Wenn Widerspruch in Debatten gesellschaftlich geächtet wird

Demonstration zum Nahost-Konflikt, Washington, 2017. Bild: Ted Eytan, CC BY-SA 2.0

Der Drang zur Homogenisierung der Narrative ist unübersehbar. Er geht mit der Diffamierung anderer Meinungen einher. Ein Essay zur Verteidigung des "Aber". (Teil 1)

Positionierungen im Angesicht gesellschaftlicher Probleme werden in den letzten Jahren mit einer Rigidität vertreten, die ein "Aber", also Kontextualisierungen, Verständnis generierende Relativierungen, fast ausschließen.

Ja, Covid-19 ist eine schlimme Pandemie, sie ist mit allen Mitteln, die wir zur Verfügung haben, einzudämmen – aber sind nicht auch die psychischen Langzeitfolgen insbesondere bei Kindern, sind nicht z.B. auch wirtschaftliche Konsequenzen zu bedenken?

Ja, Putin ist ein skrupelloser Diktator, der einen nicht zu rechtfertigenden Krieg gegen die Ukraine begonnen hat – aber hat Realpolitik nicht schlicht aus strategischen Gründen zu berücksichtigen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht mit ungleich höheren Ressourcen kaum zu gewinnen ist?

Oder aktuell: Die Kämpfer bzw. Terroristen der Hamas – je nach Perspektive– haben ein Kriegsverbrechen, ein nicht zu rechtfertigendes Massaker an der Zivilbevölkerung in Israel begangen – aber besteht nicht die "Notwendigkeit", "den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren"? (So der Philosoph Slavoj Žižek in einer Rede an der Frankfurter Buchmesse)

Die Reaktionen auf Einwendungen und Bedenken gegenüber den genannten Positionen sind stereotyp. Stets wird vermieden, auf diese sachlich einzugehen, stattdessen werden Bedenkenträger auf persönlicher Ebene verächtlich gemacht und ihre Reputation angegriffen.

Infolgedessen findet gesellschaftlich vordergründig, also auch massenmedial, und kein nüchtern-kühler Diskurs statt, sondern Skeptiker werden als "Corona-Leugner", "Querdenker", "Verschwörungstheoretiker", "Aluhutträger", als "Putin-Versteher", als "Hamas-Terrorunterstützer", "Islamistenfreunde" oder "Antisemiten" abgekanzelt.

Warum ist das so? Warum wird heutzutage stärker als früher gesellschaftlichen Problemen weniger sachlich als vielmehr persönlich-moralisch entgegnet?

Wir möchten uns mit dieser Frage sachlich, konkret: soziologisch auseinandersetzen. Das heißt, wir vermeiden es, uns in die Untiefen einer moralischen Positionierung zu begeben und etwa Argumente für die Achtung oder Missachtung der Position eines Slavoj Žižek zu erläutern; oder Argumente, die etwa Sahra Wagenknechts vermeintlicher Position als "Putinversteherin" moralisch abträglich oder dienlich sind. Dies im Bewusstsein, dass auch dieser betont nüchterne Ansatz gleichwohl moralisch diskreditiert werden kann.

Der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann ging davon aus, dass wir es bei der Beobachtung sozialer Phänomene nicht mit Problemen, sondern stets mit gesellschaftlichen Lösungen zu tun haben.1

So mögen beispielsweise, zumal auf persönlicher Ebene, hohe Preise und Geldmangel ein Problem darstellen; auf gesellschaftlicher Ebene sind diese Phänomene jedoch als Lösung für die Generierung von Informationen über Knappheiten von Waren oder Dienstleistungen zu verstehen.

Aufgabe soziologischer Analyse ist daher, die – auch latenten – Probleme aufzudecken, die soziale Phänomene als Lösung dieser Probleme erscheinen lassen. Demnach wird es uns wie folgt darum gehen, gesellschaftliche Veränderungen oder Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu erörtern, aus deren Perspektive die Rigidität von gesellschaftlichen Positionen und ihre weniger sachliche als vielmehr persönlich-moralische Rechtfertigung plausibel erscheint.

Form der Kommunikation bestimmt Form der Gesellschaft

Grundsätzlich ist festzustellen, dass es zu maßgeblichen gesellschaftlichen Veränderungen stets dann kommt, wenn sich die Form der Kommunikation, mit der sich Gesellschaften reproduzieren, verändert.2

So ermöglichte die Form von ausschließlich mündlicher Kommunikation über viele Zehntausende Jahre hinweg lediglich (einfache) Formen von Gesellschaften, die sich heute als Clan- oder Stammesgesellschaften beschreiben lassen.

Erst Formen der schriftlichen Kommunikation ermöglichten es, dass sich Gesellschaften "stratifizieren" konnten. In Formen wie der Ständegesellschaft des Mittelalters waren Gesellschaftsschichten hierarchisch organisiert und an unterschiedliche, klar abgetrennte Aufgabenbereiche gebunden (etwa Bauern als "Nährstand", Adel als "Wehrstand").

Erst die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg und die sich entwickelnde Buchkultur ermöglichten die moderne Gesellschaft.

Die Buchkultur selbst symbolisiert wesentliche Merkmale der Moderne. Sachlichkeit und Informativität, Wissen, Argumente, Diskursivität, Erklärungen, Alternativvorschläge und Rechtfertigungen gewinnen hier eine gegenüber Personalität bzw. Autorschaft primäre Bedeutung.

Dies, zumal auch anonym verfasste Bücher von hoher Relevanz sein können und Bücher mit dem Tod des Autors keineswegs ihre Bedeutung verlieren müssen.

Die vormoderne Gesellschaft ging hingegen vom Primat des Persönlichen aus, Sachlichkeit, Leistungsrollen, Funktionsträgerschaft waren insofern von sekundärer Bedeutung, als sie aus dem Primat des Persönlichen abgeleitet wurden.

Entsprechend war eine Migration zwischen den hierarchisch organisierten Gesellschaftsschichten, etwa aufgrund hervorragender Leistungen von Personen, unmöglich.

Herrschaft war an Personalität im Sinne von Familienlinien gebunden. Dies machte eine Entthronung von Herrschaft von Personen selbst dann schwierig, wenn diese, etwa aufgrund von Geisteskrankheit von Nachkommen, kaum auszuüben war.

Die moderne funktional ausdifferenzierte Gesellschaft3 zeichnet sich hingegen durch den Primat des Sachlichen und Funktionellen, die Orientierung an gesellschaftlich zu erbringenden Leistungen aus.

Jörg Räwel ist Soziologe.

Die Funktionssysteme der Moderne, wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Erziehung, Religion sind nicht organisiert und damit an spezifische Personen gebunden.

Vielmehr garantiert ein Universalismus, also die menschenrechtlich verankerte grundsätzliche Gleichheit aller Menschen, dass prinzipiell jeder Person unabhängig etwa von Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung eine Zugänglichkeit zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen zusteht.

Dass Persönlichkeit in der Moderne hinter dem Primat von Funktionalität und Sachlichkeit zurücktritt, ergibt sich aus der universellen Gültigkeit der Menschenrechte. Anders als in der Vormoderne ist es nun - jedenfalls prinzipiell - nicht von spezifischer Personalität (etwa Geschlecht oder Familienstammbaum) abhängig, ob Personen Politiker, Pastoren, Wissenschaftler, Journalisten, Lehrer, Manager oder Künstler werden können.

Auch wird eine All-Zugänglichkeit zu den Funktionssystemen dadurch erleichtert, dass diese nicht in einem hierarchischen, sondern heterarchischen Verhältnis stehen. Politiker, Manager, Lehrer, Künstler oder Wissenschaftler stehen nicht in einem Verhältnis der Rangordnung.

Die Auswirkung von digitalen Formen von Kommunikation

Wir begreifen hier spezifisch den Übergang von hierarchisch differenzierten (Feudal-)Gesellschaften hin zur modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft als ein Phänomen, bei der sachlich-funktionale Belange eine Vorrangstellung vor persönlich-individuellen Maßstäben behaupten.

Persönlichkeit kommt in der Moderne insofern keine Bedeutung zu, als dass sie allen Menschen gleiche Bedeutung zukommt; nämlich, im Sinne ihrer menschenrechtlich verankerten Gleichheit.

Persönlichkeit ist selbstredend im Einzelfall, etwa bei beruflicher Rekrutierung, ein Auswahlkriterium, sollte dies jedoch nicht – etwa als bevorzugtes Geschlecht – im Allgemeinen sein, wie dies in der feudalen Vormoderne der Fall war.

Damit ist lediglich ein spezifischer, aber wesentlicher Aspekt genannt, wie sich Moderne und Vormoderne unterscheiden.4

Wir werden im Folgenden jedoch sehen, dass es genau dieser Faktor ist, der unter den Bedingungen heute dominanter, nämlich digitaler Kommunikation, unter Druck gerät.

Ein wesentliches Merkmal unter den Verhältnissen einer "digitalisierten" Gesellschaft ist, dass hier Kommunikation mittels Nutzerprofilen bzw. individuell zurechenbaren Smartphones umfassend persönlich adressierbar ist.5

Mit dieser mittlerweile gesellschaftlich vorherrschenden Disposition von Kommunikation gerät der Primat des Sachlichen bzw. Funktionalen, der bislang die moderne Gesellschaft kennzeichnete, unter Veränderungsdruck.

Jörg Räwel ist Soziologe. Sein aktuelles Forschungsinteresse umfasst die Anwendung von Evolutionstheorien in den Sozialwissenschaften, die Entwicklung von Kommunikationstheorien der sozialen Medien und die Untersuchung des sozialen Wandels durch die »Digitalisierung« der Gesellschaft. Er ist Research Fellow am Next Society Institute an der Kazimieras-Simonavičius-Universität in Vilnius. Aktuelle Publikation: Räwel, J. (2022), Die nächste Gesellschaft: Soziale Evolution durch Digitalisierung, Velbrück Wissenschaft.

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