Medien: Wer bestimmt, was falsche Ausgewogenheit ist?
Journalismus: Alle Seiten einer Diskussion zu zeigen, führt zu Desorientierung? Natürlich liegt die Wahrheit nicht in der Mitte. Relevant ist die Meinungsbildung.
Dem Wunsch nach Meinungspluralismus in den Medien wird immer wieder entgegengehalten, nicht in jedem Fall sei das ganze Spektrum an Auffassungen und Ansichten abzubilden. Denn dies könne gerade nicht der Orientierung dienen, sondern zu Desorientierung führen.
So sagte kürzlich Jakob-Moritz Eberl, Kommunikationsforscher an der Uni Wien, in einem Interview zu seiner Forschung u.a. über das Informationsangebot des Senders Servus-TV während der Pandemie:
ServusTV hat sich aber zum Ziel gemacht, immer alle Seiten einer Diskussion zu zeigen. (...) Sie haben dadurch False Balancing betrieben. Das hat sich bei den Diskussionssendungen gezeigt, etwa dem "Corona-Quartett".
Dort wurden "Expert:innen" wie Sucharit Bhakdi eingeladen. Menschen, die vielleicht einen wissenschaftlichen Hintergrund haben, am aktuellen wissenschaftlichen Diskurs aber nicht mehr teilgenommen hatten. (...)
Aus Studien wissen wir ganz klar, was das für Auswirkungen hat. Es vermittelt einen wissenschaftlichen Dissens, obwohl es den als solchen nicht gibt. Gerade in Krisenzeiten riskiert man dabei unter Umständen Menschenleben. Das war man anscheinend gewillt, bis zu einem gewissen Punkt zu akzeptieren.
Jakob-Moritz Eberl im Gespräch mit Sebastian Panny, Momentum Institut Wien
Die faktische Basis der Positionen
Auf die Frage, ab wann etwas "False Balancing" sei und wer das zu entscheiden habe, antwortete Eberl:
Man muss sich ansehen, welche faktische Basis die Position der vermeintlichen Expert:innen hat, die man einlädt. Wenn die in einer völlig anderen Realität existiert, sollte man dem keine Öffentlichkeit geben.
Sie kommen in Talkshows häufig auch gut rüber. Es ist nämlich extrem leicht, Bullshit einfach mal in die Welt hinauszutragen. Vor allem, wenn ich keine faktische Basis für meine Aussagen habe, sondern über Emotionen arbeite. Meistens wird dann den tatsächlichen Expert:innen die Aufgabe überlassen, diese Aussagen dann wieder einzufangen. Das ist aber extrem schwierig.
Jakob-Moritz Eberl
Eberl bringt dabei, wie so viele in der Diskussion um angebliche False Balance (Deutsch: falsche Ausgewogenheit), Tatsachen und Meinungen durcheinander.
Zu ersterem gehört die Realitätsbeschreibung, die "faktische Basis". Über sie kann nur solange gestritten werden, wie sie noch unklar ist, also gerade noch nicht als Tatsache bewiesen, sondern nur vermutet werden kann.
Hypothesen und Tatsachenvermutungen
Das ist der normale Vorgang in der Wissenschaft: Hypothesen und damit Tatsachenvermutungen aufzustellen und diese dann zu prüfen. Dabei können solche Vermutungen besser oder schlechter begründet sein, näher oder ferner liegen, plausibel oder abwegig erscheinen – und ab irgendeinem Punkt darf sie jeder auch als "Geschwurbel" werten. Aber sie sind (noch) keine Tatsachen, solange sie nicht bewiesen sind, entsprechend werden sie zu Falschbehauptungen, wenn sie widerlegt wurden.
Tatsachenvermutungen sind natürlich auch alle Arten von Vorhersagen. Sie werden sich in den meisten Fällen zwar irgendwann als richtig oder falsch erwiesen haben, derzeit jedoch sind sie in der Kommunikation eben noch keine Tatsachen (anders wäre es nur für den allwissenden Außenbeobachter).
Entsprechend können alle Modellierungen von Zukunftsszenarien kein "Wissen" sein, sondern nur Prognosen.
Über Tatsachenvermutungen kann und muss gestritten werden – andernfalls müsste es sich um Banalitäten handeln, deren Zutreffen oder Nicht-Zutreffen so unwahrscheinlich ist, dass sich jede Rede darüber erübrigt. Mit Banalitäten aber sollte sich weder die Wissenschaft noch der öffentliche Diskurs befassen.
Tatsachen und Beweise: Natürlich liegt die Wahrheit nicht in der Mitte
Über Tatsachen hingegen lässt sich nicht streiten. Dirk Steffens, u.a- Terra-X-Moderator im ZDF, brachte in einem Interview ein oft angeführtes Beispiel, das aber leider am Problem vorbeigeht:
Angenommen, eine Astrophysikerin sagt in einer Talkshow, die Erde sei eine Kugel. Dann sitzt da noch einer, der behauptet, die Erde sei eine Scheibe. Die Wahrheit liegt verdammt noch mal nicht in der Mitte.
Dirk Steffens, Teleschau
Natürlich liegt die Wahrheit nicht in der Mitte. Wer behaupten will, die bisherige Annahme über die Form der Erde sei falsch, muss dafür den Beweis erbringen, er muss die bisherige Weltbeschreibung falsifizieren. Wer da nichts vorzulegen hat, gehört natürlich in keine Talkshow.
Auch Steffens verwechselt Tatsachen und Meinungen (ausführlich hier). Denn er behauptet:
Wendet man das Prinzip des politischen Journalismus – mit allen Seiten zu sprechen – auf den Wissenschaftsjournalismus an, wird es katastrophal falsch.
Worin soll der Unterschied zwischen politischen und wissenschaftlichen Debatten liegen? In beiden Feldern muss man sich anhand von Tatsachen und ggf. Tatsachenvermutungen (naturgemäß vor allem Prognosen) über seine Interpretationen (= weitere Tatsachenvermutungen) und Meinungen (= Bewertungen) austauschen. Andernfalls bräuchte es weder Wissenschaft noch Politik – es wäre ja alles klar. Kein wissenschaftlicher Aufsatz bräuchte einen Diskussionsteil, in den Parlamenten gäbe es nichts zu streiten.
Meinungen sind, anders als Tatsachen, nie richtig
Meinungen sind, anders als Tatsachen, nie richtig. Sie können von einer Mehrheit oder Minderheit geteilt werden, sie können sich zu einer "öffentlichen Meinung" herausbilden.
Und jeder kann seine Meinung jederzeit ändern – was nur selten so eindrücklich gezeigt wurde wie der Positionswechsel der Grünen zu Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete vor und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Für oder gegen irgendetwas zu sein, ist immer eine reine Meinung. Anders sieht es aus, werden Wenn-Dann-Beziehungen behauptet: Wenn wir dies tun (= Meinung, wir sollten das tun), dann wird Folgendes passieren. Ob Klima-, Corona- oder Sanktionspolitik, in dieser Konstellation werden künftige Tatsachen behauptet.
Erweisen sich solche Behauptungen später als unzutreffend, war keine Meinung falsch, man hat Tatsachen nicht korrekt erkannt oder prognostiziert.
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Um sich der (zukünftigen) Realität anzunähern, ist der Austausch über Tatsachenvermutungen notwendig – bis zur Klärung. Bei Meinungen ist ein Endpunkt nie zu erreichen, oft sind allerdings alsbald alle Argumente ausgetauscht.
"Es darf nicht zu allem ein Pro oder Contra geben"
Man kann eben für eine Beibehaltung des Renteneintrittsalters sein, für eine Verlegung nach vorne oder nach hinten. Da kann auch die Wissenschaft keine Wahrheit schaffen. Sie kann nur versuchen, die heutigen Tatsachen zu erkennen und künftige, soweit sie nicht vom Zufall abhängen, vorherzusagen.
Journalistin Carolin Emcke vertrat auf der diesjährigen Konferenz re:publica die Position, es dürfe im öffentlichen Raum nicht zu allem ein Pro oder Contra geben.
Ich würde wirklich dazu aufrufen, dass niemand, der eingeladen wird in einer Rahmung, die "Pro und Contra" heißt, teilzunehmen. Ich würde wirklich inständig darum bitten. Es muss aufhören. (...) Es wird uns beständig vorgemacht, es gäbe zu allen Fragen gleichermaßen wertige, gleichermaßen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist, mit Verlaub, einfach Bullshit.
Carolin Emcke, Videoaufzeichnung, ab Minute 33
Pro und Contra kann sich nur auf Meinungen beziehen, weil man nicht für oder gegen eine Tatsache sein kann. Und bei Meinungen braucht es immer ein Pro und Contra, ja noch mehr, denn in den meisten Fällen wird es noch viele Positionen dazwischen geben.
Man kann pro oder contra Klimaschutz sein. Nicht, weil die eine Seite behauptet, er verändere die Welt und die andere, er habe keinerlei Einfluss. Sondern weil der einen Meinung die Wertung zugrunde liegt, man müsse oder solle wenigstens die Klimaentwicklung vor menschlichen Einflüssen schützen, der anderen, dies sei nicht notwendig oder schlicht egal (Stichwort: "nach uns die Sintflut").
Ein Meinungsstreit, der im Übrigen nicht neu ist. Schon in sehr alten Schriften finden wir Gedanken des Naturschutzes, der "Schöpfungsbewahrung", während der Mensch tatsächlich allüberall Raubbau getrieben und sich wenig darum geschert hat, wie die Welt aufgrund dessen dann später einmal aussehen wird.
Zur Kritik journalistischer "False Balance"
Die Kritik journalistischer "False Balance" meint, korrekt betrachtet, auch überhaupt nicht, dass bestimmte Meinungen nicht vorkommen dürften. Sie geht viel mehr davon aus, dass durch eine nicht maßstabsgerechte Darstellung von Positionen beim Publikum der Eindruck entstehe, Meinungen seien in der Bevölkerung oder in bestimmten Kreisen wie der Wissenschaft anders verteilt, als sie es tatsächlich sind.
Das ist in der Tat ein Problem, jedoch so allgegenwärtig, dass es meist gar nicht zur Kenntnis genommen wird. So fokussiert Politikberichterstattung in den Medien durchgängig auf die in den jeweils zuständigen Parlamenten vertretenen Parteien, hinzukommen ein paar wenige externe Lobbyisten wie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände.
Kleinparteien kommen so wenig zu Wort wie kleine Vereine und Initiativen oder gar kreative Einzelmeinungen – solange sie nicht Social Media sichtbar und zustimmungsfähig machen.
Relevant für die Meinungsbildung
Für den Meinungsbildungsprozess ist es nun aber nicht hilfreich, redundant immer wieder dieselbe Mehrheitsmeinung zu rapportieren, bis irgendwann mal in der 'richtigen Balance' auch andere Stimmen zu Wort kommen. Sondern es braucht von Anfang an die ganze Breite an Meinungen, ungeachtet ihrer realen Quote.
Diese gehört als notwendige Information noch hinzu. Außenseiter- bzw. Randmeinungen können nicht nur, sie müssen als solche benannt werden. Aber ohne sie ist eine sinnvolle eigene Meinungsbildung des Publikums gar nicht möglich. Denn käme dieses ohnehin auf jede Idee selbst, bräuchte es gar keine Berichterstattung zu Meinungsstreitigkeiten.
Der Vorwurf falscher Ausgewogenheit dürfte in den meisten Fällen ohnehin moralgetrieben sein: Man beschwert sich darüber, dass Medien Meinungen Raum geben, die man selbst ablehnt, mit denen man sich gar nicht weiter beschäftigen möchte.
Wer jedoch mit Erkenntnisinteresse auf die Welt schaut, muss gerade an den Meinungen interessiert sein, die man selbst nicht hat. Und ebenso an Tatsachenvermutungen, die außerhalb des Mainstreams liegen.
Journalismus als Orientierungsanbieter muss daher immer Pro und Contra und vieles dazwischen zu Wort kommen lassen, es wenigstens selbst erstmal vollständig zur Kenntnis nehmen.
Denn Widerspruch zu herrschenden Meinungen auszublenden, führt tatsächlich zu "False Balance".