Wie digitale Kommunikation unsere Gesellschaft moralisch korrumpiert

Hintergründe lassen sich kaum in einem Tweet vermitteln. Moral schon. Das geht zulasten der Debattenkultur. Ein Essay zur Verteidigung des "Aber". (Teil 2 und Schluss)

"Identitätspolitische" Bewegungen werden unter den Bedingungen moderner, stets persönlich zurechenbarer Kommunikation plausibel. Es erscheint in Abkehr vom Universalismus mehr und mehr einleuchtend, Bedürfnisse und Anerkennung von spezifischen Gruppen in den Mittelpunkt zu stellen; also wie in der Vormoderne von einem Primat des Persönlichen vor dem Sachlichen auszugehen. Unter der Disposition digitaler, stets persönlich zurechenbarer Kommunikation erscheint wichtiger, wer etwas sagt, als was gesagt wird.

Als deutlicher Ausdruck eines zunehmenden gesellschaftlichen Primats des Persönlichen vor dem Funktionalen kann so begreiflich werden, dass etwa die Auswahl der Übersetzer eines symbolträchtigen Gedicht, nämlich jenes, das Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden vortrug, vorrangig nach persönlichen und nicht sachlichen Kriterien erfolgt, etwa Alter, Geschlecht und Hautfarbe.

Auch steht etwa heute ein traditioneller Feminismus, der, bei vorausgesetzter Gleichheit der Geschlechter, auf Sachebene für Gerechtigkeit sorgen will (etwa "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit") einem identitären oder woken Feminismus entgegen.

Dieser zielt darauf ab, die gesellschaftliche Anerkennung einer Vielzahl von ausdifferenzierten Gruppenzugehörigkeiten – auch dies Ausdruck eines Primats des Persönlichen – zu fördern bzw. zu stärken; etwa gemäß Ethnizität, Hautfarbe oder geschlechtliche Identität.

Schließlich kann auch die Durchsetzung einer "gendersensiblen" Sprache als Ausdruck dafür verstanden werden, dass es unter der Bedingung digitaler, stets individuell zurechenbarer Kommunikation zu einem Primat der Berücksichtigung persönlicher Belange kommt.

Hier das Faktum der Geschlechtlichkeit in ihrer Diversität (LGBTIQ+) betreffend. Im Vordergrund steht auch hier, wie Personen kommunizieren, nicht, was sie - in sachlicher Hinsicht - mitteilen.

Digitale Kommunikation begünstigt moralische Kommunikation

Insgesamt führt die Allgegenwart digitaler, persönlich zurechenbarer Kommunikation dazu, dass moralische Kommunikation an gesellschaftlicher Dominanz gewinnt. Wenn angesichts von nutzerprofilbasierter Kommunikation offensichtlicher und relevanter wird, wer etwas sagt (auf Kosten dessen, was gesagt wird), dann liegt es stets nahe, Kommunikation moralisch zu bewerten, also Achtung bzw. Missachtung persönlich zuzuweisen.

Dies, zumal soziale Medien pauschalisierende Bewertungen (Emoticons, Likes) befördern und die Wertschätzung von Nutzerprofilen sich etwa in der Anzahl der Follower ablesen lässt.

Soziale Medien wie X (ehemals Twitter) fördern das Primat des Persönlichen vor dem Sachlichen sogar exzessiv. Ein möglicher sachlicher Fokus auf Argumentation, Erklärung, Erläuterung, Verdeutlichung von Kommunikation wird hier schlicht durch eine Beschränkung der Textlänge von Posts erschwert.

Jörg Räwel ist Soziologe.

Charakteristisch für moralische Kommunikation ist, dass die Zuweisung von Achtung bzw. Missachtung stets undifferenziert die ganze Person betrifft.1

Moral kennt kein "Aber", keine Relativierung oder Kontextualisierung. Ist etwa eine Person wie Wladimir Putin als Kriegstreiber der moralischen Ächtung ausgesetzt, sind Relativierungen ("Aber man muss doch mit ihm reden") irrelevant.

Wenn, natürlich rhetorisch überspitzt, im Titel dieses Artikels die Rede von einer Ächtung des "Abers" ist, wird auf diese gesellschaftliche Tendenz Bezug genommen. Nämlich, dass digitale, nutzerprofilbasierte Kommunikation Moral förderlich ist, weil sie den Fokus auf Persönlichkeit lenkt bzw. von Sachlichkeit ablenkt.

Unter der Ägide digitaler, stets persönlicher zurechenbarer Kommunikation wird plausibel, dass sich Phänomene wie eine "Cancel Culture" entwickeln können. Ist ein Thema oder eine Person erst in den Dunstkreis der Moral geraten - und die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht sich durch digitale Formen von Kommunikation -, erübrigt sich jegliche (sachliche) Auseinandersetzung. Moral funktioniert in Absolutheit, kennt kein "Aber". Insofern ist in diesem Zusammenhang nicht unplausibel, dass die "Lockdowns", die im Zuge der Corona-Pandemie durchgesetzt wurden, wesentlich einem moralischen Impetus, jedenfalls nicht ausschließlich medizinisch-wissenschaftlichem Sachverstand zuzuschreiben sind.2

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.