Wettrüsten ohne Substanz: Moral ist eine Show – und zwar eine ziemlich schlechte!
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Moral als Statussymbol. Philosoph Philipp Hübl über gefühlte Wahrheiten, woke Selbstdarstellung und die Abkehr von der Einschüchterungskultur. (Teil 1)
Moral ist einfach die Haltung, die wir gegenüber Menschen einnehmen, die wir persönlich nicht mögen.
Oscar Wilde (1854 - 1900)
Guy Debords Gesellschaftsdiagnose, nach der wir in einer "Spektakelgesellschaft" leben, ist bald 60 Jahre alt. Dabei meinte der französische Künstlerphilosoph mit seiner spektakulären These vor allem die Medien und den Kapitalismus. Ein drittes Element spielte bei ihm keine Rolle: die Moral.
Diese rückt der Berliner Philosoph Philipp Hübl jetzt in seinem neuen Buch "Moralspektakel" ins Zentrum. Dort legt er auf knapp 300 Seiten dar, wie die richtige moralische Haltung gegenwärtig zu einem Statussymbol verkommen ist.
Die Mitte der Gesellschaft interessiert sich nicht für diese Themen
Gefühlte Wahrheiten sind nicht immer wahr. Manchmal aber eben doch. So verhält es sich zum Beispiel mit der "cancel culture", die es, glaubt man manchen woken Linken, ja überhaupt nicht gibt, außer in den kleinen Hirnen irgendwelcher dumpfer Rechter.
Das Problem für diese woken Linken ist, dass seit einigen Jahren die cancel culture zurückgespiegelt wird, und man ihnen selbst nicht mehr alles durchgehen lässt. Die Debatte über canceln, über das, was man sagen darf und das Sagbare, über Diversität, über Gender-Sprache, über Rassismus sogenannte Queerfeindlichkeit, sogenannte Mikroaggressionen und Ähnliches, sind keine Debatte zwischen links und rechts und nicht mal eine Debatte zwischen der Linken und der sogenannten "Mitte der Gesellschaft".
Tatsächlich handelt es sich um eine Debatte, die allein innerhalb linker und linksliberaler Kreise geführt wird. Die Mitte der Gesellschaft, vulgo: normale Menschen, interessiert sich nämlich überhaupt nicht für diese Themen. Und die Rechten, vulgo: Rechtsextremisten sind noch nicht mal für Konservative satisfaktionsfähig.
Die Welt ist sensibler, "empathischer", "hysterischer" geworden
Im Gegensatz zu derartigen Nischenthemen ist ein anderer Umgang mit Themen, die vermeintlich Moral, Ethik und Werte betreffen und die Moralisierung aller anderen Themen aber in den Wohlstandsgesellschaften des Westens zu einem Breitenphänomen geworden.
Die Welt ist sensibler, und je nach eigener Position "empathischer" oder "hysterischer" geworden. Werte dienen in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr dazu, Entscheidungen abzuwägen, sondern sind zum Medium der Selbstdarstellung und zum Exzellenzmerkmal geworden.
Dies ist es, das Hübl das "Moralspektakel" nennt. Ein solches "Moralspektakel" liegt nach Hübl immer dann vor, "wenn es in der moralischen Auseinandersetzung nicht um die Sache, sondern vorrangig um Selbstdarstellung geht".
Hübl weiß übrigens selbst genau, wovon er redet: Der Philosoph hat bis zum letzten Jahr eine Weile an der UdK in Berlin gelehrt. In der deutschen Hauptstadt mit ihrem – vorsichtig gesagt – sehr speziellen Kulturmilieu und einer sehr speziellen Studentenschaft war es allerdings für ihn nicht möglich, dass er dauerhaft seine Thesen weiter lehren konnte.
Im Interview mit dem SZ-Magazin berichtete er von der – "Shitstorm wäre übertrieben" – fäkale Brise nach einer Kolumne im Deutschlandradio zu Rassismus.
Die Sache drang bis zur Universität der Künste in Berlin vor, an der ich damals unterrichtete. Zwei Kolleginnen schrieben einen offenen Brief auf der Webseite der Uni, statt persönlich mit mir zu sprechen. Und wollten zunächst verhindern, dass ich dort darauf antworte. Eine skurrile Erfahrung.
Philipp Hübl
Wie zu hören ist, fühlte sich manche Studis auch in seinen Lehrveranstaltungen unbehaglich oder zumindest in ihren vorhandenen Ansichten und (Vor-)Urteilen nicht bestätigt – was neuerdings gern zur Aufgabe von Lehrveranstaltungen gerechnet wird.
Hübls Professur wurde zur Überraschung vieler, aber nicht zur Überraschung mancher Eingeweihter nicht verlängert. Ein Eigentor der UdK, eines von vielen in letzter Zeit. Zugleich ein Symptom für die hier an diesem Ort schon öfter bemerkte Tatsache, dass die deutsche Kultur ein Berlin-Problem hat.
Symbole statt Substanz: Probleme sind durch moralische Sensibilitäten abgelöst worden
In der "schönen neuen Welt" unserer Gegenwart, haben sich die Themen vom Öffentlichen, Politischen ins Private, Gefühlige und vom Substantiellen ins Symbolische verschoben – so das Fazit von Hübls Einleitung.
Die Debatten über die großen Probleme seien durch moralische Sensibilitäten abgelöst worden: Gesundheit, Einkommen, Familienplanung, Gesundheit und Ernährung der einzelnen Bürger, erst recht sogenannter "prominenter Vorbilder" und "Influencer" spielen in den öffentlichen Debatten oft eine wichtigere Rolle als Fragen von Krieg und Frieden, oder Menschenrechten in der Welt.
Plötzlich ist es wichtig, ob eine Autorin mit weißer Hautfarbe den Text einer Autorin mit schwarzer Hautfarbe übersetzen darf, oder ob eine deutsche Politikerin als Kind gerne Indianerhäuptling gespielt hat.
Hübl spricht auch über jene "Einschüchterungskultur, die manchmal missverständlich cancel culture genannt wird", wenn man "Leute deren Wertvorstellungen einem missfallen, nicht einfach ignoriert oder mit Argumenten widerlegt, sondern sie stattdessen öffentlich oder privat unter Druck setzt oder sogar versucht, ihre berufliche Lebensgrundlage zu zerstören".
Die wohlfeile Gegenrede, nach der es Cancel Culture "eigentlich" gar nicht gebe, widerlegt Hübl dabei konsequent mit Belegen und Verweisen auf wissenschaftliche Studien, die sich in seinem Buch in Hülle und Fülle finden.
Gefangen in der Moralillusion
Im Folgenden mischt Hübl in zwei Teilen die Beobachtung der Gesellschaft mit einer Analyse und Bewertung ihrer Diskurse.
Der erste Teil des Buches heißt "Das Statusspiel" und schließt unmittelbar an Gedanken in Hübls vorherigem Werk über "Die aufgeregte Gesellschaft" und an seine parallel zum Schreiben des neuen Buches entstandene UdK-Vorlesung "Bullshit Resistenz" an, die jetzt auch in zweiter veränderter Auflage nochmals in Buchform erschienen ist.
Hübl beschreibt hierin, dass viele Menschen überhaupt nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie von "Moral" reden. "Wir überschätzen unser Wissen über Moral, indem wir uns einbilden, wir hätten gute Gründe für unsere Werturteile", meint Hübl.
Im Alltag in Talkshows und Diskussionsrunden geben Menschen für ihre Meinung selten Gründe an, sondern sagen meist nur, ob sie etwas gut oder schlecht finden.
Philipp Hübl
Sie lassen sich von ihrem Bauchgefühl leiten, so der Philosoph. Aber unser Bauchgefühl irre in der Regel, wir seien in einer Moralillusion gefangen. Allzu oft herrscht, so Hübl, der Instinkt über die Vernunft.
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