Sinn Fèin-Wahlsieg bringt die irische Politik in Bewegung

Seite 2: Klassenkampf in der Steueroase

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Die irische Wirtschaft konnte in den vergangenen Jahren erneut auf traumhafte Wachstumsraten verweisen. Sie erklären sich allerdings weniger aus autochthoner wirtschaftlicher Tätigkeit, als vielmehr daraus, dass etwa 500 multinationale Unternehmen in Dublin oder Cork ihre Europazentrale angemeldet haben. Dort können eine Handvoll Mitarbeiter milliardenschwere Gewinne versteuern.

Dass diese angeblichen Unternehmen kaum mehr als Briefkastenfirmen sind und die Gewinne überall in Europa erwirtschaftet wurden, taucht in den optimistischen Zahlen des Bruttoinlandsproduktes nicht auf.

Zahlten in Irland gemeldete Unternehmen noch 1995 etwa 40 Prozent ihrer Gewinne an Steuern, war es mit 12,5 Prozent im Jahr 2003 einer der niedrigsten Steuersätze in der EU. Um die Konkurrenz um die niedrigsten Steuern für Unternehmen noch weiter zu treiben, treffen die irischen Finanzämter geheime bilaterale Abmachungen mit Firmen wie Apple, Facebook und Google. Tatsächlich veranlagen beinahe sämtliche multinationalen Firmen, die in der EU aktiv sind, ihre Milliardengewinne in der Republik Irland, bisher allerdings zu den niedrigsten nur denkbaren Steuersätzen.

Dieses Geschäftsmodell neigt sich jedoch schon deshalb dem Ende entgegen, weil die EU-Kommission dabei ist, europaweite Mindestsätze für die Unternehmenssteuer durchzusetzen und die Steuerschlupflöcher der internationalen Konzerne zu schließen. Sinn Féin tritt in einem Moment an die Schwelle zur Regierung, an dem die linke Partei nicht einmal selbst eine Erhöhung der Steuern für Unternehmen verkünden muss.

Egal, wer Irland in Zukunft regiert: Setzt die EU-Kommission ihre Vorhaben um, werden im irischen Staatshaushalt ausreichend Mittel vorhanden sein, um die krassen sozialen Ungleichheiten zu beseitigen, mit denen die irische Gesellschaft bis heute lebt. Allerdings ist dies keinesfalls ein Selbstläufer.

Immerhin haben Fine Gael und Fianna Fáil in den vergangenen Jahrzehnten ausreichend bewiesen, wie Steuergelder auch ohne jeden gesellschaftlichen Nutzen einfach verschwinden können. Insofern haben die linken Republikaner tatsächlich ein "Momentum" auf ihrer Seite, wie es in Anlehnung an die Bewegung von Labour-Führer Jeremy Corbyn in Großbritannien heißt.

In ihrem Programm kündigt Sinn Féin bereits eine Steuerreform an, welche die Bürger deutlich entlastet, während das Steuerdumping für Unternehmen immerhin eingeschränkt wird. So will die Partei stärker mit der EU und der OECD-Initiative "Base Erosion Profit Shifting" zusammenarbeiten. Zunächst müsse größere Transparenz hergestellt werden, wo multinationale Unternehmen ihre Gewinne erzielen und ihre Steuern zahlen.

Als ein Pilotprojekt könnte sich der Einspruch der Fine Gael-Regierung im Konflikt zwischen EU-Kommission und Apple erweisen. Im Wahlkampf hatte Premierminister Leo Varadkar dem Apple-Chef Tim Cook eine Auszeichnung überreicht, welche die 40-jährige Partnerschaft zwischen Irland und dem populären Computerhersteller feiern sollte. Der Steuersatz, den der Konzern auf seine Gewinne zu zahlen hatte, betrug im Jahr 2003 lediglich 1 Prozent, bis 2014 sank diese Quote auf 0,005 Prozent, so eine Untersuchung der EU-Kommission.

EU-Kommissarin Magrethe Vestager verurteilte Apple schon vor drei Jahren zu einer Nachzahlung von 13 Milliarden Euro. Die Fine Gael-Regierung legte allerdings Einspruch ein und will die Zahlung bis heute nicht entgegennehmen. Das Geld befindet sich auf einem Treuhandkonto, bis der Rechtsstreit geklärt ist. "Wir werden diesen Einspruch beenden", kündigte Sinn Féin an, und will das Geld einsetzen, um öffentliche Dienstleistungen und Infrastrukturen zu verbessern.

Diese Summe gibt eine ungefähre Vorstellung, was vonseiten der etwa 500 dort gemeldeten multinationalen Konzerne auf den irischen Staatshaushalt zukommen könnte. Gleichzeitig herrscht in der angelsächsischen Wirtschaftspresse weitgehend Konsens, dass die Firmen nicht einfach die Insel verlassen können.

Die englische Sprache, die räumliche Nähe zu den USA und die geringe Zeitverschiebung sind nur einige Faktoren, welche die Konzerne auch in Zukunft in Dublin halten werden. Zumal Irland nach dem Austritt Großbritanniens eine noch stärkere Bedeutung als angelsächsischer Zugang zum EU-Markt bekommt.

Aktuell berichtet etwa die irische Presse, dass Apple seine Abrechnungen in Irland künftig transparenter gestalten wird. Der Konzern ändert die Rechtsform seiner irischen Töchter von "unlimited" in "limited" (Private Company Limited by Shares). Der vorherige Status ermöglichte es, die Geschäftszahlen geheim zu halten. Als nunmehrige "Aktiengesellschaften" müssen die Apple-Töchter zukünftig ihre Zahlen offenlegen, was Apples "irische Steuer-Gymnastik" vorläufig beendet.

Wiedervereinigung auf dem Programm

Auf dem Kontinent und in Großbritannien wird der überraschende Sieg von Sinn Féin bisher eher mit Blick auf eine mögliche irische Wiedervereinigung diskutiert. Wahlsiegerin Mary Lou McDonald erklärte direkt nach dem Wahlgang, ein Referendum über die Einheit Irlands sei in den nächsten drei Jahren realistisch. "Ich denke, wir müssen es vorbereiten und London muss es vorbereiten." Sie verwies auf den Brexit, der sich in dieser Frage als Game Changer erwiesen habe.

Tatsächlich hatte sich bei Umfragen um den Brexit in Nordirland erstmals eine Mehrheit dafür ausgesprochen, eine Volksabstimmung über die britische Grenze auf der Insel durchzuführen. Neben demographischen Gründen, dass also die irisch-katholische Bevölkerung nach wie vor schneller wächst als die unionistisch-protestantische, waren dafür auch die Vorteile ausschlaggebend, die viele Menschen in der EU-Mitgliedschaft sehen, obwohl sie traditionell eher aus dem unionistischen Milieu stammen.

"Ich behaupte, dass meinen Interessen am besten in einem vereinten Irland gedient ist, aber, kritisch betrachtet, in einem wohlhabenden vereinten Irland mit einem starken Fokus auf die europäische Dimension", beschrieb etwa Johnny King aus Belfast seinen Seitenwechsel, stellvertretend für eine "wachsende Zahl von Menschen mit unionistischem Hintergrund, die in Bezug auf die nationale Frage eine erhebliche Verschiebung erfahren haben".

Laut Karfreitagsabkommen, mit dem die IRA im Jahr 1998 offiziell den bewaffneten Kampf einstellte, kann der Sonderbeauftragte für Nordirland im britischen Außenministerium ein Referendum über den Status Nordirlands einberufen, "wenn es ihm zu irgendeinem Zeitpunkt wahrscheinlich erscheint, dass eine Mehrheit der Abstimmenden den Wunsch äußern würde, dass Nordirland nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehört und Teil eines Vereinigten Irlands wird."

Dass inzwischen eine knappe Mehrheit in Nordirland sich dafür auszusprechen scheint, überhaupt eine Abstimmung zu diesem Thema durchzuführen, muss natürlich nicht bedeuten, dass diese Mehrheit auch für eine Wiedervereinigung stimmen würde. Laut einer aktuellen Umfrage will der Belfast Telegraph herausgefunden haben, dass nur ein Drittel der Wählerinnen und Wähler in Nordirland eine Wiedervereinigung unterstützt.

Allerdings zeigten die Daten auch, dass die Zustimmung in den letzten Jahren stieg. Während die demographische Entwicklung den irischen Republikanern langsam aber sicher in die Hände spielt, ist der zukünftige wirtschaftliche Status von Nordirland weitgehend unklar. Die bisherige Rahmenvereinbarung zwischen EU und dem britischen Königreich sieht vor, dass zahlreiche Merkmale beider Wirtschaftsräume in Nordirland gleichzeitig gelten. So soll in Nordirland sowohl der britische Mehrwertsteuersatz von 20 Prozent als auch der irische von 23 Prozent gelten.

Die genaue Ausgestaltung hängt jedoch von den diesjährigen Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien ab. Auch wenn bei den Wahlen in der Republik sicher soziale Themen den Ausschlag gaben, dürfte es doch kaum einen irisch stämmigen Menschen geben, der sich nicht über die Vorstellung freut, dass Boris Johnson zukünftig mit einer Sinn Féin-Premierministerin über Nordirland verhandeln muss.

Sobald Sinn Féin auch in der Republik Irland an die Regierung kommt, können Mary Lou McDonald und Michelle O’Neill alle Mittel einsetzen, um auch Unentschiedene davon zu überzeugen, dass ein "wohlhabendes vereintes Irland mit einem starken Fokus auf die europäische Dimension" eine gute Wahl ist.