Volksabstimmung: Zürich stellt das Gendern auf den Prüfstand

Info-i mit Gendersternchen als i-Punkt und das Gendersternchen wegkickend

Zürich stimmt über das Gendern in Behördentexten ab. Die Fronten sind verhärtet, die Positionen klar. Doch ein soziologischer Blick zeigt: Das Problem liegt tiefer.

Am heutigen 24. November 2024 wird im Schweizer Kanton Zürich per Volksabstimmung entschieden, ob die im Juni 2022 für die Stadtverwaltung eingeführte "inklusive" Schreibweise mittels Genderstern beibehalten oder aus der behördlichen Kommunikation verbannt werden soll ("Tschüss Genderstern").

Dies bietet Grund genug, sich einmal mehr mit der gendergerechten Schreib- bzw. Sprechweise auseinanderzusetzen. Allerdings erscheint dieses Thema angesichts der in den vergangenen Jahren intensiv geführten Diskussionen bis zum Überdruss diskutiert. Die Positionen scheinen klar zu sein.

Befürworter argumentieren, dass Gendern einerseits die Inklusion und Sichtbarkeit aller Geschlechter in der Sprache fördert, indem es die Dominanz des generischen Maskulinums aufbricht. Es spiegelt den gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Gleichberechtigung und Diversität wider. Durch geschlechtergerechte Formulierungen soll das Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit geschärft und Stereotypen entgegengewirkt werden.

Kritiker hingegen bemängeln, dass gegenderte Texte oft schwerer zu lesen und zu verstehen sind, besonders bei Verwendung von Genderzeichen wie Sternchen oder Doppelpunkten. Dies kann den Lesefluss stören und die Kommunikation erschweren.

Einige sehen das Gendern als unnötigen Eingriff in die gewachsene Sprachstruktur und argumentieren, dass das generische Maskulinum bereits alle Geschlechter einschließt. Zudem wird die Künstlichkeit mancher gegenderter Formulierungen kritisiert.

Um einen neuen Aspekt in die Diskussionen einzubringen, betrachten wir das Phänomen aus einer soziologischen Perspektive. Wir analysieren mittels der Kommunikationstheorie des Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann1 die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen, die mit einer gendergerechten Kommunikation verbunden sind.

Aus systemtheoretischer Sicht wird jegliche Form von Kommunikation als Verkettung bzw. Synthese dreier Selektionen verstanden – nämlich Information, Mitteilung und Verstehen.

Kommunikation gilt als verstanden (was Missverstehen mit einschließt), wenn zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird, wodurch die Selektion weiterer Kommunikation, also Anschlusskommunikation, ermöglicht wird.

Eine Sprache nicht zu beherrschen (etwa das Chinesische) bedeutet, dass Mitteilungen nicht von Informationen unterschieden werden können, also unverständlich bleiben.

Dennoch kann eine fremde Sprache – bei allem Unverständnis – immer noch als Kommunikation verstanden werden, indem man sie von beherrschten Sprachen unterscheidet, in denen man eine Unterscheidung von Information und Mitteilung vornehmen kann.

Charakteristisch für jegliche Form von Kommunikation ist demnach, dass sie einerseits über die Komponente der "Mitteilung" einen selbstreferenziellen, auf die Personalität des Kommunizierenden bezogenen Anteil besitzt.

Andererseits umfasst Kommunikation mit "Information" eine fremdreferenzielle, auf Sachverhalte und Gegenständlichkeit abzielende Komponente. Ähnlich hat Ferdinand de Saussure in der Linguistik zwischen Signifikant (Bezeichnendes) und Signifikat (Bezeichnetem) unterschieden.

Es ist wichtig zu betonen, dass die kommunikativen Komponenten keinen (untereinander) determinierenden Charakter haben. Deswegen ist in diesem Zusammenhang von Selektionen auszugehen, was sich leicht an einem Beispiel veranschaulichen lässt.

In Paarbeziehungen könnte etwa folgender Dialog stattfinden: "Ich habe gestern Abend noch den Abwasch gemacht." – "Ok, sehr gut, das Geschirr hat sich schon gestapelt; das Fett von der Pfanne war wahrscheinlich schwer zu entfernen." In diesem Fall wird in der Anschlusskommunikation offenkundig an den fremdreferenziellen, informativen Aspekt angeschlossen.

Allerdings mag der Satz (in langjährigen ehelichen Beziehungen) auch auf ganz andere Weise verstanden werden und damit andere Anschlusskommunikation hervorrufen: "Na bravo, soll ich dir jetzt einen Orden verleihen?" – "Du weißt genau, dass ich immer den Abwasch mache, du beteiligst dich so gut wie nie am Haushalt."

Hier wird auf die Komponente der Mitteilung, den selbstreferenziellen, personellen Aspekt von Kommunikation angeschlossen. Im Verständnis ist hier von größerer Bedeutung nicht, was gesagt wird, sondern wer es sagt.

Die Möglichkeit der Kommunikation, einerseits den Fokus auf den personalen Aspekt zu legen ("Mitteilung"), andererseits auf den sachlichen ("Information"), ist keineswegs trivial. Mithin an dieser Option zur Akzentuierung haben sich in der modernen Gesellschaft funktional unterschiedliche kommunikative Sphären bzw. Funktionssysteme ausdifferenziert.

Dabei können moralische und wissenschaftliche Kommunikation als Antipoden verstanden werden. In der Wissenschaft geht es darum, den auf Personalität bezogenen Aspekt von Kommunikation, wenn nicht auszuschalten, so doch nach Möglichkeit in seinem Einfluss zu minimieren.

Funktional wird damit abgesichert, dass (wie immer: vorläufige) wissenschaftliche Wahrheiten sachlichen, überindividuellen Charakter haben und nicht individuellen Idiosynkrasien, und sei es Reputation, zuzuschreiben sind.

Entsprechend werden in der Wissenschaft Begutachtungsverfahren nach Möglichkeit anonym durchgeführt, bzw. wird individuelles Fehlverhalten, etwa eine Fälschung von Forschungsergebnissen um der Reputation willen, mit strenger moralischer Missachtung bestraft. Zudem wird mit Methoden gearbeitet, die den Einfluss von Forschern auf die (empirischen) Forschungsergebnisse möglichst gering halten und damit Objektivität absichern sollen.

Moralische, an gültigen gesellschaftlichen Werten orientierte Kommunikation ist, im Gegensatz zur Wissenschaft, stets auf individuelle Personalität bezogen, orientiert sich also am Aspekt der "Mitteilung" von Kommunikation.

Funktional geht es bei Moral darum, Achtung bzw. Missachtung individuell zuzuweisen. Die zweite Antwort auf den oben genannten Beispielsatz zum Geschirrspülen hat also moralischen Charakter. Moral muss, ganz im Sinne einer "Cancel Culture", sachlichen Einwände ("mildernde Umstände") ignorieren bzw. negieren, um an der Triftigkeit ihrer Urteile keine Zweifel aufkommen zu lassen.

Auch in anderen gesellschaftlichen Sphären, abseits der in diesem Sinne extremen Formen von Moral und Wissenschaft, lassen sich, orientiert an der Funktion dieser sozialen Systeme, unterschiedliche Schwerpunkte in der Orientierung an Personalität bzw. Sachlichkeit feststellen.

Gemäß ihrer Funktion der Bekanntgabe von neuen Informationen tendieren Massenmedien generell dazu, den informativen, fremdreferenziellen Aspekt von Kommunikation zu betonen.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass hier nicht auch der Aspekt der "Mitteilung" (Wer hat's gesagt?) eine zentrale Rolle spielt. So differenzieren sich etwa unterschiedliche Nachrichtenkanäle heraus (z. B. Zeitungen, Fernsehsender, Influencer), denen unterschiedliche Reputation zukommen, valide Informationen mitzuteilen.

In der Religion, oft orientiert am individuellen Seelenheil, herrscht eine persönliche, auf Individuen bezogene Sprache vor. Dies macht, wie nicht zuletzt die Geschichte des Christentums zeigt, diese Form der Kommunikation allerdings extrem anfällig für Moral; etwa indem mittels des Schemas gut/böse individuell Achtung bzw. Missachtung zugewiesen wird.

In der Kunst, so jedenfalls oft die Künstler selbst, sollten die Werke "für sich selbst sprechen", also eine Sachorientierung vorherrschend sein, bei der Künstler gewissermaßen vor ihren Werken zurücktreten.

Angesichts der schwierigen sachlichen Beurteilung moderner Kunstwerke ("Das hätte auch meine dreijährige Tochter malen können") hat sich zumindest in der wirtschaftlichen, am Profit orientierten Beobachtung der Kunst eine extrem auf Personalität ausgerichtete Form ausdifferenziert. Dabei spielt nicht nur die Reputation der Künstler selbst eine Rolle, sondern auch die Reputation der Institutionen, etwa Galerien und Kunstkritiker, die ihre Reputation konstruieren.

Diese Beispiele mögen genügen, um nun besser die Konsequenzen und Motivationen des Genderns beurteilen zu können.

Wenn angestrebt wird, Gendern in Wort und Schrift umfassend zu etablieren, muss von einer gesellschaftlichen Korrumpierung durch Moral mittels Moral ausgegangen werden.

Gendern in diesem Sinne betont systematisch, ohne die Funktionalität von unterschiedlichen Formen der Kommunikation in der Gesellschaft zu berücksichtigen, den Aspekt der "Mitteilung" von Kommunikation ("Wer hat’s gesagt?"). Dies geschieht allein aufgrund der Akzentuierung von Personalität auf Kosten des informativen Aspekts von Kommunikation.

Mit Blick auf die Funktionalität moralischer Kommunikation mag dies sinnvoll sein. Mit Blick etwa auf wissenschaftliche Kommunikation, in der der Einfluss von personellen, idiosynkratischen "Wahrheiten" möglichst ausgeschaltet werden soll, ist eine Akzentuierung von Personalität zumeist abzulehnen, obwohl auch hier etwa die Reputation von Wissenschaftlern eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Besonders problematisch ist das Gendern auch in der gesellschaftlichen Sphäre der Massenmedien angesichts ihrer Funktionalität – nämlich zu informieren. Dies schließt jedoch nicht aus, dass etwa in Meinungsartikeln oder Kolumnen stärker auf persönliche Ansichten abgehoben wird.

Auch in der Politik scheint ein ausgewogenes Verhältnis von "Information" und "Mitteilung" sinnvoll. Schließlich kommt es nicht nur darauf an, an wen allgemeinverbindliche Regelungen adressiert werden, sondern auch, was deren Sachverhalt ist.

Es sei aabschließenddie Frage gestellt: Wie hat sich die Gesellschaft verändert, dass für weite Kreise ein gewissermaßen entgrenzter, imperialer Charakter moralischer Kommunikation akzeptabel ist?

Markant zu sehen war dies etwa bei der Kontroverse um die Übersetzung eines Gedichts, das die schwarze Dichterin Amanda Gorman im Rahmen der Inauguration des US-Präsidenten Joe Biden vortrug. Im Fokus stand nicht die sachliche Frage nach der Kompetenz der Übersetzer, sondern deren moralisch aufgeladene persönliche Eignung im Sinne ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe.

Eine These ist, dass die mittlerweile gesellschaftlich dominante Form digitaler Kommunikation, die eine funktionale Sphären übergreifende Durchdringung der Gesellschaft durch stabile Nutzerprofile notwendig macht, zu einer Akzentuierung von Personalität bzw. des Aspekts der "Mitteilung" in der Kommunikation führt.2

Es wird angesichts der Stabilität der Nutzerprofile – im Vergleich zur Flüchtigkeit der Informationen, die darüber vermittelt werden –, und angesichts der Reputation, die an diesen Profilen über Jahre hinweg akkumuliert werden kann, immer wichtiger, wer etwas sagt, nicht, was gesagt wird.

Eindrücklich zu sehen ist diese gesellschaftliche Entwicklung zuletzt bei der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Offenkundig ist vollkommen beliebig, was Trump sachlich kommuniziert ("Grab ’em by the pussy"); entscheidend ist, wer kommuniziert: eine moralisch zutiefst abzulehnende Person für die Gegner, eine achtenswerte, gar zu glorifizierende Person für die Anhänger von Trump.

Die zunehmende Reproduktion der modernen Gesellschaft mittels digitaler Kommunikation hat zur Folge, dass personenorientierte, moralschwangere Kommunikation auf Kosten von Informativität und Sachlichkeit an Dominanz gewinnt.

Jörg Räwel ist Soziologe. Sein aktuelles Forschungsinteresse umfasst die Anwendung von Evolutionstheorien in den Sozialwissenschaften, die Entwicklung von Kommunikationstheorien der sozialen Medien und die Untersuchung des sozialen Wandels durch die "Digitalisierung" der Gesellschaft. Er ist Research Fellow am Next Society Institute an der Kazimieras-Simonavičius-Universität in Vilnius.

Aktuelle Publikation: Räwel, J. (2022), Die nächste Gesellschaft: Soziale Evolution durch Digitalisierung, Velbrück Wissenschaft.