte sich ein erdrutschartiger Sieg für ihre Partei abgezeichnet. Von den erfolgreichsten 25 Mandaten konnten Sinn Fèin-Kandidaten immerhin 20 auf sich verbuchen.
Dass die Linkspartei nicht deutlich mehr Sitze errang, lag nur daran, dass sie nicht ausreichend Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt hatte. Das irische Wahlsystem, bei dem die Wähler zusätzlich zur Erststimme weitere Präferenzen angeben können, sorgte allerdings für einen heftigen Linksruck. Viele Wähler gaben kleineren linken Parteien eine Präferenz, da nicht ausreichend Sinn Fèin-Kandidaten zur Verfügung standen.
So profitierten etwa die Grüne Partei, die Sozialdemokraten und auch die sozialistische "Solidarity" massiv vom Sinn Fèin-Durchmarsch. Mit dieser Zweitstimmenpräferenz wollten Zehntausende Wählerinnen und Wähler offensichtlich sicherstellen, dass ihre Stimmen nicht den beiden ewigen Regierungsparteien Irlands zufallen, der wirtschaftsliberalen Fine Gael oder der konservativen Fianna Fáil.
Allerdings erreichten Sinn Fèin und die kleineren Linksparteien zusammen noch keine parlamentarische Mehrheit. Die politisch spektakulären 66 Sitze, welche die Linken gemeinsam stellen, liegen deutlich unter den notwendigen 81 Mandaten im 160-köpfigen Parlament. Trotzdem kündigte Mary Lou McDonald zunächst an, mit den kleinen Linksparteien über eine Koalition zu verhandeln. Sie wolle versuchen, eine Regierung ohne Fine Gael und Fianna Fáil zu bilden, welche den Süden des Landes abwechselnd seit 1926 regieren.
Mögliche Regierungskoalitionen
Bei diesen Sondierungen setzte die Wahlsiegerin zunächst auf eine Gruppe von 21 unabhängigen Abgeordneten. Am vergangenen Freitag musste Mary Lou McDonald jedoch einräumen, dass Sinn Fèin nicht in der Lage ist, mit den verschiedenen linken Parteien und Strömungen eine Regierung zu bilden. Dies liegt nicht ausschließlich an knappen Ergebnissen, wie Sinn Féin-Aktivist Ruairí Creaney berichtet, sondern auch daran, dass die verschiedenen linken Strömungen einander teilweise ein "rotes Tuch" sind.
Damit haben sich die Möglichkeiten, dass Sinn Féin an die Regierung kommt, jedoch keineswegs erschöpft. Am vergangenen Sonntag lud der Vorsitzende der Grünen Partei, Eammon Ryan, die linken Republikaner, Sozialdemokraten und die beiden ehemals größten Parteien zu Gesprächen ein. Dank des allgemeinen Linksrucks hat die Grüne Partei die Zahl ihrer Sitze von vorher 2 auf 12 vervielfacht.
Ausgerechnet der als konservativ geltenden Fianna Fáil, welche in den vergangenen Jahren die Minderheitsregierung von Fine Gael duldete, könnte nun entscheidende Bedeutung zukommen. Historisch besteht zwischen Sinn Féin und Fianna Fáil eine engere Beziehung. Bis in die 1970er Jahre wählten Republikaner im Süden Irlands vorwiegend Fianna Fáil, weil es die Partei war, die im Bürgerkrieg den Anglo-Irischen-Vertrag abgelehnt hatte, der 1921 die Teilung der Insel zementierte.
Damals hatten sich in Fianna Fáil um den späteren Dauerpremier Éamon de Valera die radikaleren Republikaner versammelt, bis heute ist die Basis der Partei nicht nur konservativ und ländlich, sondern vor allem auch republikanisch eingestellt.
Sofort, als sich am Sonntag nach den Wahlen deren deutlicher Sieg abzeichnete, ertönten aus der Parteiführung zahlreiche Stimmen, die forderten, eine Koalition mit Sinn Féin einzugehen. Parteichef Micheál Martin hat seine Meinung in den vergangenen zehn Tagen mindestens drei Mal geändert. Vor den Wahlen hatten sowohl Micheál Martin als auch Premier Leo Varadkar kategorisch jede Zusammenarbeit mit der "IRA-Partei" ausgeschlossen.
Am Sonntag nach der Wahl sagte er unter dem Druck seiner Basis, er sei Demokrat und werde mit allen demokratisch gewählten Parteien verhandeln, sprich: auch mit Sinn Féin. Kurz nachdem Mary Lou McDonald die Sondierungen mit den anderen linken Parteien für gescheitert erklärte, sprang er zurück auf seine ursprüngliche Position.
Es ist sicher keine haltlose Unterstellung, dieses Verhalten als Verhandlungstaktik zu interpretieren. Fianna Fáil will zurück an die Regierung, wobei alle Seiten eine "Große Koalition" mit dem historischen Konkurrenten Fine Gael ausschließen. Mit gemeinsam 87 Sitzen verfügen Sinn Féin, die Grüne Partei und Fianna Fáil nicht nur über eine bequeme Mehrheit im Parlament. Innerhalb einer solchen Koalition bestünde zudem eine dominante linke Mehrheit aus Sinn Féin und der Grünen Partei.
Das Abstimmungsverhalten der Grünen im Parlament gestern zur Wahl des Premiers bestätigt allerdings Skeptiker: Die Grünen stimmten gegen McDonald. Für Überlegungen einer Zusammenarbeit spricht aber, dass die Grüne Partei und Fianna Fáil schon einmal gemeinsam regiert haben.
Von 2007 bis 2011 bildeten sie eine Koalition. Eammon Ryan, damals Minister für Kommunikation, Energie und natürliche Ressourcen, ist inzwischen Vorsitzender der Grünen. Als er nun zu neuen Gesprächen einlud, stellte er voran, es gehe darum, gemeinsam Lösungen für die Wohnungsnot, die Gesundheitsversorgung und die Klimakrise zu suchen. Es gebe "breite Übereinstimmung zwischen einer Vielzahl von Parteien", dass diese Probleme angegangen werden.
Soziale Wende der irischen Politik
Tatsächlich erwiesen sich die sozialen Spannungen in der Republik Irland als das wahlentscheidende Thema, und nicht, wie Premier Leo Varadkar wohl angenommen hatte, der Brexit, die Beziehungen zur EU oder die Grenze mit Nordirland. Im Vordergrund standen, nicht zuletzt durch eine konsequente Kampagne von Mary Lou McDonald und Sinn Féin, die sozialen Probleme der Iren. Schon im Dezember drehte sich die öffentliche Debatte um teuren Wohnraum und Obdachlosigkeit. Im Januar erreichten das skandalös schlechte Gesundheitssystem und die prekären Renten die Titelseiten.
Die Fine Gael-Regierung hatte das zukünftige Renteneintrittsalter von 65 auf 68 Jahre angehoben. Sinn Féin forderte, das Rentenalter wieder auf 65 Jahre abzusenken und führte eine breite Kampagne für soziale Rechte. "Den Arbeitnehmern und Familien eine Pause gönnen", überschrieb die Partei ihr "Manifest für Veränderung", das einen detaillierten Plan mit Sofortmaßnahmen enthält.
Um den dringenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum zu decken, plant die Partei zusätzlich 6,5 Milliarden Euro bereitzustellen. Mit dieser Summe sollen 100.000 Wohnungen auf öffentlichem Grund und Boden gebaut werden. Die Mieten will Sinn Féin grundsätzlich senken und für drei Jahre einfrieren. Innerhalb der ersten Legislatur soll ein Referendum stattfinden, um ein "Recht auf Wohnung" in der Verfassung zu verankern.
Die Partei strebt eine Reihe von Maßnahmen an, um die Grundstücks- und Immobilienpreise zu drücken. So sollen "Landhortung" und Spekulation durch eine höhere Steuer auf freie Grundstücke eingeschränkt werden.
Der umfangreichste Teil des "Manifestes für Veränderung" beschäftigt sich mit der Gesundheitspolitik. Das öffentliche System, die "Health Service Executive" (HSE), ist eines der teuersten und schlechtesten Systeme weltweit, obwohl es erst im Jahr 2004 unter der Regierung von Fianna Fáil modernisiert worden war. Für Krankenhäuser und Kliniken gilt aktuell ein Verbot, neues Personal anzustellen. Im Dezember 2019 warteten 10.000 Patienten auf ein Krankenhausbett.
Mit ihrem Sofortprogramm will Sinn Féin die mysteriösen Kostenlöcher stopfen, die durch teures "Outsourcing" und Leihpersonal von privaten Dienstleistern entstehen. Zu den Sofortmaßnahmen gehört, den Einstellungsstopp aufzuheben und 2.500 Krankenschwestern und Hebammen sowie weitere 1.000 Ärzte anzustellen. Die Kapazitäten an Betten sollen massiv ausgebaut, und ein Programm zur häuslichen Versorgung älterer Menschen aufgestockt werden.
Mit solchen sehr konkreten Vorstellungen gelang es Mary Lou McDonald und Sinn Féin den Wahlkampf thematisch voll zu dominieren. "Es besteht kein Zweifel, dass das Sinn Féin-Manifest das meist diskutierte Dokument dieses Wahlkampfes war", bilanzierte die Irish Times unmittelbar vor der Stimmabgabe. Dabei fehlte es natürlich nicht an den üblichen Hinweisen, dass solcherlei linke Träumereien gar nicht zu finanzieren seien.