Bevormundung und pauschales Misstrauen: Wie wir uns den Fortschritt verbauen

Erhobener Zeigefinger

Niemand darf die Bevölkerung bevormunden? Über lähmende Blockaden und ihre Folgen für die Gesellschaft. Ein Essay.

Vielen Bürgern der USA gilt schon jeder Versuch, das Schusswaffenrecht zu verschärfen, als nicht hinnehmbare Einschränkung der Freiheit.

Bei dortigen mass shootings (mindestens 4 Verletzte und/oder Tote) starben 2019 417, 2020 610, 2021 690 und 2022 647 Menschen. Hierzulande sehen die meisten Bürger das strengere Waffenrecht nicht als Bevormundung an.

Wer nun meint, die US-amerikanischen "Freiheitsflegel" (Heinrich Heine) ließen keinerlei Bevormundung zu, dürfte sich über ein prominentes Gegenbeispiel wundern: Selbst auf schnurgraden Highways wird in den USA das allgemeine Tempolimit leidlich akzeptiert.

Wie wird Bevormundung in anderen Ländern wahrgenommen?

"Freie Fahrt für freie Bürger" heißt es im Unterschied dazu aber in Deutschland. Fast alle anderen Länder haben ein Tempolimit. In Deutschland bekundet eine Mehrheit der Bevölkerung Zustimmung. Vor allem der FDP gilt das Tempolimit aber als unantastbares Symbol der "Freiheit".

Ein drittes Beispiel für Maßnahmen zur Veränderung von Verhaltensweisen betrifft das Rauchen. In Großbritannien werden in weit höherem Maße Rauchstoppkurse angeboten und intensiver in Arztpraxen beworben.

Die Packung Zigaretten kostet dort doppelt so viel wie in Deutschland. "In Deutschland ist die Tabaksteuer in den letzten Jahren immer nur in homöopathischen Dosen erhöht worden", sagt Ute Mons (2024, siehe Literaturverzeichnis am Ende des Artikels). Sie ist Professorin für Kardiovaskuläre Epidemiologie des Alterns an der Uniklinik Köln.

Im Vereinigten Königreich wird der Preis regelmäßig erhöht. Die Regierungen in Großbritannien legen Wert auf die Umgewöhnung weg vom Rauchen. Das erscheint vom Standpunkt entfesselter Freiheit als Bevormundung.

In den 1990er Jahren war der Anteil der Raucher in Großbritannien ähnlich hoch wie in Deutschland. Nachdem ein ganzes Paket von Maßnahmen durchgesetzt wurde, rauchen im Vereinigten Königreich noch 14 Prozent der Bevölkerung, in Deutschland sind es fast 32 Prozent.

Die Briten haben in den letzten Jahrzehnten viel mehr getan, um den Zigarettenkonsum zu begrenzen: Großbritannien liegt auf der Europäischen Tabakkontrollskala auf Platz eins, Deutschland auf dem viertletzten Platz von insgesamt 37 Ländern

Ute Mons

In Deutschland werde im Unterschied zu Großbritannien "immer nur über kleine Maßnahmen diskutiert. Und selbst die haben es schwer. Die letzte Initiative von Gesundheitsminister Lauterbach, ein Rauchverbot in Autos einzuführen, ist auch in der Versenkung verschwunden" (Ebd.).

Auf die Frage "Ist es allein Aufgabe des Staates, das zu ändern? Was ist mit der Eigenverantwortung des Rauchers?" antwortet die Epidemiologin:

Natürlich hat jeder eine Verantwortung für sich selbst. Aber wie gut kann man die wahrnehmen, wenn man stark abhängig ist von Nikotin?

Ute Mons

Neben der direkten Einwirkung existieren auch viele Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines Verhalten auf indirektem Wege beeinflussen. Die Stilllegung von Eisenbahnlinien (15.000 km seit 1945 in Deutschland) sowie der z.T. schlechte Zustand des öffentlichen Personenverkehrs begünstig(t)en den motorisierten Individualverkehr. Hinzu kommen Subventionen durch das Dienstwagenprivileg und die Pendlerpauschale.

In all dem sehen die meisten Autofahrer keine Bevormundung der Nicht-Autofahrer. 22 Prozent der Haushalte in Deutschland haben 2022 kein Auto. In Berlin sind auf 1.000 Einwohner 338 Autos zugelassen – das ist die geringste Pkw-Dichte unter allen Bundesländern (info-Radio RBB, 5.9.2023).

Politische Führung

Einerseits klagen politische Parteien die Bevormundung an, wenn es sich um von ihnen abgelehnte Veränderungen der Lebensweise handelt. Andererseits sind es dieselben Parteien, die in zentralen Fragen für unpopuläre Entscheidungen eintreten.

Politische Führung bestehe darin, bestimmte für gut befundene Entscheidungen durchzusetzen. Die so geschaffenen Tatsachen würden erst durch ihr Wirklich- und Unumstößlich-Werden im Nachhinein Akzeptanz finden. Die Bevölkerung könne erst später (ein-)sehen, dass die von ihr zunächst misstrauisch beäugte Veränderung der Nation letztlich nutze.

Die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren, die Nachrüstung 1979 und der Euro trafen auf massive Widerstände. Aber gerade diese Entscheidungen waren es, die den sie tragenden Politikern das Prädikat der Führungsstärke einbrachten.

Führungsstarke Politiker achten auf die Meinungen der Bevölkerung, machen sich aber von diesen Meinungen nicht abhängig.

Politiker sind Pfadfinder und Wegweiser geworden. Viele vertraute Pfade führen nicht mehr zum Ziel. Doch Bürgerinnen und Bürger möchten sie weitergehen, eben weil sie so vertraut sind. Der Politiker aber muss den richtigen Weg weisen.

Gerhard Schröder 2004, 54

Die repräsentative Demokratie unterscheidet sich ums Ganze von der Vorstellung, die Repräsentanten seien Ausführungsorgane ihres Wählerkollektivs.

Eine Wahl ist vielmehr eine Vertrauenserklärung der Wähler an die Gewählten und deren Fähigkeit, die "wahren" Interessen des Volkes richtig zu erkennen. Repräsentation ist also die Folge einer Aufgabenteilung.

Besson, Jasper 1990, 34

Das Gefälle an Kompetenzen und Vertrautheit mit der politischen Materie ist zentral für den Unterschied zwischen Wählern und Gewählten. Die Wähler sind meistens nicht vertraut mit der politischen Materie, aber entscheiden unter just dieser Voraussetzung darüber, wem sie Kompetenzen in Sachen Politik zutrauen.

"Führungs- und Orientierungselite"

Für die mit der repräsentativen Demokratie einverstandenen Bürger ist die Zustimmung zur jeweils von ihnen bevorzugten Partei zu einem großen Anteil eine Sache des Vertrauens. Ein prominenter deutscher Politiker spricht von der "Führungs- und Orientierungselite, die sich der Wahl stellen muss" (Schäuble 1994, 172).

Dass Bürger einer Partei vertrauen und sich von ihr regieren lassen, wird erst dann zur Bevormundung erklärt, wenn es sich um eine abgelehnte und nicht die eigene politische Richtung handelt.

Als "Führungs- und Orientierungselite" hat sich auch die SED verstanden. Im Ostblock war diese Elite nur im Singular und deshalb ohne Wahl vorgesehen. In der repräsentativen Demokratie hingegen gibt es Parlamentswahlen und mehrere als "regierungsfähig" eingestufte Parteien.

Bei allen Unterschieden zwischen ihnen handelt es sich aber in einer entscheidenden Hinsicht um Varianten desselben. Denn zum Kreis der legitimen Konkurrenten gehören nur diejenigen Parteien, die fest auf dem Boden der kapitalistischen Marktwirtschaft stehen.

Parteien, die das nicht tun und das Format der Kleinpartei überschreiten, werden entweder verboten (KPD 1956). Oder ihnen wird – wie der Kommunistischen Partei Italiens (34,37 Prozent bei den Parlamentswahlen 1976) – klargemacht, sie sollten eine radikale Gesellschaftstransformation unterlassen.

Die KPI wusste spätestens ab 1973 (Putsch in Chile): Nicht nur ihre innenpolitischen Gegner, sondern auch die USA würden einen "italienischen Sozialismus" nicht tolerieren. Eine "Bevormundung" sehen Anhänger der repräsentativen Demokratie in der Drohung mit dem "nationalen Notstand" nicht.

Kritik des pauschalen Misstrauens

Gewiss kann das Vertrauen in Parteien oder Regierende ideologisch und insofern kritikwürdig sein. Es gibt gute Vorbehalte gegen blindes oder auf unzutreffende Annahmen gründendes Vertrauen, aber auch eine falsche Wertschätzung für das pauschale Misstrauen.

Ihm zufolge muss ein "Zutrauen zu einem Menschen, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, behandeln wird" (Hegel 7, 478), als prinzipiell unrealistisch gelten.

Eine Skepsis gegenüber unbegründeter Vertrauensseligkeit ist legitim. Bei den Querdenkern wurde jedoch eine Mentalität deutlich, die keinerlei positive Gesellschaftlichkeit kennt. Damit bezeichnet der Autor dieses Beitrags Verhältnisse, in denen im Rahmen der Arbeitsteilung andere in meinem wohlverstandenen Interesse für mich arbeiten.

Der Handwerker, der Lehrer oder der Arzt sind, wenn sie gute Arbeit leisten, meine Repräsentanten. Sie sind dann meine Treuhänder in Feldern, in denen ich mich nicht auskenne. Als endliches Individuum kann und will ich kein Alleskenner und Alleskönner sein.

Ich weiß um die Gefahr der Ausnutzung von Kompetenzen bzw. Expertise und ebenso um soziale Mechanismen, die das verhindern. Ich bin weder leichtgläubig noch pauschal misstrauisch.

Eine gute Arbeit hat "einen intersubjektiv teilbaren Sinn" und ist nicht "einzig ein Mittel zur Einkommenserzielung" (Thielemann 2010, 347). Sie orientiert sich nicht allein an einem strategischen Handeln oder einer reinen Erfolgsorientierung.

"Für die Konsumenten eine 'gute' Leistung zu erbringen heißt, sich nicht opportunistisch an manifeste Kundenwünsche anzupassen und noch weniger, im Kunden bloß die Kaufkraft zu erblicken" (Ebd., 348).

Das gehört zum Anforderungsprofil von Professionen: "Leiste Deinen Zeitgenossen, aber nicht was sie loben, sondern was sie bedürfen", heißt es bei Schiller.

Professionell Tätige können und sollen ihren Kunden in Bezug auf ihre Produkte oder ihre Dienstleistungen erklären, warum deren spontanen Vorstellungen von dem, was zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse angemessen sei, oft daneben liegen. Um eine Bevormundung oder Entmündigung handelt es sich dabei nicht.

Vielmehr kann keine Person in einer arbeitsteiligen Gesellschaft das Wissen und die Erfahrung von denjenigen entbehren, die sich mit einer schwierigen Angelegenheit professionell befassen.

Das pseudokritische Misstrauen verkennt den Doppelcharakter der Marktwirtschaft

Leute mit einem generalisierten bzw. pauschalen Misstrauen müssen annehmen, dass alle einander betrügen. Wer so denkt, kann sich nur vorstellen, durch direkte Präsenz in jedem arbeitsteiligen Feld und durch eigene Kontrolle dem "Betrug" Herr zu werden. Das ist praktisch unmöglich.

Je mehr sich das misstrauische Bewusstsein auf diese Perspektive versteift, "desto geringer mein Vertrauen, dass ein selbstständig handelnder anderer auch Sachen richtig macht, die mich betreffen, – desto größer mein Misstrauen, dass der andere nur seinen eigenen Vorteil verfolgt" (Suhr 1975, 296).

Eine solche Mentalität "gebiert das Misstrauen, dass niemand anders als nur ich die Sachen richtig machen kann, die mich betreffen. Und sie gebiert es nicht nur, sondern ist die Erscheinungsform dieses bodenlosen Misstrauens in den Menschen, das immer von Neuem den misstrauischen Menschen produziert" (Ebd., 297).

Dieses Misstrauen fokussiert sich auf die Interessengegensätze in der Marktwirtschaft, ignoriert aber deren Doppelcharakter. Sicher schwächt die Marktwirtschaft Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht empfindlich. Selbst in ihr existiert jedoch nicht nur der Tauschwert, sondern auch der Gebrauchswert. Vorzufinden sind nicht nur der Antagonismus, sondern auch die Zusammenarbeit von Geschäftspartnern.

Auch Wirtschaft im Dienste des Profits muss Vorprodukte verarbeiten und Dienstleistungen nutzen können. Würden alle alle betrügen, funktionierte keine Kooperation, keine Lieferkette und keine Kundenbindung. Niemand könnte sich auf eine sachgerechte Qualität eines Gebrauchswerts oder einer Leistung verlassen.

Gewiss gibt es täuschende Gebrauchswertversprechen und eingebauten Verschleiß. Das pseudoradikale Misstrauen stilisiert die Gesellschaft aber als extremer und d.h. widerspruchsloser als sie ist. Wer sie als eindimensional auffasst, kann selbst ihr immanentes Funktionieren nicht begreifen.

Das verallgemeinerte Misstrauen und die pauschale Skepsis sehen zuerst aus wie eine Kritik an der starken Tendenz innerhalb der Marktwirtschaft zu asozialem Handeln, erweisen sich aber häufig als Einverständnis.

Misanthropismus und Zynismus erscheinen diesem Bewusstsein als Realismus. Ihm zufolge "konstituiert sich die Welt durch das tägliche 'Nein' aller Weltbürger, der Konsens aller ist der Dissens der Individuen, der Mitläufer hat sich totgelaufen, es gibt nur noch das Weltkönigreich des inneren Exils und der äußeren Partisanentätigkeit" (Beltz 1985, 56).

Bei einer Person, die von anderen erwartet, sie würden gnadenlos ihren Vorteil suchen und "über Leichen gehen", sinkt die Bereitschaft zur Kooperation. Vertrauen auf andere gilt dann pauschal als naiv. Und wer Verantwortung übernimmt für gemeinsame Anliegen, steht im Verdacht der Machtanmaßung.