Wettrüsten ohne Substanz: Moral ist eine Show – und zwar eine ziemlich schlechte!
Seite 2: Wettrüsten im Moraltheater
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"Alle spielen Moraltheater", schreibt Hübl: Weil der Moralinstinkt sich entwickelt habe, um Anerkennung zu erreichen, es gehe bei Moralfragen nicht zuerst darum, das Richtige oder Gute zu tun, sondern darum, moralisch zu erscheinen. So weit, so normal - das sei die Natur des Menschen, gewissermaßen ein evolutionärer Zwang.
Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Kampf um moralische Anerkennung deutlich zugespitzt. Die Ursache sind einmal mehr Digitalisierung und soziale Medien. Aber nicht nur die Form, auch die Kategorien und Werte des Moraldiskurses selbst haben sich deutlich verschärft.
Ein Problem liegt vor, wenn die moralische Selbstdarstellung wichtiger als das eigentliche Anliegen wird. Wenn "Moral" draufsteht, aber keine Moral drin ist. Wenn sich Hashtag-Aktivisten über Sätze aufregen, die Promis vor zehn Jahren im Suff getwittert haben.
Dann geht es nur darum, Signale an die eigene Gruppe zu senden, oder darum, Moral als Waffe gegen Konkurrenten einzusetzen, aber nicht darum, die Welt besser zu machen. So entwickeln wir uns als Gesellschaft nicht weiter, sondern fördern überflüssige Symbolpolitik, und sogar verzerrte Forschung und wirkungslose Maßnahmen gegen Diskriminierung.
Philipp Hübl, Interview, SZ-Maagzin
Diese Art der öffentlichen Diskussion verleitet die Menschen dazu, sich besonders moralisch korrekt darzustellen. Entweder, weil man nicht missinterpretiert werden will und es in Kontexten der schnellen, teilweise rasanten Kommunikation sehr leicht zu Missverständnissen kommt oder in denen man auch absichtlich falsch verstanden wird.
Man muss sich gegen etwaige moralische Angriffe vorab schützen. Denn auch bewusste Missverständnisse und das bewusste Ignorieren von Kontexten werden von den moralischen Selbstdarstellern gern eingesetzt.
Eine Art "Wettrüsten" in moralischer Reinheit sei entstanden: wenn man einmal damit anfängt, das bestimmte moralische Signale für eine Gruppe wichtig sind – zur Selbststabilisierung der Gruppe – dann beginnt ein gegenseitiger Überbietungswettbewerb.
Man kennt das Phänomen von den Religionen: Die Lehre wird immer reiner und besser. Noch reiner, noch sensibler, noch religiöser, noch tapferer, noch mehr auf der richtigen Seite. Solche sozialen und kulturellen Dynamiken haben sehr viel mit den sozialen Medien zu tun.
Die "sogenannte kreative Klasse"
Philipp Hübl macht vor allem akademische Kreise, Künstlermilieus und Medienmenschen dafür verantwortlich, dass diese Diskurse aus den Nischen der Fachliteratur in die breite Öffentlichkeit geschwappt sind.
In diesen Kreisen befindet sich der alltägliche Schau- und Kampfplatz des Moralspektakels. Hübl spricht von "der sogenannten kreativen Klasse, die in den Universitäten, im Kulturbereich, in den Medien und in der Technologiebranche arbeiten", vor allem aus den "reichen demokratischen Industrieländern, ... in denen die Menschen die geringsten materiellen Sorgen haben und vor allem nach Selbstverwirklichung streben".
Dies sind fast alles Akademiker. "Je besser ist einem materiell geht, desto eher ist man sensibilisiert für soziale Anliegen, desto weniger hat man einen Überlebensinstinkt." "Survival values" verändern sich hin zu "expression values".
Hübls Ansicht nach haben vor allem Akademiker die Begriffe aus dem engen und sehr genau situierten wissenschaftlichen Kontext in die Breite getragen und damit auch oft ins Diffuse verallgemeinert. Große Folgen hat das nicht, außer für die Beteiligten selbst:
In der kreativen Klasse spricht man die Sprache der neuen Moral. Doch das macht die Welt nicht gerechter – solche Sprachspiele sind entweder billige Signale, mit denen man vor allem seine Gruppenzugehörigkeit belegt, oder kostspielige Signale, die man sendet, um Status zu erlangen.
Philipp Hübl
So setzt ein Überbietungskampf ein, ein Konformitätsprozess, den man auch evolutionsbiologisch beschreiben kann.
Von der Blacklist zur Blocklist
In der kreativen Klasse ist man ebenfalls für Schaden sensibilisiert, doch hier ordnen sich viele der progressiven Fürsorgekultur zu, zeigen ihre Zugehörigkeit also, indem sie sich demonstrativ bemühen, vermeintliche Opfergruppen zu schützen.
Doch sobald Sensibilisierung zur Effekthascherei verwendet wird, entsteht auch hier ein Wettrüsten. Denn wenn alle mit der Lupe nach Diskriminierung suchen und ein falsches Wort dazu führen kann, dass andere einen angreifen oder kritisieren, muss man selbst noch genauer hinschauen.
Das mag erklären, warum das Berliner Staatsballett im Jahr 2021 Tschaikowskys Nussknacker vom Spielplan strich, weil die Intendantin den Chinesischen Tanz in diesem Ballett für rassistisch hielt, ohne Belege oder Umfragen vorzulegen, dass Chinesen das auch so empfinden.
Es könnte erklären, warum einige Aktivisten ein Wort wie 'Schwarzfahren' zu einem rassistischen Ausdruck erklären, obwohl es sprachhistorisch nichts mit der Hautfarbe von Menschen zu tun hat, sondern auf die Dunkelheit der Nacht anspielt, die man mit Kriminalität verbindet; und warum der Konzern Google seine "Blacklist" für schadhafte Websites zur "Blocklist" umbenannt hat, obwohl sich der Ausdruck ebenfalls nicht von der Farbe der Haut, sondern von der Farbe der schwarzen Tinte ableitet, die man schon im 17. Jahrhundert für Listen von unerwünschten Personen verwendet hat.
Philipp Hübl
In Teil 2 geht es um die zunehmende Normierung unserer Sprache und die daraus resultierende "Empörungserschöpfung".
Philipp Hübl: "Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht"; Siedler Verlag, München 2024.
Philipp Hübl: "Bullshit-Resistenz. Wie wir uns vor Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien schützen können", (ursprünglich Berlin 2018, jetzt in zweiter veränderter Auflage) München 2024.
Philipp Hübl: "Die aufgeregte Gesellschaft: Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken, C. Bertelsmann Verlag, München 2019
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