Tod der SPD: Warum die Sozialdemokraten ihre letzte Chance verspielen

Die SPD steckt in ihrer tiefsten Krise seit Gründung. Umfragewerte sinken, Mitglieder fliehen, Parteiführung ist ratlos. Dabei läge die Rettung direkt vor ihren Füßen.
Auf der Inaugurationsfeier von Donald Trump erreichte Elon Musk mit seinem mutmaßlichen Hitlergruß die gewünschte Aufmerksamkeit, unter der dann aber die zentrale Aussage seines sehr kurzen Auftritts verloren ging. Der Unternehmer hatte nämlich mit jugendlichem Furor die Zukunft für sich und die seinen reklamiert.
Das ist bemerkenswert, weil in nur drei Legislaturperioden jenes Momentum, das Barack Obama noch mit den Schlachtrufen "Yes, we can!" und "Change!" verkörperte, wie kaum jemand zuvor, auf die ganz gegenüberliegende politische Seite übergegangen ist: die Konservativen.
Klingt widersinnig, ist es auch. Leider ist es aber auch symptomatisch für eine Zeit der irrwitzigen Umkehrungen, in der sich hierzulande etwa der neoliberale Ulf Poschardt, Herausgeber von WeltN24 und Autor im Selbstverlag, erfolgreich als Rebell inszenieren kann.
In Deutschland verbindet im Moment wohl auch kaum jemand eine rosige, dynamische Zukunft mit der SPD, obwohl Veränderung und Verbesserung die Grundkoordinaten der linken, progressiven und, ja, liberalen Parteien sein müssten.
Grüne treten Erbe an
Da haben die Grünen ihre sozialdemokratischen Eltern längst abgehängt und beerbt, allerdings mit dem Manko eines beinahe katholischen und tief konservativen Naturbegriffes, der vom Wunsch der Bewahrung der Schöpfung getragen ist.
Jahrzehntelang standen die skeptische bis ablehnende Haltung zu moderner Technik einem Auftreten als echte Partei der Moderne und der Zukunft entgegen.
Der Spagat ging nie auf, denn die stets aggressiv kritisierte religiöse Idee von Verzicht und Einfachheit des grünen Milieus hat hier ihre Wurzel. Heute wird fahrlässig wenig über die Zukunft gesprochen, darüber, wie sie genau aussehen kann. Und das, obwohl das Tempo, mit dem sich Veränderungen und Verbesserungen ankündigen, extrem hoch ist.
Lust an der Prokrastination
Aber vielleicht ist das hohe Tempo ja der Grund für all den düsteren Pessimismus, der wie eine endemische schwarze Prokrastinationslust daher kommt.
Kaum nachzuvollziehen ist etwa, dass die im historischen Vergleich erfolgreich bewältigte Pandemie offenbar kein Thema ist, mit dem man punkten kann. Hier waren es Datenerhebung, Informationsfluss und Modellierung, dann Gentechnik, die Schlimmeres verhinderten und eine Seuche so schnell beendeten wie nie zuvor.
Die Cholera zum Beispiel wütete Jahrzehnte, bis man die Erreger unter den damals neu erfundenen Mikroskopen immer dann im Brunnenwasser entdeckte, wenn eine Abwassergrube in der Nähe war. Diese waren auch neu und – da lag der Fehler – bis dahin unten offen. Nach der Behebung des Fehlers stieg die Lebenserwartung drastisch.
Suche nach positiven Meldungen
Es sei deshalb einmal darauf hingewiesen, dass derzeit eine Suche nach positiven Meldungen in den vielen verfügbaren Medien geradezu wie ein Antidepressivum wirkt.
In der Batterietechnik zum Beispiel werden Fortschritte so häufig angekündigt, dass man schon eine genetische Disposition zum Misstrauen benötigt, um nicht an eine erheblichen Verbesserung der ökologischen Energiewirtschaft im nächsten oder übernächsten Jahrzehnt zu glauben.
Sind Speicher erst leicht, weniger giftig, preiswert und schnell zu laden, werden sich sehr viele Probleme und Debatten von heute erledigt haben. Sonne und Wind laden diese Speicher dann auf.
Fortschritt in der Onkologie
Noch viel bedeutsamer ist der medizinisch-technische Fortschritt etwa bei Krebstherapien, aktuell in der Diversifizierung der Chemotherapien und zeitnah durch individualisierte Impfungen.
Die Liste ist aber ohnehin endlos: Impfung gegen Malaria, Fahrräder mit kaum sechs Kilogramm Eigengewicht, sodass sie wirklich keinen Motor benötigen, oder zehn Kilo mit Motor und Batterie, sodass man auch lässig nach Hause kommt, wenn sie mal leer ist.
Auch für Autos werden Motoren immer leichter, sodass einmal das Fahrzeug, das nicht vor allem sich selbst, sondern tatsächlich Menschen und Last transportiert, denkbar wird.
Denkbarer Fortschritt
Es gibt stromerzeugendes Fensterglas, lokale Anästhesie fast ohne Nebenwirkungen und minimalinvasive Operationen, Transplantationen, Neurochirurgie mit elektronischen Bauteilen, Unterstützung von Bademeistern und schlechten Autofahrern durch künstliche Intelligenz, Fleisch aus dem Labor.
Extrem spannend sind Überlegungen, große Mengen CO2 ausgerechnet in Zement und kalkgebundenen Baustoffen zu speichern, die im Moment noch als klimaschädlich gelten.
Spektakulär klingt eine Meldung aus Berkeley, wo der Professor für Chemie Omar Yaghi ein Material entdeckt hat, das eine neue Größenordnung im Kampf gegen den Klimawandel eröffnen kann.
Nur 200 Gramm dieses praktischen Pulvers können laut dem partizipierenden Studenten Zihui Zhou in einem Jahr so viel CO2 aus der Luft fangen, wie ein mancher Baum, nämlich 20 Kilogramm.
Aber auch der Alltag wird besser: Kleine Ersatzteile für Waschmaschinen und Rasierapparate kann man sich heute oft binnen 24 Stunden in den Briefkasten werfen lassen. Noch vor Kurzem verbrachte man damit halbe oder ganze Tage.
Erinnerungen an Mühen der Vergangenheit
Und globale Flohmärkte im Netz erlauben es auch weniger Wohlhabenden Hightech, teure Klamotten und Bücher zu kaufen. Aber die Mühen von gestern vergisst man eben schnell: Wer erinnert sich noch daran, als Kind Stunden in der Telefonzelle des Nachbardorfes gestanden zu haben, weil man dort zum Ortstarif in der Stadt anrufen konnte?
Ich fantasierte damals auf einem Rückweg von dem Tag, an dem es ein Bildtelefon gäbe, ohne so recht daran zu glauben oder auch nur die Idee zu haben, dass es mobil wäre und wir auf einer Zugfahrt am anderen Ende der Welt die kranke Oma und das Neugeborene des Bruders sehen würden.
Natürlich gibt es noch nichts gegen Viren, das so schnell wie Antibiotika gegen Bakterien wirkt, aber Penicillin wurde auch erst 1928 entdeckt. Dafür können soziale Netze große politische Konflikte früh sichtbar machen oder gar selbst moderieren.
Entsteht eine neue Mitte?
Möglicherweise erleben wir momentan die Aushandlung einer neuen Mitte zwischen dem woken, antipatriarchalen Lager, das Geschlechter leugnet, und ihren Gegnern, die darin nur Hass auf den weißen, alten Mann und seine historischen Erfolge lesen können.
Wer weiß, wie sich der Konflikt zuspitzen würde, wenn sich die Kontrahenten nicht jahrelang auf X mit Beleidigungen bombardieren könnten, sondern eines Tages in zwei Demonstrationszügen vor dem Kanzleramt träfen und gegenseitig ansehen wie Außerirdische.
Olaf Scholz, der Kanzler aus Versehen, spricht in seinen Wahlkampfreden zwar schon mal von kommenden Techniken. Aber er tut das beinahe verschämt. Das ist eine Herablassung, er möchte seiner Klientel die Veränderungen nicht zumuten.
Eine denkbare Haltung der Sozialdemokratie
Dabei müsste genau das die selbstverständlichste Haltung einer Sozialdemokratie. Es ist sogar die einzige wirklich genetische, wie ein Blick in die wichtigste Rede aus der Gründungszeit der Partei zeigt. Als Wilhelm Liebknecht 1872 in Dresden und Leipzig davon sprach, dass Wissen Macht sei und Macht Wissen, sagte er, die Sozialdemokratie sei im eminentesten Sinne des Worts die Partei der Bildung.
Und was könnte Bildung heute anderes sein, als den Stand der Technik zu kennen und sich auf sie vorzubereiten? Das berühmte Zitat stammt übrigens von einem großen Vordenker der Moderne, dem Empiriker Francis Bacon, der gesagt hatte, dass man die Natur besiege, indem man ihren Gesetzen gehorcht: Wissen ist Macht.
Das sollten auch Grüne mal genau nachlesen. Denn jetzt stellt sich Elon Musk ganz vorn hin, streckt den rechten Arm halbsteil nach vorn durch und brüllt, die Zukunft sei rosig, wenn Amerikaner ihre Flaggen in den Sand des Mars rammten. Früher nannte man so etwas toxische Männlichkeit.
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Wenn sich die SPD nicht auf ein besseres Wissen und Wollen besinnt, dann wird sie untergehen. Dann wird sie weiter keine Haltung zu Putin und seinem Krieg gegen die Zukunft finden, wie Wladimir Sorokin den Überfall auf die Ukraine ganz richtig nannte.
Dann wird sie weiter orientierungslos wirken wie Frank-Walter Steinmeier bei der Frage nach der Beschneidung von Jungen oder wie Heiko Maas bei der gescheiterten Neufassung des Scheinvaterschaftsgesetzes als zentraler Frage in der Organisation einer modernen Familie.
Sie wird untergehen, nicht weil es ihr an der Klientel fehlte, die längst größtenteils AfD wählt, sondern weil es ihr an der Weltanschauung mangelt, wie sie Wilhelm Liebknecht noch hatte. Speckiger Paternalismus und zentristische Ideen waren da höchstens als kurzfristige Mittel zum Zweck akzeptiert, wenn überhaupt. Das wird also echt schmerzhaft.